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Kapitel 7
ОглавлениеNiemand antwortete. Beate hörte nur, dass am anderen Ende jemand atmete. „Hallo, wer ist dort, bitte? Sagen Sie doch etwas!“ Eine leise, schüchterne weibliche Stimme sagte: „Ich, ich rufe an wegen der Mädchen.“ Beate war plötzlich wie elektrisiert, saß aufrecht auf ihrem Stuhl und versuchte ruhig zu bleiben, um die Anruferin nicht zu verschrecken. „Kennen Sie die beiden vielleicht?“
„Ja, das waren Freundinnen von mir. Sie wurden gefangen gehalten wie ich. Ich bin vor ein paar Tagen abgehauen. Bestimmt sind sie hinter mir her, ich weiß einfach zu viel, ich habe Angst.“
„Wer ist hinter ihnen her?“
„Die Wächter!“
„Welche Wächter? Sagen Sie, können wir uns nicht treffen und Sie erzählen mir persönlich, worum es geht?“
„Aber wo? Es darf kein bekannter Ort sein. Die Wächter können überall sein.“
„Kommen Sie morgen um 11 Uhr zum Fehrbelliner Platz. Dort gehen Sie ein Stück in die Brandenburgische Straße. An der nächsten Ecke ist ein kleines Café mit Backshop: das Café Relax.“ Beates Blick schweifte durchs Zimmer: „Ich … ich werde einen pinkfarbenen Schirm dabei haben. Bis morgen!“ Der Hörer wurde aufgelegt. Sie ging aufgeregt durchs Zimmer. Das war also die Bestätigung! Die beiden Mädchen gehörten zusammen und sie waren beide Opfer einer Gefangenschaft, nur wessen, das hatte Beate nicht erfahren. Und einem Mädchen war offenbar die Flucht gelungen. Von wo sie wohl anrief?
Am nächsten Morgen griff Beate den hässlichen pinkfarbenen Schirm und ging die paar Schritte zu dem Café. Das Parkcafé wäre sicherlich größer gewesen und hätte mehr Rückzugsmöglichkeiten geboten, aber das wollte sie der ängstlichen Anruferin nicht zumuten. Beate setzte sich in den kleinen Gastraum und stellte den Schirm auffällig vor sich hin. Es war genau 11 Uhr, aber niemand war zu sehen. Sie trank einen Milchkaffee und aß ein Plunderstück. Die Zeit verging. Nach einer halben Stunde zahlte sie, stand auf und ging auf die Straße, blickte hinauf und hinunter, konnte aber niemand sehen. Die junge Frau mit schwarzem Mantel und einer Wollmütze, die gerade um die Ecke bog, als sie auf die Straße trat, hatte sie nicht mehr gesehen. Seufzend zuckte sie die Achseln und ging ins Präsidium zurück. Hatte die Anruferin doch zuviel Angst gehabt? Hoffentlich meldete sie sich wieder.
Am Nachmittag klingelte das Telefon. Beate nahm ab: „Lehndorf. Wer ist dort bitte?“ „Hallo, ich habe gestern schon angerufen...“ „Warum sind Sie nicht gekommen heute Morgen?“ „Ich war da, ich, ich wollte nur sehen, ob Sie alleine sind und nicht irgendwelche Greifer bei sich haben.“ Beate seufzte. „Gut, ich kann ja verstehen, dass Sie vorsichtig sind. Können wir es noch einmal versuchen? Schlagen Sie doch einen Treffpunkt vor.“
„Sagen wir heute um 18 Uhr, wenn Sie Zeit haben. Das Kiki Sol Café in der Lindower Straße 12. Das ist beim S- oder U-Bahnhof Wedding.“ Die junge Frau am anderen Ende lachte leise. „Ich werde eine Sonnenbrille aufhaben, obwohl es da drin ziemlich dunkel ist. Bis nachher?“ Beate sagte zu. Sie legte auf.
Beate rief auf ihrem Computer die Adresse auf. Bevor sie sich mit dem Auto während der rush hour nach Wedding quälte, suchte sie lieber eine Verbindung mit der BVG. So stieg sie um halb sechs in die U7, fuhr bis zum Bahnhof Jungfernheide und wechselte zur Ringbahn. Als sie das Café betrat, sah sie gleich die junge Frau mit Mütze und Sonnenbrille in einer Ecke. Sie hatte einen viel zu großen Mantel an und wirkte wie auf dem Sprung. Beate ging zu dem Tisch, setzte sich und sagte: „Hallo, ich bin Beate Lehndorf. Danke, dass wir uns treffen können. Möchten Sie noch etwas trinken?“ Die junge Frau schüttelte den Kopf, Beate bestellte sich einen Capuccino. Nach einer Weile, in der die Frau schwieg, bat Beate: „Darf ich Ihnen bitte in die Augen sehen?“ Circea nahm ihre Sonnenbrille ab. „Sie konnten also fliehen. Wissen Sie, wo Ihr Gefängnis war?“ Circea schüttelte den Kopf. „Nicht genau. Es war hier irgendwo im Norden, weil ich an der Ringbahn landete, als ich weggerannt bin. Ich glaube, es war der Bahnhof Landsberger Allee. Um das Anwesen gab es eine Mauer, über die ich rüber musste.“
„Und wo schlafen Sie seit ihrer Flucht?““
„Zuerst bei Berbern, also bei Obdachlosen in einem Tunnel. Dann hab ich Klärchen kennengelernt.“
„Klärchen?“
Circea lächelte. „Das ist ein Spitzname. Er heißt eigentlich Max und ist – na ja, ein Sprayer. Er wohnt hier in der Gegend.“
„Und sie kannten die beiden Mädchen, die wir gefunden haben?“
„Ja. Amira und Emilia. Gefangene wie ich. Ich wäre auch tot, wenn ich nicht abgehauen wäre.“
„Wer hat euch das angetan und warum?“
Wir gehörten zu einer Kirche, Sie würden wahrscheinlich sagen zu einer Sekte. Sie nennt sich „Das wahre Leben“. Es gibt klare Regeln für das Leben eines jeden. Wer dagegen verstößt, der ist in die Hände Satans gefallen und muss bestraft werden, je nach der Schwere des Vergehens.“
„Und was haben Sie getan?“
„Ich habe mit einem Jungen geschlafen, der nicht zur Kirche gehörte. Er wollte mich zum Austreten bewegen. Das haben sie nicht hingenommen.“ Circea nahm Beates Hände und sagte eindringlich: „Hören Sie, Sie müssen das Gefängnis finden! Ich weiß, dass noch andere außer mir eingesperrt sind und meistens nichts zu essen und fast nichts zu trinken bekommen! Und ich habe furchtbare Angst, dass mich die Wächter finden und zum Schweigen bringen. Ich weiß, dass „Das wahre Leben“ Mitglieder und Unterstützer in allen Bereichen hat - auch in der Polizei. Ich werde von denen gesucht und verfolgt wie ein Terrorist.“
Beate drückte ihre Hände und sagte: „Wir werden tun, was wir können, das verspreche ich ihnen. Wie heißen Sie eigentlich?“ Circea nannte ihren Namen. Beate lächelte. „Das kommt von einer Zauberin aus der Odyssee, nicht wahr? Ich bin Beate. Ist Ihre Unterkunft sicher?“
„Ja, ich glaube schon, aber ich muss halt oft raus und einkaufen. Das kann Klärchen nicht übernehmen.“
Beate überlegte einen Augenblick und meinte dann: „Circea, Sie können auch bei mir wohnen. Mein Sohn ist noch bis zum Sommer bei meinen Eltern in Dresden, Sie hätten also ein eigenes Zimmer. Wir müssen noch viel miteinander reden über die Sekte, damit wir das Gefängnis finden. Wenn Sie wollen, können Sie gleich mitkommen.“
Circea blickte sie prüfend an und sagte nach einer Weile: „Danke für das Angebot. Das ist wirklich freundlich. Aber ich muss noch mit Klärchen reden. Ich will nicht einfach verschwinden. Er hat mir schließlich geholfen.“
Beate nickte: „Das verstehe ich.“ Sie nahm einen Bierdeckel und schrieb ihre Privatadresse auf und ihre Handynummer. „Hier, wenn Sie so weit sind, rufen Sie mich an, auch, wenn Sie Hilfe brauchen. Sie können jederzeit anrufen, auch nachts. Und Sie können immer kommen, wenn ich zuhause bin. Das ist nicht weit vom S-Bahnhof Priesterweg. Machen Sie es gut und passen Sie auf sich auf.“ Beate und Circea standen auf, Beate nahm das schmale Mädchen spontan in den Arm, ging zum Tresen, zahlte und verließ das Lokal. Sie hatte kein gutes Gefühl, Circea alleine zu lassen. Wenn sie entdeckt würde, wäre ihr Leben in Gefahr und es gäbe keine Chance mehr, andere Gefangene zu retten. „Raff dich auf und komm bald zu mir!“, dachte Beate.