Читать книгу Der Gotteswagen - Harro Pischon - Страница 17
Kapitel 12
ОглавлениеStefan Wondraschek, im Team „Scheck“ genannt, saß am Abend vor dem Bildschirm und hatte ein Notizbuch daneben, um Stichpunkte aufzuschreiben. Vor dem Fenster wirbelte eine dichte Flockenwand, hinter der die anderen Häuser verschwanden. Andrea, seine Freundin, mit der er an Weihnachten nach einem halben Jahr zusammengezogen war, stand hinter ihm und sah ihm über die Schulter. „Was machst du da noch? Ich werde mich beschweren beim Beziehungsbeauftragten der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg für junge Liebespaare. Du vernachlässigst mich!“
„Das ist wichtig, Süße! Wir recherchieren alle über eine Sekte. Vermutlich gibt es einen Zusammenhang zu den tot aufgefundenen Mädchen.“
„Was gibt es Wichtigeres als mich? Hä? Dass du 'Süße' zu mir gesagt hast, ist der einzige Grund, weshalb ich nicht sofort meinen Koffer packe und diese Wohnung verlasse!“
Stefan drehte seinen Kopf zu ihr und gab ihr einen Kuss. Derart besänftigt fragte Andrea nach: „Was ist das? Und was ist deine Aufgabe?“
„Ich soll die Selbstaussagen der Sekte auswerten, Kira...“
„Oh, die blonde Kira mit ihren Kräusellocken! Liegst du ihr auch schon zu Füßen und flehst, erhört zu werden?“
„Unbedingt, aber sie steht mehr auf Wolfgang. Kira also soll recherchieren, was es im Netz an Fremdaussagen über „Das wahre Leben“ gibt. Morgen ist Lagebesprechung.“
„Und was macht meine Freundin Beate? Die arbeitet wieder, hast du erzählt? Bläst sie immer noch Trübsal, weil ihr Freund, dieser Seelenklempner, nach Amerika abgehauen ist?“
„Gut geht es ihr nicht. Ich glaube, sie trinkt zurzeit etwas zu viel. Die beiden Mädchen sind ihr erster Fall, seit sie wieder gesundgeschrieben ist. Aber sie hat eine Zeugin aufgetan, die aus so einem Privatgefängnis fliehen konnte. Da ist sie dran.“
„Und was hast du schon herausgefunden? Erzähl mal, was du den anderen morgen auch erzählen wirst!“ Stefan schaute auf seine Aufzeichnungen. „Die sind schon sehr raffiniert. Schon der Name impliziert ja, dass es neben einem „wahren Leben“, das sie zu kennen meinen, auch das falsche, unechte Leben gibt. Und in ihren Untermenüs wollen sie dir das erklären. Da gibt es zum Beispiel, aufgemerkt, Frau Schäfer, die wahre Liebe.“
Andrea spielte die Erstaunte: „Ach, schreiben sie da über mich? Woher wissen die, wie ich dich liebe?“
„Schweig, Weib! Du redest schon wieder Unsinn!“ Stefan grinste und schaute in sein Notizbuch: „In unserer gottentfernten, ja gottlosen Zeit gibt es nur Zerrformen der Liebe. Die Menschen denken, ihre haltlosen, schwankenden Gefühle erlösen sie von der Einsamkeit ihrer Seelen. Sie suchen verzweifelt das Glück in einem menschlichen Gegenüber. Allzuoft sind nach einem anfänglichen blinden Glücksgefühl Leid, Schmerz und Verletzung die Folge. Die schlimmsten Perversionen verseuchen das Leben und vergiften die menschliche Gemeinschaft. Nur die grenzenlose, unbedingte Liebe zu Gott, der uns alle erhält und leitet, ist die wahre Liebe. Nur wer in ihr lebt, kann auch seine Mitmenschen lieben.“ Stefan blickte auf: „So geht das bei jedem Thema weiter. Der „wahre Reichtum“ ist natürlich kein materieller Besitz, auch keine Begabungen oder Talente, sondern die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Gläubigen in der einzig gültigen „wahren Kirche“. Das ist eben „Das wahre Leben“, eine evangelische Kirche in der Tradition des Urchristentums, also ohne festgefügte Institutionen. Ich bin sicher, die nehmen ihren Mitgliedern so gut wie alles ab, was die besitzen. Ist ja kein „wahrer Reichtum“.
„Und was ist die „wahre Gesundheit“?, fragte Andrea und deutet auf das Menü. Stefan blätterte in seinem Notizbuch und zog sie auf seinen Schoß.
„Bist du sicher, dass ich das noch hören will?“, fragte sie und fing an, an seinem Ohrläppchen zu knabbern.
„Du hast mich etwas gefragt, und als wohl erzogener Mann gebe ich dir bereitwillig Auskunft. Das ist nämlich ziemlich raffiniert und gar nicht dumm von der Ausgangsbeobachtung. Die schreiben nämlich, die Menschen seien heutzutage völlig abhängig von den Ärzten und der Pharmaindustrie. Wegen jeder Kleinigkeit liefen sie zum Doktor und ließen sich etwas verschreiben. Die Ärzte haben für ernsthafte Beschwerden fast keine Zeit mehr und auch nicht für eingehende Gespräche mit ihren Patienten. Genau das habe ich neulich in dem Bericht des Chefarzts einer Klinik gehört. Und hier ist die Lösung natürlich, dass oft die Berührung eines Menschen genüge, der voll der göttlichen Liebe sei, um solche Irritationen zu beheben. Gewiss, Placebos helfen ja oft auch. Aber was passiert, wenn du vom Handauflegen nicht gesund wirst? Bist du dann nicht fest im Glauben? Bist du gar verstockt und alles fällt auf dich zurück? Ich denke, in solch einer Sekte hast du keine Chance, immer haben die anderen Recht, denn sie sind im Besitz der Wahrheit. Interessant ist auch noch deren Auffassung von Erziehung, denn aus der „wahren Erziehung“ geht hervor, dass körperliche Gewalt und Züchtigung durchaus legitime Methoden sind, um die Kinderlein auf den rechten Weg zu bringen. Aber im Vordergrund steht die absolute Kontrolle über dein Leben. Die haben Schulen, Wohngemeinschaften, Kliniken, Rehazentren, vor allem für Drogenabhängige, Beratungsstellen für Angehörige. Alles klingt im ersten Augenblick engagiert, hilfsbereit, konsequent.“
„Aber du trittst jetzt nicht ein in diesen Verein“, schmollte Andrea. „Komm jetzt lieber, ich will sehen, welche Wirkung mein Handauflegen bei dir hat.“