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Kapitel 10

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Beate hatte ohnehin vorgehabt, für Circea ein Prepaidhandy zu kaufen, also parkte sie auf dem Nachhauseweg im Parkhaus eines Shoppingcenters und ging zu einem Elektronikmarkt. Dazu besorgte sie Kosmetikartikel und Wäsche. In Tempelhof angekommen fand sie Circea bleich und bedrückt in einer Ecke ihres Zimmers auf dem Boden kauernd. Sie ließ alles auf den Boden gleiten, setzte sich neben sie: „He, Kleine, was ist los? Ist etwas passiert?“ Circea schüttelte den Kopf und schluchzte: „Ich hab solche Angst, dass sie mich finden, dass sie uns beide gesehen und mich verfolgt haben!“ Beate nahm sie in den Arm. „Du warst auch die ganze Zeit alleine hier, ohne etwas zu tun. Komm, wir kochen uns etwas: die drei R!“ Circea hob ihr tränennasses Gesicht und versuchte zu lächeln: „Rauchfleisch, Rosmarinkartoffeln und Rüben? Nein? Risotto, Rosskastanien und Reste?“

Beate lachte: „Rindfleisch, Rosenkohl und Reis!“ Circea meinte, es habe auch jemand angerufen und auf den Anrufbeantworter gesprochen. „So? Wer denn?“, fragte Beate. Sie habe den Namen nicht genau verstanden, sagte Circea, es klang französisch. Beate fühlte einen Stich und ging zum Telefon, um die Nachricht abzuhören. Er war es: René Beauchamps. „Hallo, Beate. Ich bin aus den USA zurück. Ich hoffe, du bist wieder hergestellt und wohlauf. Ich möchte dich gerne einladen. Am kommenden Samstag feiere ich mit ein paar Freunden meine Rückkehr nach Berlin. Ich würde mich freuen, wenn du auch kämst. Bis bald!“ Nein. Es war sofort da, dieses Nein. Sie brauchte nicht zu überlegen. Mit blasierten Psychiatern belanglose Gespräche zu führen und von René Geschichten aus Amerika zu hören, hatte sie keine Lust. Warum hatte der Schuft sich nicht mehr gemeldet? Sie glaubte weniger, dass er ihre Gefühle für ihn vergessen hatte. Eher hatte er in Baltimore eine Frau kennengelernt und deshalb nicht mehr an sie gedacht. Sollte er ruhig alleine diesen Erinnerungen nachhängen oder sie mit seinen Freunden durchhecheln. Die waren sicher interessiert an männlichen Abenteuern.

„Hallo, Beate?“ Circeas Stimme drang langsam zu Beate durch. „War das ein Lover von dir?“ Beate lachte bitter. „Ein Lover! Ein Freund, in den ich mich verliebt habe, der mir das Leben gerettet hat und dann nach Amerika verschwunden ist für drei Monate, ohne ein weiteres Wort.“

„Komm, wir kochen und dabei kannst du mir die Geschichte erzählen.“ Beate gab ihr noch das neue Handy, worüber sich Circea maßlos freute. „Richte es dir erst mal ein, ich fang schon an mit dem Essen. Hier ist schon mal meine Handy- und auch die Festnetznummer hier. Außerdem noch die Rufnummer im Präsidium. Wenn ich nicht erreichbar bin, kannst du auch meinen Kollegen versuchen zu erreichen.“ Sie schrieb ihr Schecks Handynummer auf einen Zettel. Circea saß am Küchentisch und tippte in ihr Handy, Beate setzte Reis auf und putzte den Rosenkohl. Dabei gab sie Circea eine Kurzfassung des Kleistfalls aus dem letzten Jahr.

Nach dem Essen wollte Beate ein paar Schritte gehen und Circea die Gegend zeigen, falls diese mal aus dem Haus gehen wollte, wenn sie arbeitete. „Jetzt ist es dunkel, und keiner achtet mehr auf uns. Wenn wir zurück sind, möchte ich gerne von dir etwas wissen.“ Sie liefen mit Kapuzen über dem Kopf an den verschneiten Autos vorbei zum Alboinplatz und Beate zeigte nur die Straße hinunter, an deren Ende sich eine Bauhaus-Filiale und ein Ikeamarkt befanden. „Da wirst du wohl eher nicht hingehen. Zu viel Betrieb und zu unübersichtlich. Bäcker und kleinere Geschäfte findest du eher auf der anderen Seite.“ Sie lief mit ihr zur Arnulfstraße und zeigte ihr, wo es zur S-Bahn ging. „Den Weg kennst du ja auch von zu Hause aus.“

Zurückgekehrt kochte Beate einen Tee für sie beide und goss sich einen tüchtigen Schluck Rum in ihren Becher. Das war erst der dritte Schluck an diesem Tag. „Erzähl“, fragte Beate, „wie bist du überhaupt in die Sekte gekommen?“

„Ich kann mich gar nicht an ein Leben außerhalb der Sekte erinnern. Ich habe nur schwache Bilder von meinen streitenden und schreienden Eltern. Ich denke, sie haben sich dem „Wahren Leben“ angeschlossen, um sich und ihre Beziehung zu retten, um ihre Krise zu überwinden. Da muss ich drei oder vier Jahre alt gewesen sein. Ich kenne nur das Leben in der Gruppe: ich war im Kindergarten, in einer Privatschule bis zur Mittleren Reife, in einer Wohngemeinschaft mit Jugendlichen. Nur in den ersten Jahren hatte ich noch mit meinen Eltern zu tun, später wurden wir von den Eltern getrennt und unter ständiger Aufsicht aufgezogen.“ Circea schüttelte den Kopf, als wollte sie etwas loswerden. „Mein Vater war ein aufbrausender Charakter, er konnte sich am Anfang noch einfügen. Sie mussten fast alles abgeben, was sie hatten, wer nicht sein Gehalt zur Verfügung stellte, galt als gottlos und selbstsüchtig. Er kritisierte zunehmend die autoritäre Führung, wurde ermahnt, bestraft, bis er eines Tages die Sekte und uns verließ. Wochenlang wurde er in Sitzungen, Gebeten und Seminaren als „Inkarnation Satans“ bezeichnet. Meine Mutter und ich gerieten unter den gleichen Verdacht, wurden streng beobachtet. Ich wurde noch öfter geschlagen als vorher schon und das war schon reichlich: Lachen war verboten, auch sich beim Lesen der Bibel zu verhaspeln, wenn man angebliche Fehler nicht einsah und Widerworte gab. Du lernst zwangsläufig es allen Recht zu machen, nicht aufzufallen, ständig wachsam zu sein, damit du nicht aneckst. Du lebst wie in einem Minenfeld: Jeder Schritt kann eine Explosion auslösen. Und du lernst, niemandem zu vertrauen. Meine Mutter hat diesen Zustand nicht ausgehalten. Sie hat sich eines Tages vor einen Zug geworfen. Ach Scheiße.“ Circea fing an zu weinen. Beate gab ihr ein Taschentuch. „ Auch das war der Einfluss des Teufels. Für mich kam es noch schlimmer. Ich stand jetzt unter der Erwartung, dass es mit mir auch böse endet. Trotz aller Einschränkungen war ich recht ansehnlich und viele Jungen und auch Männer sahen mich oft seltsam an. Sex war ja in der Gruppe geächtet. Gut, man musste auch Kinder zeugen, aber das galt offiziell als notwendiges Übel. Das erklärte Ziel war ja, ein Geistwesen zu werden, das die primitiven körperlichen Bedürfnisse überwindet und so eine neue Stufe des Menschseins erreicht – wie der Hirte, den wir alle verehrten. Aber ich glaube, und ich habe es auch erfahren, dass das eine heuchlerische Lüge ist. Viele von den Männern sind unglaublich geil und würden jede Gelegenheit nutzen, um gefahrlos und unerkannt zu ficken. Schweine!

Mein Weg endete, als ich auf der Lehrstelle, die ich außerhalb der Gruppe besuchte, und in der Berufsschule einen Jungen kennenlernte, der sich in mich verliebte – und ich mich in ihn. Was ich gelernt habe? Elektrotechnik. Das brauchten sie in der Gruppe und ich wurde einfach hingeschickt. Jetzt kann ich dir Leitungen verlegen und Geräte anschließen. Jedenfalls hat man uns beobachtet, wie wir uns küssten. Als ich eines Tages bei ihm übernachtete und nicht zurückkam, haben sich mich am nächsten Morgen bei Jens aus dem Bett geholt und mitgenommen. Zur Austreibung meiner teuflischen Lüste wurde ich in eins ihrer Gefängnisse geworfen, so lange, bis ich geflohen bin.“

„In eins? Gibt es denn mehrere?“, fragte Beate. „Ja, das macht es ja so schwierig. Ich glaube, ich wurde dreimal verlegt. In und außerhalb von Berlin. Die sind schon sehr vorsichtig.“

„Und was wird nun werden? Was willst du erreichen?“

„Vielleicht ist es zu viel erwartet. Aber ich möchte diesen verlogenen Kerlen, dieser menschenverachtenden Sekte am liebsten den Garaus machen. Sie sollen zur Rechenschaft gezogen werden und sie sollen vor allem nicht länger Kinder und Erwachsene quälen dürfen.“ Circea atmete schwer. „Aber ich habe es dir schon gesagt. Als erstes hoffe ich, dass ihr die Gefängnisse der Sekte aufspürt, um die Menschen, die dort in Lebensgefahr schweben, zu befreien, ihnen ihr Leben zurückzugeben. Ich hoffe, ich erlebe es, und sie schnappen mich nicht vorher.“

Beate drückte sie an sich. „Ich werde alles tun, damit du sicher bist, das verspreche ich dir. Danke für dein Vertrauen. Lass uns jetzt schlafen gehen.“

Beate klappte noch ihr Notebook auf, als sie alleine war und schrieb eine Mail an René:

Lieber René, danke für die Nachricht von deiner Rückkehr und für die Einladung. Ich werde nicht kommen. Ich bin an small talk wenig interessiert. Du siehst, ich arbeite wieder, zwar unter wenig angenehmen äußeren Bedingungen im LKA, aber ich bin wieder im Dienst. Solltest du mit mir persönlich sprechen wollen, lass es mich wissen. Viele Grüße Beate

Der Gotteswagen

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