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Kapitel 4
ОглавлениеDie Air-France-Maschine aus Paris hatte einen weiten Bogen geflogen und steuerte nun die Landebahn von Tegel an. René blickte auf die vorbeiziehenden Häuser von Pankow und dachte nach, wie es ihm mit der Rückkehr nach Berlin ging. Im September des Vorjahres hatte er ein Angebot der John-Hopkins-Universität in Baltimore erhalten, für drei Monate in einem Team über bipolare Störungen zu forschen, Vorträge zu halten und Aufsätze zu schreiben. Er hatte sofort zugesagt, um seinen Dämonen in Berlin den Rücken zu kehren, dem Unfall, den er nur mit Glück überlebt hatte und dem seine Frau zum Opfer gefallen war. Außerdem gab es da eine Hauptkommissarin beim LKA, mit der er einen Fall lösen konnte, der wieder fast das Leben der Kommissarin gekostet hätte. Offensichtlich hatte sie sich während ihrer Zusammenarbeit in ihn verliebt und betrachtete ihn als ihren Lebensretter. Dieser um ein Haar eingetretene abermalige Verlust versetzte René in große Unruhe. So hoffte er, Abstand zu finden und eine neue Haltung zu gewinnen.
Anfang Oktober kam er in Baltimore an. Die Universität hatte ihm ein kleines Haus in der Stadt angeboten, nicht weit von seinem Arbeitsplatz im John-Hopkins-Hospital. Es war ein schmales Häuschen über zwei Stockwerke, bunt gestrichen wie seine Nachbarhäuser und erinnerte ihn an die Onkel-Tom-Siedlung Bruno Tauts in Berlin. Es stand in der Federal Street. Es war voll eingerichtet und wurde immer wieder als Gästehaus der Universität benutzt. René fand es wohnlich, wenn auch eng und verwinkelt verglichen mit seiner Berliner Wohnung.
Erinnerungen und Bilder leuchteten in René auf:
Das Postkartenmotiv des altehrwürdigen Zentralgebäudes des John-Hopkins-Hospitals mit der Kuppel, längst umgeben von modernen Zweckbauten. In einem davon arbeitete das Team.
Das Team. Eine überraschend offene und respektvolle Atmosphäre, in der keine Meinung entwertet oder dominiert wurde. Die Amerikaner sind sehr überzeugt von der Bezeichnung der Krankheit als bipolare Störung. Aber sie sind auch versiert im strukturübergreifenden Verständnis der Psychose, sowohl der Symptomatik als auch der Therapie, im Zusammendenken von psychischen, sozialen und somatischen Faktoren. Immer wieder gibt es spektakuläre Fälle von Prominenten aus dem kreativen Bereich, zuletzt Catherine Zeta-Jones, die sich 2011 in eine Klinik begab.
Die absolute Freundlichkeit der Menschen im persönlichen Kontakt. René erinnerte es an die nicht immer glaubwürdige Liebenswürdigkeit der Wiener. Im ohnehin meist oberflächlichen Kontakt wirkte sie aber angenehm und beruhigend.
Die Chesapeake Bay, das Meer und doch eine tief eingeschnittene Bucht. Weite, Himmel und die gering besiedelte Halbinsel mit Fischerdörfern, Wäldern. Was für ein Kontrast zu Metropolen wie Baltimore oder dem benachbarten Washington.
Das unbekümmerte, helle Lachen von Sam, der blonden, lebhaften Journalistin, Samantha Mc Blair, seiner Nachbarin in der Federal Street. Er hörte es zum erstenmal, als er am Tag nach seiner Ankunft auf der Terrasse einen Kaffee trank. Die Morgensonne wärmte die nachtkühle Terrasse und die kleinen Gärtchen hinter den Häusern. Hätte sich nicht hinter den Gärtchen noch ein großer Parkplatz erstreckt, wäre der Eindruck fast wie in Berlin oder im Bremer Viertel gewesen. Im Nachbarsgärtchen grub und pflanzte schon eine junge Frau im Overall und Gummistiefeln, die üppigen blonden Haare mit einem Tuch festgebunden. Er sah ihr eine Weile zu und grüßte freundlich, als sie aufblickte. Sie winkte ihm zu und rief: „Ah, der neue Hopkinsgast! Seien Sie willkommen. Wie lange bleiben Sie?“ René sagte, er bleibe drei Monate. „Wunderbar“, meinte sie, „da können Sie Baltimore und seine Umgebung gut kennenlernen.“ René schaute auf seine Kaffeetasse und lud seine neue Nachbarin ein, bei ihm auf der Terrasse einen Kaffee zu trinken. Sie stimmte zu, wollte sich nur noch kurz die Hände waschen. Einige Minuten später klingelte es an der Tür und sie stand vor ihm, in Jeans und weißem Baumwollpullover, die lockigen Haare offen. „Hi, I'm Samantha.“ René stellte sich vor und führte sie auf die Terrasse, den Kaffee nahm er mit. Sie plauderten unbefangen, Samantha war Journalistin bei der Baltimore Times in der Feuilletonredaktion. Als sie erfuhr, dass René aus Berlin kam, war sie sehr neugierig zu erfahren, wie es war, in dieser Stadt, von der man auch in den USA immer wieder hörte, zu leben. Sie lud ihn ein, wenn ihm das Hospital Zeit lasse, einige interessante Neighbourhoods von Baltimore zu erkunden: Little Italy, Harbour East und Canton. Nichts war schwer und belastet wie in Berlin, er fühlte sich nicht mehr als Witwer, seine durch den Unfall eingeschränkte Beweglichkeit hatte er fast gänzlich wiedergewonnen. Da war nur diese heitere Frau, die ihn offensichtlich auch nicht unsympathisch fand. So begann es. In den folgenden Tagen, meist Abenden, durchstreiften sie das italienische Viertel, vertilgten Köstlichkeiten in den kleinen Osterien, tranken sizilianischen Rotwein, spazierten am Kai entlang und blickten auf die ausgedehnten Hafenanlagen. Zu Hause angekommen, standen sie noch kurz vor der Tür und Sam, „Nenn mich bitte Sam, Samantha ist so förmlich“, Sam also meinte, jetzt sollten sie auch noch die Zeit nutzen, bevor der Winter hereinbräche, die Umgebung kennenzulernen. Sie verabschiedeten sich mit einem Kuss. Am nächsten Wochenende stiegen sie in Sams Auto, einen Toyota Prius, und fuhren in die Chesapeake-Bay ans Meer. Das erste Ziel war die Chesapeake-Bay-Bridge, die sich mit zwei getrennten Fahrbahnen in einem kühnen Bogen über das Meer schwingt. Im Sandy Point State Park stellten sie das Auto ab, aßen in einem Restaurant am Strand und liefen den Sandstrand entlang. Es blies schon ein heftiger Herbstwind und René legte den Arm um Sam. Anschließend fuhren sie nach Annapolis, der Hauptstadt von Maryland und streiften durch die Gassen der Altstadt. Es war schon Abend, sie hatten am Hafen frische Meeresfrüchte gegessen, als Sam René ansah und meinte, sie habe keine große Lust mehr, nach Baltimore zurückzufahren. René sagte: „Dann suchen wir uns hier ein nettes Hotel und sehen morgen weiter. Wir haben ja beide frei.“ Sam tippte auf ihrem Smartphone eine Hotelsuche ein und sie landeten im Annapolis Merriott, das direkt am Wasser lag. Vor dem Hoteleingang hielt Sam René fest, sah ihm in die Augen und sagte: „Bestehst du auf Einzelzimmern – oder bleiben wir zusammen?“ René küsste sie lange und sagte: „Mehr brauche ich wohl nicht zu sagen.“ So schliefen sie das erste Mal miteinander, beim Aufwachen am nächsten Morgen gleich noch einmal, als beide ausgeruht waren. Mit Sam zu schlafen war genauso unkompliziert und heiter wie mit ihr wegzufahren. Sie hatte die Gabe, sich an einem anderen Menschen zu erfreuen, an seinem Körper, an seiner Sprache, seinem Humor. Sie genoss es auch unverhohlen, wenn René ihren Körper liebkoste. Und sie konnte ihn festhalten, wenn er nach einem Orgasmus in Tränen ausbrach, weil so viele Ringe um seine Brust gesprengt wurden. Sam konnte aus dem Gedächtnis den angepassten Schluss des Märchens zitieren: „Again, and yet once again there was the same sound, and the princess thought it must be the wheel breaking, but it was the breaking of the other bands from faithful René's heart, because it was now so relieved and happy.“
Sam interessierte sich auch für Renés Arbeit und fragte ihn auf den langen Autofahrten oder bei gemeinsamen Abenden in ihrem oder seinem Häuschen, womit er sich beschäftige. Er erzählte von der Arbeit im Psychiaterteam und auch von seinen geplanten Vorträgen über „bipolar disorders“. „Weißt du“, sagte er, „ich suche nach einer Verbindung zwischen dem Individuum und gesellschaftlichen Einflüssen. Es ist als Symptom einer manischen Episode bekannt, dass die Betroffenen ein unkontrollierter Kaufzwang beherrscht. Aber ist es nicht auch wichtig, was sie kaufen? Woher kommt das und was hat das mit ihnen, ihrem Leben zu tun? Ein junger Patient von mir kaufte zum Beispiel die teuersten und besten elektronischen Geräte, Fernseher, Smartphones. Dahinter steckt ein Ziel, das aber von der Industrie und der Werbung vorgegeben wird. In einem anderen Land, einer anderen Gesellschaft käme niemand auf die Idee, sich mit Handys zu verschulden, weil ihn niemand dafür bewunderte. Wenn solche 'Early Adopters' nicht bewundert oder gar beneidet würden, gäbe es sie wohl nicht.“
Der Winter zog ins Land. Sie besuchten noch Washington, die Nachbarstadt und fuhren immer wieder ans Meer, genossen die Weite. Doch die drei Monate waren im Dezember fast abgelaufen und immer wieder wurde René das Herz schwer, wenn er an Berlin dachte. Sie schliefen seltener zusammen, Sam respektierte seine gedrückte Stimmung, war aber nachdenklich. Zu Weihnachten kündigte Sam an, sie wolle zu ihren Eltern in eine kleine Stadt am Susquehanna River fahren, aber den Jahreswechsel könnten sie zusammen verbringen. René meinte, er habe sicher eine Weihnachtsfeier im Hospital zu überstehen und werde nicht vereinsamen.
Trotz der turbulenten Weihnachtsfeier im Hospital mit allen Kolleginnen und Kollegen, mit roten, fellbesetzten Mützen und Gelächter wurde Renés Stimmung nicht besser. Als er mit Sam eine Beziehung begann, hatte er aufgehört an Beate in Berlin zu schreiben. Es ging einfach nicht. Doch nun, als die Rückkehr näher kam, merkte er, dass er sich darum gedrückt hatte, dass er sie und ihre Gefühle nur beiseite geschoben hatte. „Und wenn du einfach da bleibst“, sagte eine innere Stimme, „deine Sachen und die Wohnung in Berlin hast du schnell verkauft. Was hält dich dort noch? Eine Stelle und eine Praxis findest du hier auch! Und Sam liebt dich.“ Aber René wusste, dass er es in den USA nicht lange aushalten würde. So schöne Flecken es hier auch gab, mit der amerikanischen Kultur und Lebensweise konnte er sich nicht anfreunden, schon gar nicht auf Dauer. Er würde immer die Sprache vermissen, die Auseinandersetzungen in seinem Fach und – vermisste er Beate, die gebeutelte, tapfere Kommissarin? Sie hatten es nicht geschafft, sich einmal zu lieben, immer war ihnen der Mörder aus dem Kleist-Fall dazwischen gekommen. Aber es war nichts geklärt, er würde wieder einen Abschied verkraften müssen, ohne sich auszusprechen, so wie damals den durch den Unfall erzwungenen Abschied von seiner Frau Anita. Er musste wieder nach Berlin zurück.
Auf diesem Hintergrund verlief die Silvesterfeier erwartungsgemäß verheerend. Nicht nur seine innere Stimme, auch Sam fragte ihn, ob er nicht in Baltimore bleiben wolle, bei ihr bleiben wolle. René erklärte ihr, warum er das nicht könne. „Erzähl mir von dieser Polizistin in Berlin“, forderte Sam. Er erzählte ihr die ganze Geschichte. Sam ging zum Fenster und schaute auf die verschneite Stadt. „Wie schön für dich. Es gibt also zwei Frauen, die dich lieben.“ Dann drehte sie sich um und schrie ihn an: „Und warum bin ich diejenige, der du wehtust? Warum ist es nicht deine deutsche Polizistin? Was bist du für ein Egoist! Wieso hast du es zugelassen, dass ich mich in dich verliebt habe? Wir hätten ein paar schöne Tage verbringen können, so what? Müsst ihr Männer immer verletzen?“
René stammelte: „Es war so schön und so – unbefangen mit dir! Ich habe einfach nicht mehr an Berlin gedacht.“
„Fuck beautiful, fuck ingenuous! Ich war also nur eine Urlaubsliebe und kann auf den nächsten Hopkinsgast warten!“ Damit fing Sam an, die Einrichtung ihres Häuschens systematisch zu zerstören, sie schmiss Porzellan an die Wand, fegte Bücher aus den Regalen. René ging auf sie zu und umarmte sie, hielt sie fest. Sie schluchzte auf, erwiderte die Umarmung, bis sie sich löste, ein Papiertaschentuch nahm und schneuzte. „Und jetzt lass mich bitte allein. Geh!“ René ließ die Arme sinken und ging hinüber zu seiner Wohnung. Er hatte Sam nicht mehr gesehen bis zu seinem Abflug.
Mit einem Ruck setzte die Maschine auf dem Flughafen Tegel auf. Wenig später hielt das Taxi vor seiner Haustür in Charlottenburg und René stieg die Treppen zu seiner Wohnung hinauf. Als er die Tür aufschloss, überwältigte ihn das Gefühl zu Hause zu sein. Es war alles vertraut, aber nicht mehr bedrückend. Er atmete tief ein und sagte: „Good luck for you, Sam, and many thanks for your love. I won't forget you.“