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Kapitel 9

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Zwei Reiter saßen bei Sonnenuntergang auf ihren Pferden am Ausgang des Dorfes und schauten in die Ferne. Links auf dem schwarzen Araber saß mit geradem Rücken Silva, Tochter des Eisenhändlers, die kräftigen, rötlich schimmernden Haare zu einem dicken Zopf hinter dem Kopf zusammengebunden, die Zügel ihres stolzen Pferdes in der Hand, den gepackten Rucksack auf dem Rücken, einige Trinkflaschen rechts und links an der Pferdedecke befestigt. Auf dem braunen Berber rechts daneben saß Akio, Sohn des Schmieds, die braunen Haare ebenfalls hinter dem Kopf zusammengebunden, ein ansehnliches Schwert an der linken Hüfte, einen langen Umhang über den Schultern, der oben den Rucksack auf dem Rücken und unten große Teile des feurigen Pferdes bedeckte. Auf seiner Schulter saß ein Dracolepidus, kurz: ein Leppid, ein niedlicher kleiner Verwandter genau jener gefürchteten großen Drachen, von denen es in grauer Vorzeit wohl jede Menge in Abadonien gegeben hatte. Inzwischen lebte nur noch einer: der rote Moloch. Aber dieser eine hielt auf schaurige Weise das ganze Land in seiner Gewalt. Nur wenige hatten ihn jemals zu Gesicht bekommen. Er hielt sich in einer Höhle im Tal des Tartaros auf und kam nur deshalb nicht heraus, weil er täglich dreimal eine Ration von etwa fünfzig Litern Blut geliefert bekam. Zuständig dafür waren die Blutpriester, die sich ihm in respektvollem Abstand näherten, die Blutration in einem eigens dafür gemauerten Opferbecken darbrachten und rasch die Höhle wieder verließen. Der Weg ins Tartaros-Tal war sehr weit und die Blutpriester mit den Blutrationen waren lange unterwegs. Darum wechselten sich die Priester ab. Jedes Dorf in Abadonien musste einen Blutpriester stellen. Jeder Priester war drei Tage lang für die Rationen des Moloch zuständig. In dieser Zeit übernachteten sie in der Priesterhütte unterhalb des Eingangs zur Höhle des Moloch. Wenn Amonos, der Priester aus Eisendorf, sich auf den Weg machte, hatte er auf seinem Pferdewagen mehrere Fässer mit insgesamt 450 Litern Blut geladen, das mit aufwändigen Methoden für den langen Weg und die grausamen Mahlzeiten haltbar gemacht worden war. Jedem Einwohner des Landes wurden viermal im Jahr vom dorfeigenen Priester mehrere Liter Blut abgenommen. Gesunden, kräftigen Menschen machte das wenig aus. Alte und kranke Menschen jedoch wurden durch die Blutentnahmen mehr und mehr geschwächt. Auch Akios Eltern wären noch schwächer, als sie es sowieso schon waren, würde Akio selbst nicht immer wieder eine höhere Ration von seinem eigenen Blut spenden, um die Eltern zu entlasten.

Die Geschichten der Vorfahren erzählten von ungeheuren Blutbädern, die der Moloch in den Dörfern angerichtet hatte, damals, als er noch gierig und gefräßig durch das Land streunte und alles fraß, was ihm in die Quere kam. Seit sich die Priester mit dem Dienst der Blutrationen abwechselten, ließ sich das Ungeheuer in seiner Höhle einigermaßen im Zaum halten. Zumindest hatte Akio Zeit seines Lebens noch nie davon gehört, dass der Moloch ausgebrochen wäre oder Unheil gestiftet hätte. Trotzdem lebte ganz Abadonien in der ständigen Angst, eines Tages könnte das Schlimmste doch wieder geschehen. Vor einigen hundert Jahren hatte ein alter Priester herausgefunden, dass das Blut, das dem Moloch vorgesetzt wurde, unterschiedliche Qualitäten aufwies. Es gab das normale Blut von normalen Menschen, von denen der Moloch pro Mahlzeit fünfzig Liter verschlang. Es gab aber auch Blut, in dem man eine größere Dichte, eine höhere Qualität – die Priester nannten es: einen höheren Goldgehalt – nachweisen konnte. Man konnte leicht sehen, dass Menschen mit goldenem Blut auch von ihrer Wesensart her aufrichtiger, vertrauensvoller und friedfertiger waren. Darum waren Goldblüter auch ohne Tests schnell zu erkennen. Warum allerdings manche Menschen bereits bei ihrer Geburt goldenes Blut in sich trugen und andere nicht, wusste keiner. Auf jeden Fall hatte der damalige Priester festgestellt: Blut in der goldeneren Form machte den Moloch länger satt. War der Blutration ein höherer Anteil von goldenem Blut beigemischt, war der Moloch auch schon mit vierzig oder gar dreißig Litern zufrieden. Seitdem war eine regelrechte Jagd auf Menschen mit goldenem Blut ausgebrochen. Nicht nur, dass den Goldblütern ihr komplettes Blut aus den Adern gesaugt wurde, um damit den Wert einer einzigen Blutration zu steigern. Hin und wieder hörte man davon, dass goldblütige Menschen im Ganzen dem Moloch als Fraß vorgeworfen wurden: als lebendig gefesselte Menschenopfer, dargebracht in dem steinernen Opferbecken, das dem Moloch als Tränke diente. Das kam aber zum Glück selten vor. Und es gab auch nur wenige Priester, die sich auf eine solche Grausamkeit einließen. Immerhin – nach dem Verspeisen eines ausgewachsenen Goldblüters war die Gier des Moloch für einen ganzen Tag, manchmal sogar für zwei oder drei Tage gestillt. Die Blutration eines ganzen Dorfes konnte damit eingespart werden.

»Welche Richtung?«, fragte Akio. Er hatte seine Hand über den Augen aufgestellt, um besser in die Ferne schauen zu können.

»Erst mal geradeaus«, gab Silva zur Antwort, ohne ihren Blick von der weiten, kahlen Steppe zu nehmen, die vor ihnen lag.

Plötzlich quiekte Pollum erschrocken auf, flitzte aufgeregt von Akios linker Schulter auf die rechte und wieder zurück und schaute dabei auf eines der letzten Häuser am Dorfrand. Akio schaute sich um und jetzt war es ihm, als hätte auch er eine Bewegung im Schatten eines der Häuser gesehen. Normalerweise hätte er nicht viel darauf gegeben. Pollum geriet schon mal in Aufregung, wenn er die Nähe eines anderen Leppids witterte, oder wenn er irgendwo eine besonders leckere Mahlzeit vermutete. Auch Leppids lebten hauptsächlich von Blut. Aber in wesentlich geringeren Maßen. Und immerhin gaben sie sich auch mit dem Blut von Insekten, Würmern oder anderen Kleintieren zufrieden. Trotzdem konnten sich herumstreunende Leppids nicht immer verkneifen, gerade blutgoldene Menschen hin und wieder zu beißen und dabei etwas von ihrem Blut zu saugen. Auch das war ein Grund, warum Akio seine Lederhaut trug. Sein eigener Leppid Pollum war gut dressiert. Der würde sich nie am Blut seines eigenen Herrchens betrinken. Dennoch. Normale Leppids krochen durch Abadonien wie lästiges Ungeziefer. In jedem Mauerloch konnte eines stecken und auf blutgoldene Beute warten.

Einem inneren Impuls folgend sprang Akio von seinem Pferd und schlich leise in die Richtung, in der er die Bewegung bemerkt hatte. Pollum quiekte aufgeregt. Mit einem leisen »Pssst« versuchte Akio, ihn zu beruhigen. Dann hörte er deutliches Quieken aus der Ecke hinter dem Haus. Also doch nur ein Leppid. Alles ganz harmlos. Akio warf einen kurzen Blick um die Ecke. Im nächsten Augenblick verspürte er einen Schlag mit einem Holzklotz gegen seine Stirn. Während Akio vor Schmerz aufschrie und einige Schritte zurücktorkelte, hörte er, wie jemand mit kleinen, aber aufgeregten Schritten davonlief. Pollum quiekte zum Angriff und rannte der Gestalt hinterher. Akio konnte noch nicht wieder sehen. Er hielt sich seine schmerzende Stirn, kniff seine Augen zu und sah nur kleine Sternchen vor sich. Dann hörte er wieder einen Schlag, gleichzeitig ein heiseres Aufschreien, danach ein Fluchen.

»Akio, komm schnell!« Das war Silva. Als er jetzt seine Augen öffnete, sah er sie in einiger Entfernung vor einer in schwarzen Stoff gehüllten Gestalt stehen, die auf allen vieren auf dem Boden kniete und sich stöhnend den Kopf hielt. Silva hielt einen kräftigen Ast in der Hand. Ihr war es gelungen, den Flüchtigen mit einem ordentlichen Schlag zu stoppen.

Akio lief zu ihr und erkannte in der Gestalt auf dem Boden den Bettler, der schon seit einigen Tagen auf dem Marktplatz gesessen und mit weinerlichem Gesang die Dorfbewohner um ein paar Münzen gebeten hatte. Weil er sich nie vom Platz bewegt hatte, dachte Akio, er sei gelähmt, blind oder sonst irgendwie körperlich krank. Aber so gezielt, wie er Akio gerade einen Schlag gegen den Kopf verpasst hatte und wie er danach wegrannte, konnte von einer Krankheit nicht die Rede sein.

Pollum quiekte, hüpfte dem Bettler auf den Umhang und schien nach etwas Bestimmtem innerhalb seines Mantels zu suchen. Da hörte Akio auch schon das typische Leppid-Quieken aus dem Inneren der schwarzen Stoffumhüllung. Akio zog den Bettler am Arm nach oben, schob den Umhang zur Seite und fand einen kleinen Holzkäfig am Gürtel befestigt. In dem Käfig drehte sich ein kleiner Leppid mit golden schimmernden Schuppen ängstlich im Kreis, so als wollte er davonlaufen, hatte aber nicht mehr Platz und drehte sich deshalb wirbelnd im Kreis. Neben dem Leppidkäfig baumelte ein Lederbeutel. Ohne um Erlaubnis zu fragen, zog Akio den Beutel ab und öffnete ihn. Winzige Fläschchen und Röhrchen aus Glas, kleine Messer, Spitzen, Haken und Scheren aus Metall, dazu eine Dose mit dem Staub der Enuntia-Blüte machten Akio mit einem Schlag klar, dass es sich bei diesem Mann keineswegs um einen Bettler handelte. Das war ein Blutspäher, ein ausgebildeter Spion, der Menschen Blut entnahm und es auf seinen Goldgehalt testete. Mit den Spitzen stach er den Testpersonen heimlich in die Haut und entnahm ihnen unbemerkt einige Tropfen Blut. Dieses Blut wurde dem Goldleppid in dem Käfig zu trinken gegeben. Je nachdem, wie sich dessen Schuppen daraufhin verfärbten, konnte der Späher daraus den Goldgehalt des Blutes ermitteln. Blutpriester aus der Vergangenheit hatten diese Methode entdeckt. Bluträuber und deren Späher bedienten sich seitdem dieser Praxis, waren im Volk dafür aber aufs Tiefste verachtet.

Akio packte den Bettler am Kragen seines Umhangs und zog ihn nah an sein Gesicht heran: »Du Schuft! Du hast meine Schwester auf dem Gewissen! Und ihren Bruder!« Er zeigte mit seiner freien Hand auf Silva. »Du wirst uns jetzt sofort sagen, wohin sie die beiden gebracht haben!«

Die nackte Angst stand dem alten Mann mit den dünnen weißen Haaren und den trübe wirkenden Augen ins Gesicht geschrieben: »Ich weiß gar nichts! Ehrenwort! Ich weiß gar nichts!«

»Ehrenwort?« Akio schüttelte den Mann. »Was willst du von einem Ehrenwort wissen? Sag uns sofort, wohin man Agnus und Adelia gebracht hat!«

»Ich weiß nichts, ich bin unschuldig!«, winselte der Alte.

»Deine Augen lügen, das sehe ich!«

Der Alte schaute hektisch zwischen Akios Augen hin und her. Dann formten sich seine Lippen plötzlich zu einem kleinen, hoffnungsvollen Grinsen: »Du bist der dritte Goldblüter!«

Akio schüttelte den Alten noch einmal und kam ihm mit seinem Gesicht so nahe, dass er den Gestank aus seinem Mund riechen konnte: »Ja, das bin ich. Und glaub mir, ich bin bereit, alles Mögliche zu tun, um meine Schwester zu befreien. Und du wirst mich zu ihr bringen!«

Der Alte zitterte, aber er grinste nun noch breiter, wobei seine halb verfaulten Zähne sichtbar wurden. Die spitzen Eckzähne sahen noch erstaunlich gesund aus. Ob er sich auch hin und wieder am Blut von Tieren oder gar Menschen bediente? »Ich … ich kann dich zu ihnen bringen! Ich weiß, wo sie sind!«

»Und wo?«

»In Gomorra.«

»Gomorra?« Akio bekam allein bei der Erwähnung dieses Namens eine Gänsehaut. »In der größten und schrecklichsten Stadt Abadoniens?«

»Ja.«

Akio schaute zu Silva hinüber, die bisher stumm das Gespräch und Akios tätlichen Angriff auf den Bettler beobachtet hatte. »Ich weiß, wo das ist«, sagte sie mit finsterem Gesicht.

»Die Stadt ist groß«, sagte der Alte mit zittriger, aber hoffnungsvoller Stimme. »Ihr würdet dort allein nicht zurechtkommen. Ihr würdet das Quartier meiner Herren niemals finden.«

»Und du würdest es uns zeigen?«, fragte Akio streng.

»Ja!«

Der freundliche, vertrauensvolle Ton, mit dem der Alte geantwortet hatte, verwunderte Akio. Und die plötzliche Hilfsbereitschaft ebenfalls. Aber eine andere Chance sah er nicht. Wieder schaute er kurz zu Silva. Die zuckte merkwürdig mit einer ihrer Augenbrauen. Das deutete er mal als Zustimmung.

»Gut, dann los.« Akio ließ den Mantel des Bettlers los und der Alte torkelte ein paar Schritte nach hinten, bis er sich wieder gefangen hatte. »Aber nicht abhauen«, fügte Akio noch hinzu. »Und keine Tricks.«

»Nein. Keine Tricks.« Es sah fast aus wie eine Verbeugung, als der Alte mit unheimlichem Grinsen seinen Kopf nach vorne beugte.

Pollum quiekte noch einmal laut auf und sprang gezielt an die Hüfte des Spähers und von dort an die Gitterstäbe des kleinen Käfigs. Wütend fauchte er in den Käfig hinein, als wollte er Feuer speien. Der Goldleppid im Inneren fauchte zurück, hielt sich aber an den Gitterstäben an der gegenüberliegenden Seite des Käfigs fest.

»Pollum, komm hierher!«, befahl Akio und klopfte auf seinen Arm. Pollum gehorchte, sprang auf Akios Schultern und schimpfte von dort aus noch etwas Unverständliches, Freches dem Goldleppid zu, der seinerseits erleichtert darüber zu sein schien, dass er wieder seine Ruhe hatte.

Gefangen in Abadonien

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