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Kapitel 10

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»Hanna, wo bist du?«

Alex schaute in jeden Busch rund um den Spielplatz, lief in jede angrenzende Seitenstraße hinein und wieder zurück. Keine Hanna.

Er rannte zurück bis zum Logopäden, rief unterwegs laut nach seiner Schwester, befragte jeden Passanten, der ihm begegnete, ob er ein sechsjähriges Mädchen mit einem blauen Anorak und einer rosa Wollmütze gesehen hätte. Nein, niemand.

Alex stürmte sogar in die Praxis des Logopäden und fragte, ob Hanna vielleicht zurückgekommen sei. Die Sprechstundenhilfe bekam ein sorgenvolles Gesicht: »Sollen wir die Polizei anrufen?«

»Nein, nein. Ich find sie bestimmt noch. Falls nicht, ruf ich nachher selbst die Polizei.«

»Ruf uns bitte an, wenn Hanna aufgetaucht ist, ja?« Die Frau schien sich echt Sorgen zu machen. Nahm die jedes ihrer Patientenkinder so ernst?

»Ja, ist gut. Danke, tschüss!«

Wieder zurück zum Spielplatz: »Hanna!« Und noch mal aus Leibeskräften: »Haaannaaaa!!«

Er versuchte so angestrengt wie möglich zu lauschen, ob zwischen all dem Lärm aus Autos und Menschen etwas wie ein Rufen, Weinen oder einfach ein Hanna-Wiedererkennungs-Geräusch zu hören war. Nichts.

Langsam stieg Panik in ihm auf. Was sollte er seiner Mutter sagen, wenn er Hanna nicht wiederfinden würde?

Er lief in Richtung Zuhause. Vielleicht war sie schon alleine nach Hause gegangen. Eigentlich war das unmöglich, denn sie kannte den Weg nicht. Als er einige Straßen weit gelaufen war, blieb er stehen. So weit könnte Hanna niemals ohne ihn in der letzten Zeit gekommen sein. Wer könnte ihm jetzt noch helfen? In einer leeren Seitenstraße brüllte er laut heraus: »Hey, du Schicksal! Du Zufalls-Herbeiführer! Hast du bitte noch mal ein Zeichen für mich? Wo ist Hanna? Wo soll ich nach ihr suchen? Hä?«

Er schaute sich hektisch in alle Richtungen um. Natürlich hing da kein Plakat mehr. Kein Kalender. Kein Mann mit Handy, der ihm so was wie »Mach dir keine Sorgen, sie sitzt gemütlich zu Hause vor dem Fernseher« zurief. War ja klar.

Alex rannte zurück zum Spielplatz. Dann sah er sich erneut um. In welcher der Seitenstraßen hatte er noch nicht nachgeschaut? Hm. In alle war er schon zwei- bis dreimal rein- und wieder rausgelaufen. Aber in der einen hatte er noch nicht alle Querstraßen abgeklappert. Also versuchte er es dort noch einmal. Als er in die zweite Seitenstraße hineinschaute, sah er Elena dort entlanggehen, die mit ihm im selben Haus wohnte, nur zwei Stockwerke unter ihm. Sie war genauso alt wie er, ging aber auf eine andere Schule. Als Kinder waren sie manchmal vor dem Haus ein bisschen zusammen Fahrrad oder Inliner gefahren. Aber seit sie auf den weiterführenden Schulen waren und Elena immer weiblichere Züge annahm, hatten sie kaum mehr miteinander gesprochen. Manchmal war es ihm sogar peinlich, wenn sie sich im Hausflur trafen und aneinander vorbeigehen mussten. Elena wirkte schon so reif und erwachsen. Sie roch nach Parfüm, trug Kleidung wie eine Studentin und wirkte mit ihren blonden, zu einem Pferdeschwanz locker zusammengebundenen Haaren bereits wie Anfang zwanzig. Alex dagegen, der sich nachmittags mit seiner Schwester Hanna beschäftigte, mit ihr im Wohnzimmer Bauklötze spielte oder ihr Geschichten erzählte, kam sich dabei wie ein kleiner Schuljunge vor. Als wäre er irgendwo in der Kindheit stecken geblieben, während Elena jedes Jahr um zwei Jahre älter geworden war. Hatten sie sich früher als zwei Achtjährige getroffen, so begegneten sich jetzt, mit fünfzehn, ein Zehnjähriger und eine Zwanzigjährige.

»Hast du Hanna gesehen?«, rief er ihr zu, sobald er sie erkannte.

»Hanna?«, rief sie zurück. »Ja, sie war vorhin hier!«

Eine Spur! Ein Hinweis! Alex’ Herz machte Freudensprünge. Schnell ging er auf Elena zu. »Wo genau?«

»Da hinten, am Ende der Straße hab ich sie getroffen. Ich hab mich noch gewundert, sie ganz ohne euch zu treffen, und hab sie gefragt: ›Bist du ganz allein?‹, da hat sie gesagt, sie sei mit dir unterwegs. Na ja, und da hab ich gedacht, du bist hier auch irgendwo.«

»Wo ist sie hingegangen?«

Elena rieb sich mit einer Hand die Stirn. »Puh. Wohin?« Sie schaute in die Richtung, aus der sie selbst gerade gekommen war. »Ich glaub, da hinten an den Häusern vorbei Richtung Waldrand.« Sie sah Alex sorgenvoll an. »Schlecht, oder?«

»Könnte schlechter sein«, japste Alex und setzte sich sofort in die angegebene Richtung in Bewegung. »Immerhin schon mal ein Hinweis! Danke!«

»Soll ich dir beim Suchen helfen?«, rief sie ihm noch hinterher.

»Nein, alles gut!« Alex rannte bis zum Ende der Straße. Eine Sackgasse. Zwischen zwei Häusern gab es einen schmalen Fußweg, der hinter den Häusern über eine Wiese in Richtung Wald führte. Allerdings war das, was man Wald nennen konnte, noch ziemlich weit weg. Es gab da etwas Geröll, teilweise steile Hänge, viel Wiese, immer wieder Bäume, kleine Schrebergärtchen. Aber ein wirklicher Wald war zu weit weg. So weit würde Hanna niemals kommen.

Alex rannte los. An den Häusern vorbei, immer auf dem angezeigten Weg entlang. Dann endlich – in einiger Entfernung hockte Hanna am Wegesrand und streckte ihre Hand ins Gras, als würde sie dort etwas suchen. »Hanna!«, brüllte er aus Leibeskräften und rannte schneller. Kurz bevor er sie einholte, sah er, wie vom Wegrand aufgeregt ein Eichhörnchen davonhüpfte.

»Da, Alex!« Hanna zeigte auf das kleine Tierchen, das mit gezielten Sprüngen auf einem der nächsten Bäume landete und dort flink nach oben kletterte. Sie wunderte sich kein bisschen darüber, warum Alex so rannte oder aufgeregt war. »Lieb!«, beschrieb sie das beobachtete Tierchen. Sie strahlte Alex an, als wäre er gerade mal eben für eine Minute weg gewesen.

»Hanna, du solltest doch nicht weglaufen!« Er wollte nicht schimpfen, aber vor lauter Aufregung war seine Stimme doch viel zu laut geworden.

Hanna schaute ihn erschrocken an. »Hanna nicht weglaufen«, sagte sie etwas eingeschüchtert. »Der da weglaufen!« Sie zeigte auf das Eichhörnchen. »Hanna Alex zeigen! Mitnehmen! Zu Hause! Spielen!«

Alex stöhnte leicht auf. »Nein, Hanna. Wir können kein Eichhörnchen mit nach Hause nehmen. Du siehst doch: Das läuft immer weg.«

»Nein. Nicht weglaufen. Küsschen geben.«

Was? Wer wollte hier wem Küsschen geben? Hanna dem Eichhörnchen? Oder war das Eichhörnchen vor der kleinen Hanna so handzahm geworden, dass es ihr schon Küsschen gegeben hatte? Wie hieß noch gleich dieser Heilige, der sein Leben mit Tieren verbracht hatte? Franz von Assisi? Diesem Kerl stand Hanna in nichts nach. Wie auch immer. Jetzt war Hanna zumindest gefunden und jetzt wollte Alex kein Risiko mehr eingehen.

»Komm, Hanna, wir gehen nach Hause.« Er nahm ihre Hand.

»Ja.« Bereitwillig machte sie sich mit ihm auf den Weg.

»Alex Geschichte erzählen«, bat sie, kaum dass sie ein paar Schritte gegangen waren.

»Jetzt gehen wir erst mal nach Hause.« Nach dieser Aufregung war Alex nicht in der Stimmung, Geschichten zu erzählen.

»Geheime Geschichte vorlesen«, sagte Hanna und legte gleich den Zeigefinger ihrer freien Hand an den Mund. »Pssst, geheim!«

Alex grinste. »Das hast du dir behalten, was?«

»Ja«, antwortete sie stolz.

Alex griff in seine Jackentasche nach dem Notizbuch. O Schreck. Es war weg. Sofort ließ er Hanna los und griff in die andere Tasche. Leer. Nein. Das durfte nicht wahr sein. Schon wieder stieg sein Adrenalinspiegel in die Höhe. Hosentaschen, Jackeninnentaschen, nichts.

»Mein Notizbuch ist weg!«, schrie er laut auf.

Hanna erschrak. »Notizbuch?«

»Mein geheimes Geschichtenbuch! Es ist weg!«

»Wo denn?«

»Das weiß ich ja nicht! Es ist weg!«

Was hatte auf dem Kalender gestanden: »Du wirst einen unvergesslichen Tag erleben!« Na, sehr schön! Das war wirklich ein unvergesslicher Tag! Aber nicht, weil etwas so unvergesslich Schönes passierte, sondern weil er von einem Schrecken in den nächsten gejagt wurde. War es das, was das unbekannte Schicksal von ihm wollte? Ganz toll! Wirklich ganz toll!

Gefangen in Abadonien

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