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Kapitel 5

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»Was machst du denn hier?«

Das Mädchen mit den dicken, lockigen roten Haaren warf Akio einen scharfen Blick zu, während sie zwei Häuser entfernt ihrem Pferd eine Decke über den Rücken legte und einige Gepäckstücke daran befestigte. Ihr Name war Silva.

»Was soll die Frage?« Akio blieb auf der Straße in der Nähe seiner Haustüre stehen. »Ich wohne hier.«

»Wieso haben sie dich nicht mitgenommen?« Wut und Verachtung lagen in ihrer Stimme. Sie ging um ihr Pferd herum und legte ihm mit schnellen Griffen das Zaumzeug an.

Silva war die Schwester von Agnus, dem dritten Goldblüter im Dorf neben Akio und Adelia. Während Agnus wie Adelia liebevoll und freundlich war, war Silva grob und kaltschnäuzig. Sie war genauso alt wie Akio: fünfzehn. In ihrer Kindheit hatte Akio sie oft auf der Straße mit Jungen Fußball spielen und manchmal sogar im Dreck raufen sehen, während Akio eher von ferne zugesehen und dabei über die Welt nachgedacht hatte. Silva schimpfte und fluchte ohne Hemmungen. Einmal hatte Akio sie mit einem toten Hasen ins Dorf kommen sehen, den sie mit Pfeil und Bogen selbst erlegt hatte. Meistens versuchte Akio, ihr aus dem Weg zu gehen.

»Ich habe mich versteckt«, antwortete er ihr. Pollum schaute mit seinem Kopf kurz aus dem Hemdkragen heraus, als wollte er nachschauen, mit wem sich sein Herrchen unterhielt.

»Glückwunsch!«, keifte sie zurück. Mit flinken und sicheren Bewegungen zog sie die Riemen rund um den Kopf des Pferdes zu. Ein Rucksack lag fest verschnürt auf der Straße.

Akio ging ein paar Schritte auf sie zu: »Du verreist?«

»Verreisen kann man das wohl kaum nennen!« Sie griff nach dem Rucksack und warf ihn sich auf den Rücken. »Ich hol mir meinen Bruder zurück!«

»Agnus!«, entfuhr es Akio erschrocken. Also doch – auch er war mitgenommen worden! Die Blutspäher hatten ganze Arbeit geleistet.

»Natürlich Agnus!«, raunzte Silva. »Ich hab nur einen Bruder.« Dann hielt sie in ihren Bewegungen inne, deutete mit dem Kinn auf Akios Haus und fügte hinzu: »Deine Schwester haben sie doch auch mitgenommen!«

»Ja.« Akio nickte.

»Und du? Willst du sie ihnen überlassen?«

»Nein! Natürlich nicht!«

»Warum zum Henker sitzt du dann nicht längst auf deinem Pferd und reitest ihnen hinterher?«

Tja, warum? Weil seine Eltern meinten, er würde das nicht schaffen? Weil er selbst es sich nicht zutraute? Weil er Angst um sein eigenes Leben hatte? Weil er wusste, dass Räuber wie diese auch nach seinem Blut lechzten?

»Schon klar«, gab sich Silva selbst die Antwort. »Du sitzt ja lieber in der Sonne und schreibst Gedichte. So jemand stürzt sich nicht in einen Kampf mit Räubern. Richtig?«

»Ich bin selbst ein Goldblüter«, erwiderte Akio. Doch in diesem Augenblick klang das nicht wie eine gute Ausrede. Trotzdem redete er weiter: »Sie suchen nach Leuten wie mir. Wenn ich ihnen hinterherreite, dann reite ich in den Tod.«

»Ich will dir mal was sagen, mein zarter Goldblut-Popo.« Silva kam ein paar Schritte auf Akio zu. »Selbst wenn mein Blut das goldenste Gold der Welt wäre, würde ich keine verdreckte Sekunde zögern, um meinen Bruder aus den Händen dieser Vollidioten zu befreien! Und wenn ich dabei mein Leben verlieren würde, dann würde ich selbst im Angesicht des Todes noch denken: Ich hab es für meinen Bruder getan! Und dann, zum Henker, würde ich voll Stolz und erhobenen Hauptes sterben!« Sie zog einmal fest und geräuschvoll den Rotz aus ihrem Hals nach oben. »Und es wäre eine Schande für mich und meine Familie, wenn ich mit einem Blatt Papier auf dem Schoß vor meiner Haustüre sitzen würde, süße Geschichten schriebe und dabei genau wüsste, dass irgendwo anders mein Bruder – mein eigenes Fleisch und Blut – einem gierigen Drachen zum Fraß vorgeworfen würde! Das kannst du mir glauben, verdreckt und zugenäht!« Damit spuckte sie den Rotz, den sie gerade hochgezogen hatte, mit einem festen Schuss Akio direkt vor die Füße, drehte sich um und ging auf ihr Reittier zu. Im nächsten Augenblick sprang Pollum aus Akios Hosenbein heraus und beschnupperte neugierig, was Silva dort hingespuckt hatte.

Akio wusste genau, warum er die Nähe von Silva mied. Ihre kalte, forsche und viel zu laute Art verunsicherte ihn und gab ihm das Gefühl, klein und unfähig zu sein. Aber wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass sie – wenn auch in unangemessenem Ton – recht hatte. Seine über alles geliebte Schwester war weg. Adelia erschien ihm mit ihrer unschuldigen und liebevollen Art fast schon wie eine Heilige. Und nun stand er hier auf der Straße und war zu feige, sich auf den Weg zu machen, um sie zu retten. Gleichzeitig machte sich die ungehobelte Nachbarin ohne zu zögern auf den Weg, um den Menschen zu retten, den sie liebte. Wer von ihnen beiden hatte nun das goldenere Blut?

»Ich komme mit!«, entfuhr es ihm plötzlich.

Silva blieb stehen und drehte sich zu ihm um. »Was willst du?«

»Ich komme mit!« Akio wunderte sich über seinen Mut, aber der feste Entschluss, der soeben in ihm gereift war, fühlte sich gut an.

Silva grinste verächtlich. »Weißt du überhaupt, wie man reitet?«

»Natürlich weiß ich das.« Diese überhebliche Frage ärgerte ihn. Aber er beschloss, sich davon nicht runterziehen zu lassen. Stattdessen sagte er: »Ich wette, ich bin auf meinem Berber schneller als du auf deinem Araber.«

Jetzt grinste Silva wie jemand, den man zu einem Duell herausgefordert hatte. »Das will ich sehen.«

Mit diesem Grinsen konnte Akio besser leben. Sofort musste auch er grinsen. »Ich pack nur schnell meine Sachen. Warte noch fünf Minuten!«

Gefangen in Abadonien

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