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Kapitel 14

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Auf dem Weg zum Spielplatz kam Alex wieder an Elena vorbei. Sie stand an der Bushaltestelle und telefonierte. »Hanna immer noch nicht gefunden?«, rief sie ihm nach, als er hektisch an ihr vorbeirannte.

»Doch, doch. Alles gut.« Plötzlich bekam er einen Einfall. Er blieb stehen und kam zu Elena zurück. »Kannst du mir trotzdem einen Gefallen tun?«

»Ja, gerne. Was denn?«

»Ich war mit Hanna schon auf dem Weg nach Hause, allerdings sind wir den Wiesenweg hinter den Häusern entlanggegangen. Weißt du, da, wo du Hanna vorhin zuletzt gesehen hast. Da ist mir eingefallen, dass ich was auf dem Spielplatz vergessen hab. Hanna war aber zu müde, um mitzukommen. Ich hab sie jetzt allein auf der Wiese sitzen lassen. Wenn du eben zu Hanna auf die Wiese gehen könntest und bei ihr bleibst, bis ich meine Sachen gefunden habe, dann wäre ich wirklich beruhigt. Verstehst du?«

Elena drückte das Gespräch am Handy aus, ohne sich von jemandem zu verabschieden. »Ja, klar. Kann ich machen. Ist kein Problem.«

»Danke. Vielen Dank.«

Elena versicherte sich noch mal kurz, ob sie den Weg richtig verstanden hatte, dann ging sie in die eine Richtung los und Alex rannte weiter in die andere Richtung zum Spielplatz. Als er dort ankam, lag sein Notizbuch natürlich nicht auf der Bank. Das war ja klar. Das war ja so was von klar! Alex suchte rund um die Bank herum, dann im Mülleimer neben der Bank, auf dem kompletten Spielplatz und überall dort, wo er vorhin nach Hanna gesucht hatte. Nichts zu finden. Das durfte doch nicht wahr sein. Sollte er jetzt etwa alle Straßen und Nebenstraßen noch einmal abklappern, die er vorhin entlanggerannt war?

Systematisch fing er bei der ersten Straße an, schaute in alle Seitenstraßen hinein, immer den Blick auf den Boden geheftet. Irgendwo musste doch etwas herumliegen. Sollte denn jemand sein Notizbuch gestohlen haben? Wer sollte sich für so eine Ansammlung von Zetteln interessieren? Je länger er suchte, desto schlechter fühlte er sich Hanna und Elena gegenüber, die ja nun doch schon eine ganze Weile auf ihn warteten. Nur gut, dass ihm das mit Elena noch eingefallen war. Dass sie ihm zufällig begegnet war. Zufällig? Was war hier überhaupt noch alles Zufall? Und was war eher so eine Art schicksalhafte Vorhersehung? Nein, darüber würde er jetzt nicht länger nachdenken.

In einer der Straßen, die an einer breiten Wasserrinne, so einer Art Kanal, entlanglief, sah er Marcel aus seiner Klasse mit einem Kumpel die Straße entlangschlendern. Vielleicht hatten die ja was gesehen. Während er sich ihnen näherte, hörte er, wie die beiden über etwas sehr Lustiges lachten und laute Kommentare abgaben. Als er sie fast eingeholt hatte, hörte er, wie Marcel mit theatralischer Stimme etwas vorlas: »Diese überhebliche Frage ärgerte ihn. Aber er beschloss, sich davon nicht runterziehen zu lassen.«

Die beiden Jungen lachten, als hätten sie sich einen dreckigen Witz vorgelesen. »Oder hör mal hier«, Marcel las wieder übertrieben künstlich etwas vor: »Die kräftigen, rötlich schimmernden Haare waren zu einem dicken Zopf hinter dem Kopf zusammengebunden.«

Wieder ein Gelächter wie bei einer Ansammlung von Betrunkenen. Alex musste nicht lange überlegen. Die beiden lasen Teile aus seinem Notizbuch vor! »Hey, was macht ihr da?«, rief Alex, als er die beiden eingeholt hatte. »Das ist mein Buch!«

»Dein Buch?« Marcel lachte wieder laut auf. »Heißt das, du hast diesen romantischen Quatsch geschrieben?«

»Das ist kein romantischer Quatsch«, wehrte sich Alex. »Das sind Geschichten für meine Schwester. Also gebt mir das Buch wieder!«

»Ach, deine Schwester!« Marcel hielt das Buch so, dass Alex nicht drankommen konnte. »Die Kleine, die schon sechs oder sieben ist und noch nicht bis drei zählen kann, ja?«

Alex spürte, wie sein Gesicht rot vor Zorn wurde. Seine Hand ballte sich zur Faust. »Wag es ja nicht, dich über Hanna lustig zu machen.«

»Nein, mach ich doch gar nicht.« Marcel lachte. »Die ist doch auch so schon lustig!« Er stieß seinen Kumpel an die Schulter und beide lachten, als hätte jemand einen versauten Witz erzählt.

Alex musste sehr aufpassen, dass ihm nicht die Tränen in die Augen sprangen. Hanna war der Inbegriff von Liebe und Unschuld. Und hier vor sich hatte er das genaue Gegenteil. Verachtung und Grausamkeit in Person. Am liebsten hätte er Marcel einen fetten Kinnhaken verpasst. Aber erstens wusste er nicht, wie man das machte, und zweitens hatte er Angst, anschließend so richtig verprügelt zu werden. Also rief er nur: »Her mit dem Buch!«

»Warte mal, hier stehen noch mehr coole Sachen drin.« Marcel hielt sich das Notizbuch vor die Nase und fing an zu lesen. Diesmal war Alex schneller und griff nach dem Notizbuch. Er bekam es zwar zu fassen, aber es gelang ihm nicht, es Marcel aus der Hand zu ziehen. »Hey, hey, hey!«, trötete Marcel, riss Alex das Buch wieder aus der Hand und hielt es über seinen Kopf. »Immer langsam! Ich hab die spannende Geschichte noch gar nicht zu Ende gelesen!«

»Gib mir das Buch zurück!« Alex sprang mit ausgestrecktem Arm in die Luft, aber er erreichte sein Buch nicht. Er kam sich ziemlich bescheuert vor, hier auf offener Straße zwei Jungen, die genauso alt waren wie er, winselnd darum zu bitten, ihm etwas zu geben, das ihm sowieso gehörte.

»Übrigens«, Marcel wandte sich an seinen Kumpel, »das hier ist Alex, von dem ich dir vorhin erzählt hab. Der, bei dem die Tafelkreide heute Morgen einen Bogen um seinen Kopf herum geflogen ist, als ich ihn damit beworfen habe.« Er schaute Alex an. »Stimmt’s, Alex? Wie hast du das gemacht? Das musst du mir noch erklären.«

»Ich weiß nicht, was du meinst. Gib das Buch her!«

»Ach komm, Alex. Sei doch nicht so.« Marcel legte ein schiefes Grinsen auf. »Lass mir doch das schöne Buch hier. Vielleicht interessiert mich ja, was du schreibst. Du, das ist unheimlich spannend. Echt.« Er zog einen einzelnen Zettel aus dem Notizbuch und las vor: »›Die Stadt ist groß‹, sagte der Alte mit zittriger, aber hoffnungsvoller Stimme. ›Ihr würdet dort allein nicht zurechtkommen.‹«

Alex holte mit einer Hand kurz aus und klatschte mit Schwung gegen Marcels Hand und das Buch. Das Notizbuch flog über die Straße und landete am Rand des Wasserlaufs. Alex lief auf das Buch zu. Marcel war zeitgleich dort angekommen und verpasste dem Buch, kurz bevor Alex es aufheben konnte, einen Fußtritt. In einem hohen Bogen flog es weiter. Diesmal natürlich mitten in den Bach.

Marcel und sein Kumpel lachten dreckig. Alex schossen mehrere übelste Beleidigungen und Schimpfwörter in den Sinn. Aber er entschloss sich, lieber nichts zu sagen. Stattdessen versuchte er vorsichtig, seitlich am Ufer bis ans Wasser hinabzusteigen.

»Oh, Entschuldigung!«, rief Marcel übertrieben. »Warte, ich hab hier noch was!« Damit zerknüllte er den Zettel aus dem Buch, den er noch in der Hand hielt, und warf ihn ebenfalls Richtung Wasser. Dieses Stück Papier verhing sich aber im Gras am Ufer. Schnell griff Alex danach und steckte es in die Hosentasche. Sein Notizbuch lag mitten in der Wasserrinne und wurde zwar nicht fortgeschwemmt, aber Alex kam trotzdem nicht dran. Er suchte einen Stock am Ufer und versuchte, das Notizbuch zu sich zu ziehen. Das Buch bewegte sich nicht. Als er sich noch ein Stück weiter vorbeugte, verlor er das Gleichgewicht und kippte vornüber. Mit einem Platsch stand er mit einem Fuß im Wasser. Dadurch geriet das Buch in Bewegung und ließ sich von der kleinen Strömung abtreiben.

Von oben hörte Alex, wie zwei Jungen lachten. Alex beachtete sie nicht. Jetzt, wo er sowieso nasse Füße hatte, war ihm alles egal. Er schritt mit beiden Füßen quer durch das Wasser und beeilte sich, um das Notizbuch einzuholen, das zwar nicht schnell, aber doch beständig den Bachlauf hinabschwamm. Hin und wieder verlor es dabei einen der eingelegten Zettel, sodass Alex nicht nur dem Buch, sondern auch noch den einzelnen Zetteln hinterherstaksen musste. Das Wasser war eiskalt. Alex hätte am liebsten laut vor sich hingeflucht. Oder den Jungen wüste Beleidigungen zugerufen. Aber wieder behielt er beides für sich. Endlich hatte er sein Notizbuch eingeholt. Er beugte sich nach vorne, griff nach dem Buch und verlor noch einmal das Gleichgewicht. Diesmal fiel er auf die Knie, sodass seine Hose bis fast oben hin klatschnass wurde und auch seine Arme bis weit über die Ellenbogen. Aber er hatte sein Buch und sämtliche Notizzettel.

Was für ein Tag!

»Gut gemacht, Alex!«, rief Marcel, als Alex aus dem Wasser stieg. Die Jungen lachten und gingen laut grölend die Straße abwärts.

Alex sparte sich jeden Kommentar. Wenigstens versuchten sie nicht noch einmal, sein Buch an sich zu reißen. Ob er Hanna jemals davon erzählen könnte, was er alles dafür eingesetzt hatte, um die kleine Welt zu retten, die er in diesem Notizbuch eigens für seine Schwester erfunden hatte? Und mehr noch: Würden ihm die Figuren in seiner eigenen Geschichte jemals dafür danken? In diesem Augenblick wurde Alex bewusst, wie sehr er sich in den letzten Stunden mit all seinen Gedanken in seine eigene Geschichte hineinversetzt hatte. Er hielt die Figuren schon für so real, dass er beinahe erwartete, sie müssten ihm für die Rettung ihrer Welt danken. Blödsinn.

Alex fror wie im tiefsten Winter, als er den Weg zurückging. Über den Spielplatz, an der Bushaltestelle vorbei, in die Straße, in der der Fußweg über die Wiese begann. Als er den schmalen Trampelpfad nach oben betrat, sah er schon von ferne, was er die ganze Zeit befürchtet hatte: Hanna und Elena waren nicht mehr da.

Gefangen in Abadonien

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