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Kapitel 2

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»Alexander, hast du aufgepasst?«

Herr Neumann, der Lateinlehrer, stand an der Tafel und sah streng in die letzte Reihe der Klasse.

»Klar«, antwortete Alexander schnell. »Pronomen. Der Relativsatz wird mit einem Pronomen übersetzt.«

»Nein, so kann man das nicht sagen.« Der Lehrer seufzte und begann, sein Thema über Relativpronomen noch einmal aufzurollen. Offensichtlich hatte er durch Alexanders Antwort immerhin den Eindruck bekommen, er hätte aufgepasst. Das war schon mal gut. Alexander schaute auf die Uhr. Noch zehn Minuten, dann war er von Latein erlöst. Danach Mathe. Auch nicht viel besser.

Seine Mutter versuchte ihm fast täglich einzureden, er müsste sich mehr für die Schule interessieren, immerhin sei er schon 15 Jahre alt und er lernte ja fürs Leben und er brauchte nach der neunten Klasse ein gutes Abschlusszeugnis und so weiter. Aber diese Einstellung fand in seinem Kopf einfach keinen Platz. Konnte man sich denn zwingen, sich für etwas zu interessieren, das absolut überflüssig war? Wann um alles in der Welt brauchte er in seinem weiteren Leben Relativpronomen, binomische Formeln oder Zellbiologie?

Alexander stützte den Kopf auf seine Hand und kritzelte in seinem aufgeschlagenen Block herum. Er musste an seine Schwester Hanna denken. Die würde sich niemals mit solchen Themen herumschlagen müssen. Sie war jetzt sechs Jahre alt, aber an Lesen und Schreiben war bei ihr nicht zu denken. Von ihrer Entwicklung her war sie auf dem Stand einer Dreijährigen, befanden die Ärzte. Für Buchstaben und Zahlen hatte sie jetzt zumindest noch keinen Sinn. Und mit Relativpronomen würde sie sich garantiert auch mit 15 Jahren niemals beschäftigen müssen. Und? War Hanna unglücklich? Nein, war sie nicht. Im Gegenteil. Alexander hatte in seinem Leben noch nie einen Menschen gesehen, der so viel Glück, Freude und Zufriedenheit ausstrahlte. Sobald Alexander ins Zimmer kam und sich neben sie setzte, ging ein Leuchten von ihr aus, das heller war als jede Lampe. Immer wenn sie ihn mit ihrer stürmischen Art umarmte, floss spürbare Wärme von ihrem Körper in seinen. Gemeine Gedanken, Neid, Misstrauen – dafür war in ihrem Herzen kein Platz. Ihr Inneres war bis zum Rand gefüllt mit Liebe, Wärme und Lebensfreude. Jeder, der schlechte Laune hatte, musste sich nur fünf Minuten lang mit ihr beschäftigen und die schlechte Laune war wie weggeblasen. Und das ganz ohne Latein und all den Blödsinn, den einem die Lehrer als so lebenswichtig verkaufen wollten.

»Hast du es jetzt verstanden, Alexander?«, schloss Herr Neumann seinen kleinen Vortrag ab.

»Klar«, antwortete Alexander wie vorhin. »Relativpronomen sind sehr wichtig fürs Leben.«

»Da hast du allerdings recht«, gab der Lehrer zurück und war mit dieser Antwort zufrieden. Alexander grinste und schaute wieder auf die Kritzeleien in seinem Collegeblock.

»Achtung, Alex!«, hörte er plötzlich eine laute Stimme vom anderen Ende der Klasse. »Fang auf! Hier kommt ein Feuer-Pronomen!«

Und noch bevor Alex überhaupt reagieren konnte, hatte Marcel ein dickes Stück Kreide mit voller Wucht in seine Richtung geworfen. Das Kreidestück zischte direkt auf Alex’ Gesicht zu. Alex war wie gelähmt. Mehr als die Augen aufzureißen, gelang ihm in dieser Schrecksekunde nicht.

Doch plötzlich änderte sich etwas.

Das Kreidestück bremste kurz vor Alex’ Gesicht ab, flog im Zeitlupentempo einen Bogen um seinen Kopf herum, zischte hinter ihm in der vorherigen Geschwindigkeit weiter und knallte in irgendeiner Ecke auf den Boden.

Nicht jeder in der Klasse hatte das mitbekommen. Und auch Alex hätte nachträglich geglaubt, er hätte sich das nur eingebildet, wenn nicht Marcel in der anderen Ecke des Raumes mit weit aufgerissenem Mund dagestanden hätte. Auch die wenigen anderen, die den Flug der Kreide zuerst amüsiert verfolgt hatten, hatten jetzt vor Erstaunen die Kinnlade nach unten geklappt.

Alex schaute kurz zu dem Kreidestück, das reglos auf dem Boden lag. Dann zurück zu Marcel, der regungslos vor seinem Stuhl stand. »Wie hast du das gemacht?«, hauchte Marcel mit belegter Stimme.

Alex hatte keine Ahnung. Er hatte nichts gemacht.

Gefangen in Abadonien

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