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Kapitel 4

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Nach der Schule war Alex jedes Mal so erschlagen, dass er das Gefühl hatte, er müsste erst mal für mindestens zwei Stunden ins Bett, obwohl er heute schon um kurz nach eins zu Hause ankam. Aber heute hatte er auch noch so viele Hausaufgaben aufbekommen, dass er fast befürchtete, erst um Mitternacht schlafen gehen zu können.

An der Wohnungstür im dritten Stock empfing ihn bereits Hanna: »Alex kommt!« Noch bevor er seine Jacke ausgezogen hatte, umarmte sie ihn stürmisch. Ihre dichten, dunklen, naturgelockten Haare wippten dabei auf und ab: »Alex lieb!«

Alex ließ sich die Umarmung gefallen und drückte seine Schwester an sich. »Ich hab dich auch lieb.« Schon durchfuhr eine wohlige Wärme seinen Körper. Alex hatte die gleichen Haare wie seine Schwester: dunkel, fast schwarz – das ging ja noch – und voller Locken, die mit keiner Bürste dieser Welt zu bändigen waren. Während das bei Hanna ganz süß aussah, fand er diese lockigen Haare, die seitlich in alle Richtungen abstanden, an seinem eigenen Kopf total widerlich. Dadurch wirkte sein sowieso schon viel zu schmales Gesicht mit der kleinen Nase noch schmaler. Fast krank, dachte er manchmal, wenn er sich morgens im Spiegel betrachtete.

»Alex eine Geschichte erzählen!«, forderte Hanna ihn auf.

»Ja, warte.« Alex ging mitsamt der ihn umklammernden Hanna durch die Tür in die Wohnung hinein. »Lass mich doch erst mal ankommen.«

»Ach, da bist du ja!«, rief Alex’ Mutter aus dem Badezimmer. »Kannst du euch beiden eine Pizza warm machen? Ich bin nicht zum Kochen gekommen! Und ich muss auch jetzt gleich wieder weg! Wir haben noch Teambesprechung, das kann etwas länger dauern.«

Teambesprechung. Was hatte seine Mutter in dieser kleinen Arztpraxis, in der höchstens fünf Leute arbeiteten, so oft im Team zu besprechen? Ganz häufig kam es vor, dass sie nachmittags noch mal in die Praxis musste, obwohl sie eigentlich nur halbtags arbeitete.

»Ja, okay«, gab er trotzdem nach. Er warf seine Schultasche in den Flur, hängte seine Jacke auf und zog die Schuhe aus.

»Alex eine Geschichte erzählen«, wiederholte Hanna und schob Alex ins Wohnzimmer.

Alex lachte. »Sollen wir nicht zuerst was essen?«

»Nein, nicht essen. Alex eine Geschichte erzählen.« Hanna strahlte übers ganze Gesicht, schob ihn bis ans Sofa und gab ihm dann noch einmal einen Stoß, sodass er lachend auf die Polster plumpste. Sofort setzte sich Hanna neben ihn und kuschelte sich an seine Seite. Alex legte wie ein großer Papa seinen Arm um sie. Wenn sie schon keinen wirklichen Papa hatte, der sich um sie kümmerte, versuchte Alex so oft wie möglich, ihr ein bisschen Papa-Geborgenheit zu geben. So eine, wie er sie selbst vermisste, seit sein Vater vor fünf Jahren die Familie verlassen hatte, ohne dass Alex wusste warum. Er war eines Tages einfach weg gewesen und die Mutter hatte nie eine Erklärung gegeben. Und weil sie nichts sagte, fragte Alex nicht nach, obwohl ihm eigentlich tausend Fragen durch den Kopf gingen. Dass sein Vater ihm damals noch kurz vorher aus einem Buch vorgelesen hatte, dann ohne eine Verabschiedung verschwunden war und sich seitdem nur noch an Alex’ Geburtstagen mit einem kurzen, peinlichen Telefonat bei ihm meldete, tat Alex so weh, dass er sich zwingen musste, möglichst selten daran zu denken. Die Mutter tat immer ganz tapfer und hatte den Alltag gut im Griff. Er hatte sie nie weinen gesehen. Und er selbst hatte, als der Vater weg war, immer nur abends im Bett geweint. Aber dann hatte er beschlossen, das Spiel »Alles ist gut, alles läuft weiter« mitzuspielen und auch den Tapferen zu mimen. Mit seiner Schwester Hanna versuchte er seitdem noch mehr Zeit zu verbringen. Ihre Liebe tat ihm gut. Und er spürte, dass sein Großer-Bruder-Arm um ihre Schulter auch ihr guttat.

»Also«, wollte er seine Geschichte beginnen.

Die Mutter kam zur Wohnzimmertür und hatte ein Handtuch um ihren Kopf gebunden. »Hör mal, kannst du vielleicht auch mit Hanna zum Logopäden gehen? Sie hat heute wieder ihren Termin, aber ich hab beim besten Willen keine Zeit.«

»Zum Logopäden? Wo ist der denn? Ich kenn den gar nicht.«

»Klar kennst du den. In der Mühlenstraße am anderen Ende der Stadt.«

»Wie soll ich denn da hinkommen?«

»Mit dem Bus natürlich. Du hast doch eine Busfahrkarte. Und Hanna fährt mit ihrem Ausweis frei, das weißt du doch.«

»Aha.«

Die Mutter ging von der Wohnzimmertür zurück ins Bad. Dabei redete sie weiter: »Um halb drei hat sie den Termin. Nächste Woche kann ich wieder hingehen. Aber heute wär es mir echt eine Hilfe, wenn du gehen würdest.«

Puh. Mit Hanna Bus fahren? Den Logopäden finden? Wieder nach Hause? Wie lange sollte das denn dauern? Schaffte er das überhaupt? Was, wenn er Hanna unterwegs verlieren würde? Auf dem Spielplatz hier im Wohnblock war er schon oft mir ihr gewesen. Das war eigentlich kein Problem. Aber auch da war es einmal vorgekommen, dass sie plötzlich verschwunden war. Sie hatte irgendwo eine Taube gesehen, der sie so lange nachgelaufen war, bis vom Spielplatz nichts mehr zu sehen war. Er hatte eine ganze Weile wie verrückt nach ihr gerufen, bis er sie endlich in einer Seitenstraße gefunden hatte.

Und jetzt bis ans andere Ende der Stadt? Andererseits – das wäre eine willkommene Ausrede, keine Hausaufgaben machen zu müssen.

Alex drehte seinen Kopf Hanna zu: »Was meinst du, Hanna: Sollen wir zwei in die Stadt zum Logopäden fahren?«

»Ja!«, freute sich Hanna und klatschte in die Hände. »Hanna, Alex Stadt fahren!«

Ob das gut ging? Alex spürte allein bei dem Gedanken daran eine gewisse Aufregung. Auf der anderen Seite war es ja auch gut, mal etwas Neues zu wagen. In grübelnden Gedanken verhangen schaute er sich im Wohnzimmer um, als suchte er eine Antwort auf seine Unsicherheit. An der Wand neben dem Fernseher hing ein großer Monatskalender, auf dem immer irgendein schlauer Spruch stand. In diesem Monat war ein Jugendlicher mit einem Kind an der Hand abgebildet, die gemeinsam über eine sonnige Wiese schlenderten. Darüber stand in großen Buchstaben: »Tu’s einfach! Du wirst einen unvergesslichen Tag erleben!«

Alex schloss die Augen, legte seinen Kopf zurück auf die Rückenlehne des Sofas und grinste. Dieses Bild und der Spruch auf dem Kalender waren ja wie auf ihn zugeschnitten! Das hätten Hanna und er sein können. Und der Spruch war eine Mut machende Antwort für ihn. Mit einem Mal war der Nachmittag für ihn eine beschlossene Sache. Er entschied sich, dieses Bild und diesen Spruch als Motto für den Tag zu nehmen. Er grinste noch breiter und fühlte sich nun richtig motiviert für seinen Ausflug. Schon krass, wie manchmal Erlebnisse so genau zusammenpassten, als hätte jemand ein Drehbuch für den »Film deines Lebens« geschrieben, in dem einfach ein paar Zufälle zusammenzuspielen schienen, die aber nur dazu dienten, den Film zu einem Happy End zu bringen. Alex öffnete die Augen, um sich das Bild und den Spruch noch einmal anzuschauen. Beim Blick auf den Kalender fror sein Grinsen auf der Stelle ein. Der Kalender zeigte immer noch dasselbe Foto wie vorher: ein Jugendlicher mit einem Kind auf der Wiese. Aber der abgedruckte Spruch lautete nun plötzlich: »Dies ist kein Film. Dies ist dein Leben!«

Gefangen in Abadonien

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