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Kapitel 6

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Hanna trug Jacke und Mütze, als Alex mit ihr um kurz nach zwei das Haus verließ. Es war Mai. Viel zu warm für eine Mütze. Aber Alex wollte auf Nummer sicher gehen. Und Hanna hatte sich natürlich nicht beschwert. Sie beschwerte sich überhaupt nie, wenn Alex irgendwas mit ihr machte. Ob er sie durchkitzelte, auf eine zwei Meter hohe Mauer stellte oder sie einfach mal zehn Minuten am Esstisch warten ließ, während er im Nebenraum telefonierte – nie zweifelte sie an dem, was er tat. In ihren Augen war er immer der Größte und machte es immer richtig. Wenn er aufhörte mit der Kitzel-Attacke, umarmte sie ihn sofort wieder und rief: »Alex lieb!« Wenn er ihr auf der Mauer zugerufen hätte: »Spring!«, dann wäre sie gesprungen, auch wenn er sie mit ihren sechs Jahren aus dieser Höhe niemals hätte auffangen können. Wenn er sie im Zimmer allein gelassen hatte und nach einer bestimmten Zeit wieder zurückkam, dann strahlte sie ihn an, als hätte sie die ganze Zeit nur auf seine Rückkehr gewartet. Vorwurf? Misstrauen? »Wo warst du so lange?« Fehlanzeige. So was kannte Hanna nicht. Dass in einem menschlichen Herzen Gut und Böse miteinander im Streit liegen, wie er es mal irgendwo gehört hatte, das konnte man von Hanna wirklich nicht sagen. Das Gute in ihrem Herzen hatte sich so breit gemacht – da passte nichts Böses mehr rein.

»Alex, Hanna Stadt!«, freute sich Hanna, während sie zur Bushaltestelle gingen.

»Ja«, bestätigte Alex. »Aber nicht weglaufen, ja? Immer schön bei mir bleiben.«

»Ja.« Hanna nickte mit großen Bewegungen. »Immer schön bei Alex bleiben.«

»Gut so.«

An der Bushaltestelle setzten sie sich auf die kleine Bank. »Alex Geschichte erzählen«, bat sie ihn erneut und kuschelte sich an seine Seite. Alex musste grinsen. Wenn es nach Hanna ging, dann konnte er den ganzen Tag Geschichten erzählen. Am liebsten Geschichten mit Pferden und Mäuschen. Oder mit lieben Mädchen, die Hanna hießen und die ausschließlich Schönes erlebten. Und weil Alex Geschichten ebenso liebte, fiel ihm auch immer wieder eine neue ein. Manchmal erzählte er auch Geschichten, die ein bisschen spannender waren. Zum Beispiel, dass ein Böser kam und Hanna ihre Puppe wegnehmen wollte. Dann saß Hanna mit aufgerissenen Augen kerzengerade da, wedelte hektisch mit ihren Händen vor ihrem Körper und konnte sich erst wieder entspannen, wenn die Geschichte ein gutes Ende genommen hatte. Aber niemals sagte sie: »Nein, nicht so eine spannende Geschichte erzählen!« Alex konnte erzählen, was er wollte – für Hanna war es immer eine Heldengeschichte. Und das machte Alex noch mal besonders stolz.

Vor einiger Zeit hatte Alex begonnen, in einem Notizbuch alles aufzuschreiben, was ihm Schönes einfiel. Einen Handlungsstrang, eine witzige Begebenheit, ein kluger Spruch. Dann konnte er etwas davon in seiner nächsten Geschichte einflechten. In diesem Notizbuch schrieb er manchmal auch nachträglich eine der Geschichten auf, die er Hanna erzählt und die ihm selbst beim Erzählen so gut gefallen hatte, dass er sie nicht vergaß. Dabei stellte er sich vor, wie irgendwann alle seine Pferdchen-, Mäuschen- und Hannageschichten als Buch veröffentlicht würden. Dieser Gedanke reizte ihn so, dass er manchmal alle möglichen wilden und abstrusen Gedankengänge, Überschriften oder Personenbeschreibungen aufschrieb, auch wenn er noch gar nicht wusste, wie das alles zusammenpassen könnte. Er nahm sich vor, irgendwann all seine wirren Gedanken zu sortieren und daraus eine ausführliche Geschichte zu verfassen. Die Geschichte von der lieben Hanna. Nein. Doofer Titel.

»Alex Geschichte erzählen!« Hanna riss Alex aus seinen Tagträumen heraus. Sie klopfte mit ihrer kleinen Hand auf seine Jacke und wiederholte: »Alex Geschichte erzählen!«

»Ja doch!« Alex lachte und setzte sich auf der Bank gerade hin. Dabei fiel ihm sein Notizbuch aus der Jackentasche. Sofort sprang Hanna auf und hob es auf: »Was ist das, Alex?«

»Das ist mein geheimes Geschichtenbuch«, grinste Alex.

Hanna strahlte, als hätte sie Geburtstag. »Vorlesen!«, juchzte sie.

»Das geht nicht, Hanna.« Die Geschichten stehen hier nur in wirren Stichpunkten, dachte Alex. Aber zu Hanna sagte er: »Die Geschichten sind noch geheim.« Dabei legte er bedeutungsvoll den Zeigefinger vor den Mund. »Pssst. Geheim.«

Hanna machte es ihm nach: »Pssst. Geheim.« Und sofort danach flüsterte sie verschwörerisch: »Alex geheime Geschichte vorlesen!«

»Ja«, flüsterte er zurück. »Wenn sie fertig sind.«

»Wann sind Geschichten fertig?«

Vermutlich werden sie nie fertig, dachte Alex. Wie so vieles in seinem Leben, das er irgendwann mal angefangen und nie zu Ende gebracht hatte. Wie etwa tausend Abenteuergeschichten, die er mal zu schreiben begonnen und dann doch nie beendet hatte, weil er entweder keine Lust mehr hatte oder weil er nicht wusste, wie die Geschichte weitergehen sollte. Zu Hanna sagte er: »Ich sag dir Bescheid, wenn sie fertig sind. Ja?«

»Ja.« Hanna nickte heftig.

Sein Notizbuch war in den letzten Wochen zu einer unübersichtlichen Lose-Blatt-Sammlung angewachsen. Oft war ihm nämlich genau dann was Schönes, Lustiges, Spannendes oder sonst wie Passendes eingefallen, wenn er sein Notizbuch nicht zur Hand hatte. Dann hatte er seine Idee auf irgendeinen Zettel geschmiert, der gerade herumflog, und später diesen Zettel in das Notizbuch gesteckt. Inzwischen schauten so viele Schmierzettel aus allen Seiten des Notizbuches heraus, dass Alex bezweifelte, jemals wieder Ordnung in diesen Wust zu bekommen. Er müsste sich einfach mal einen ganzen Abend oder Nachmittag Zeit nehmen, um das alles zu sortieren. Aber wann?

»Warte nicht mehr länger damit!«, hörte er plötzlich eine Stimme direkt neben ihm. Erschrocken drehte sich Alex um und sah einen Mann an der Bushaltestelle stehen, der vor einer Minute noch nicht da gestanden hatte.

»Was ist?«, fragte Alex verwundert nach.

»Fang endlich an damit!«, sagte der Mann.

»Womit?«

»Das alles aufzuschreiben!«

Alex schaute den Mann neben ihm misstrauisch an. »Woher wissen Sie, dass ich was aufschreiben wollte?«

Der Mann schaute Alex nicht an, als er sagte: »Tu’s einfach. Ja? Schieb die guten Dinge in deinem Leben nicht länger vor dir her. Setz sie um. Fang heute damit an.«

»Heute?«

»Ja.«

Alex ärgerte sich ein bisschen. Wie kam dieser fremde Mann dazu, ihm Anweisungen zu geben? Er kannte ihn doch gar nicht. »Heute kann ich nicht. Ich bin mit meiner Schwester beim Logopäden.«

»Für das, was einem wichtig ist, findet man immer Zeit.«

Das stimmte natürlich. Trotzdem fand er es merkwürdig, dass ihm irgendein wildfremder Mensch an der Bushaltestelle Tipps für sein Leben gab. Und noch merkwürdiger war, dass er wusste, was Alex gedacht hatte! »Wer sind Sie überhaupt?«

»Frag nicht weiter. Fang heute an. Okay?«

So langsam nahm sich dieser Kerl aber wirklich zu wichtig. »Können Sie mir bitte sagen, wer Sie sind und woher Sie mich kennen?«, fragte Alex etwas lauter und tippte dabei dem Mann, der bisher beim Reden immer noch an Alex vorbei in die Luft starrte, an die Jacke, damit er ihn mal anschaute.

Endlich drehte sich der Mann ganz zu Alex um. Mit der Hand, die Alex bis eben gerade nicht sehen konnte, weil der Mann seitlich zu ihm stand, hielt er sich ein Handy ans Ohr: »Bitte, was? Ich heiße Frank Weinheim. Warum?«

Alex spürte, wie er knallrot wurde. »Haben Sie gar nicht mit mir gesprochen?«

»Nein. Ich telefoniere mit meiner Verlobten.«

Alex wurde heiß und kalt auf einmal. Hanna schien diese Verwechslung kapiert zu haben, denn sie lachte laut auf und klatschte wie wild Beifall. »Entschuldigung«, sagte Alex. »Ich dachte, Sie hätten mit mir gesprochen. Das, was Sie gesagt haben, hat immer genau zu dem gepasst, was ich geantwortet hab.«

»Wirklich?« Der Mann zog die Augenbrauen hoch, behielt aber sein Handy am Ohr. »Lustiger Zufall.«

Alex fixierte das Gesicht des Fremden. »Glauben Sie an Zufälle?«

Der Mann lächelte. »Hm. Was würdest du sagen?«

»Dass Sie jetzt, ohne es zu wissen, mich praktisch dazu aufgefordert haben, meine Notizen zu einer Geschichte aufzuschreiben, das find ich schon interessant.«

»Wie ist es mit dir? Findest du auch, du solltest deine Notizen zu einer Geschichte aufschreiben?«

»Ja, schon.«

»Na, dann passt es doch. Tu’s einfach.«

Der Bus kam. Der Mann drehte sich um und stieg ohne ein weiteres Wort ein. Während sich Alex mit Hanna von der Bank erhob und auf den Bus zuging, las er die riesige Werbe-Aufschrift über der kompletten Seite des Busses: »Also zöger nicht länger und tu’s endlich!«

Alex blieb erschrocken stehen. So viele Zufälle konnte es doch eigentlich gar nicht mehr geben! Waren hier höhere Mächte im Spiel? Wollte hier jemand eine Botschaft an ihn weitergeben und nutzte dafür Menschen, Kalendersprüche und Busaufdrucke? Das konnte ja nicht wirklich sein. Oder erlaubte sich hier jemand einen Spaß mit ihm?

Immer noch den Kopf schüttelnd stieg Alex mit Hanna in den Bus. Ein merkwürdiger Tag war das.

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