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Оглавление1. VORWORT
Die fundamentale Natur- und Umweltkrise kann nicht gelöst werden, wenn grundlegende Strukturen in den Lebenswelten der Menschen (z.B. Lebensstile) und in den Subsystemen dieser Gesellschaft (vor allem in der Ökonomie, Politik, Rechtssystem, Wissenschaft, Technologieproduktion) nicht überdacht und verändert werden. Von dieser Überzeugung ausgehend möchte ich den folgenden Gedanken anschließen: In dem Maße, wie die Potenziale der »äußeren« Natur (z.B. die existenziellen Basiselemente Luft, Wasser, Erde und die notwendigen Energie-, Rohstoff- und Nahrungsressourcen) und die der »inneren« Natur des Menschen (z.B. die Gefühle von Identität und Geborgenheit) zu versiegen drohen, wachsen zwangsläufig, wenn auch in der Regel psychisch verdrängt, einerseits das »katastrophische Bewusstsein«, andererseits die »Hoffnung auf prinzipielle Heilung« – gerade auch im Bildungsbereich! Somit stellt sich für die Umweltpädagogik als spezialisierte Anwältin der »Naturfrage« im Bildungssystem die Aufgabe, die für die Aufarbeitung, Reflexion und Gestaltung dieser Tendenzen notwendigen und entsprechenden Rahmenbedingungen und Handlungsspielräume zu schaffen. Dabei können in einem ersten Zugriff drei Frageebenen unterschieden werden, um das komplexe Geflecht von Phänomenen und Zusammenhängen aufzuhellen (s. Anhang 1).
Beziehungen zwischen Mensch und Natur
Wie kann eine ganz persönliche Naturbeziehung angelegt bzw. unterstützt werden? Wie kann diese Beziehung so geprägt werden, dass der Mensch sich in seinen tiefsten Persönlichkeitselementen sowohl als Natur- als auch Kulturwesen begreift? Wie kann eine derart verankerte »strukturelle Sensibilisierung« gelingen?
Beziehungen zwischen den menschlichen Lebenswelten und der Natur
Welche Lebensstile dominieren und wie konstituieren sie sich? In welchen Kontexten können problematisch gewordene Lebensstile reflexiv bearbeitet werden? Welche Einstellungen und Fähigkeiten fördern eine Lebensweise, die sich z.B. vor allem an menschlichen »Subsistenzpotenzialen« orientiert? Welche Lebensstile sind sozial und ökologisch verantwortbar und welche Barrieren behindern deren Realisierung? Worin liegen die spezifischen pädagogischen Möglichkeiten?
Beziehungen zwischen dem gesellschaftlichen System und der Natur
Welche gesellschaftlichen Systemelemente sind historisch für die ökologische Krise verantwortlich? Welche »Natur« bzw. »Umwelt« wollen wir eigentlich? Auf welchen Ebenen kann dabei (umwelt-) pädagogisch sinnvoll agiert werden? Welche analytischen, kommunikativen und sozialen Kompetenzen (»Schlüsselqualifikationen«) sind erforderlich und erlernbar, um ökologische Krisenfelder (lokal, regional, global) erschließen zu können und zumindest probehandelnd mit antizipatorischer Fantasie neu zu gestalten?
Die vorliegende Arbeit versucht, auf diesem Hintergrund drei Anliegen miteinander zu verbinden:
1. Ausgangspunkt ist die in Kapitel1 skizzierte Entwicklung einer nunmehr 40 Jahre alten Geschichte zur Umwelterziehung in Deutschland. Vor allem der Umgang mit gesellschaftlichen Modernisierungsimpulsen – insbesondere mit der staatlichen Umweltpolitik – und den daraus abgeleiteten Innovationen für die Umweltpädagogik werden hervorgehoben und in einigen Trends kritisch beleuchtet. In eine neue Phase eingetreten ist die Umweltbildung mit dem Paradigmenwechsel zu einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Vielerorts beginnende Umsetzungsversuche, u.a. der bundesweite Modellversuch der Bund-Länder-Kommission, stehen zurzeit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Erörterung wichtiger programmatischer Vorlagen und einiger empirischer Studien sollen dazu dienen, die Ausgangssituation zu erfassen. Daraus ergeben sich – zunächst in Form von knappen orientierenden Thesen – die Aufgaben einer bildungstheoretisch angeleiteten Reflexion und Erschließung von zentralen Momenten der Natur- und Umweltkrise. Auf dieser Grundlage scheint es mir möglich, den Ansprüchen eines erweiterten Verständnisses von »reflexiver Modernisierung« (Beck 1993, 1999) zu genügen und umweltpädagogisch produktive Konfliktlinien aufzuzeigen. Das setzt eine Selbstreflexion voraus, die ich in den Thesen zur »Korrespondenzregel« (die wechselseitige Entsprechung von »innerer« und »äußerer« ökologischer Krise) und zum verdeckt wirksamen »kompensatorischen Verhaltenszirkel« (der affirmative Funktionszusammenhang von sozialtechnischen, »einfachen« ökologischen Modernisierungsmaßnahmen und entlastenden Naturerlebnisinszenierungen) zum Fokus des ersten Hauptziels einer kritischen Umweltbildung mache. Gemeint ist die sogenannte »strukturelle Sensibilisierung« bzgl. der krisenrelevanten Aspekte auf der Subjekt- und auf der gesellschaftlichen Systemebene.
Erst in diesem Selbstaufklärungskontext scheint es mir sinnvoll, mögliche Handlungsspielräume zu verorten und nach langfristig angelegten Lösungsvorschlägen und Handlungskonzepten Ausschau zu halten – zunächst mit der Frage, ob und wie diese Ansätze mit den aufgezeigten Konfliktlinien und Problemen umgehen. Daran schließen Überlegungen an, mit welchen konzeptionellen Ansätzen die konstruktiv-innovatorischen Potenziale des Nachhaltigkeits-Leitbildes erschlossen und auf welchen Wegen sie als institutionelle Konzepte verankert werden können.
2. Um diesen Suchprozess durchschaubar und nachvollziehbar zu machen und in seinen Ergebnissen gehaltvoll und mehrperspektivisch ausgestalten zu können, steht im Zentrum meiner Arbeit das in Kap. 3–7 entfaltete Didaktische Kreuz mit seinen vier Momenten zur Erschließung grundlegender Aspekte ökologischer Krisenphänomene. Es soll als Vorschlag für die Begründung und Anwendung eines didaktischen Modells zur kritisch-konstruktiven Umweltbildung dienen.
Ausgehend von der Überlegung ‚ dass der thematische Schwerpunkt der Umweltbildung in den historisch-gesellschaftlich geprägten Mensch-Natur-Beziehungen zu sehen ist, werden in Auseinandersetzung mit einigen bildungstheoretischen Positionen vier »Momente« als Ansatzpunkte zur Erschließung dieser Beziehungen vorgeschlagen. Jeweils zwei von ihnen stehen in einer spannungsreichen Wechselwirkung zueinander: das »individuelle« zum »universellen« und das »widerständige« zum »utopischen« Moment. Mit ihrer Hilfe kann es gelingen, wesentliche Aspekte unserer Natur- und Umweltbeziehungen für die differenzierte Analyse komplexer Problemzusammenhänge aufzubereiten und zugleich eine Grundlage für Konzeptbildungsprozesse – hier vor allem in didaktischer Perspektive – zu verdeutlichen. Das sogenannte Didaktische Kreuz ist – auch in pragmatischer Absicht – ein geeignetes Komplexität reduzierendes und sinnstiftendes Erschließungsinstrument von Dimensionen der Umweltbildung. Das wird am Beispiel der Agenda 21 und deren umweltpädagogischer Programmatik einer »Bildung für eine nachhaltige Entwicklung« näher erläutert.
3. Ganz in diesem Sinne verstehen sich die in Kapitel 9 dargestellten praktischen Implikationen: Zwölf knapp skizzierte Bausteine einer regionalen Umweltbildungskonzeption demonstrieren die Substanz und Möglichkeiten einer kreativen Anwendung und Umsetzung des Didaktischen Kreuzes auf den verschiedenen Ebenen. Dabei gewinnt ein bestimmter Schulentwicklungsansatz Mobilisierungs- und Integrationsfunktion: Ein an sozialökologischen Problemen und Handlungsmöglichkeiten orientiertes selbst erzeugtes »Lernorte-Netz« und ein schrittweise verankertes curriculares »Stufenkonzept zur ökologischen Grundbildung« schaffen die notwendige Basis für eine beziehungsreiche Auseinandersetzung mit Phänomenen und Strukturen auf den oben skizzierten unterschiedlichen Beziehungsebenen im Mensch-Natur-Kontext. Auf der praktischen Ebene wird dieser Schulentwicklungsansatz entscheidend unterstützt von einem aus diesen Zusammenhängen heraus gemeinsam aufgebauten regionalen Umweltbildungszentrum. Die notwendige qualifikatorische Absicherung zur Gestaltung und permanenten Weiterentwicklung dieses Prozesses wird durch eine regionale Fortbildungsinstitution und durch ein speziell auf diesen Modellansatz zugeschnittenes »Studienprojekt Umweltbildung« an der Philipps-Universität Marburg gewährleistet. Diese Beispiele verdeutlichen in exemplarischer Weise einerseits die kritisch-konstruktiven Möglichkeiten des hier vorgeschlagenen konzeptionellen Entwurfs und andererseits den Prozess, wie eine regional verankerte institutionelle und konzeptionelle Infrastruktur zur Umweltbildung, Schulentwicklung, Lehrerbildung und Forschung in einem abgegrenzten Handlungsfeld – nacheinander unterstützt durch eine finanzielle Förderung der Robert-Bosch-Stiftung und der Deutschen Bundesstiftung Umwelt – sinnvoll und zum Nutzen aller Beteiligten miteinander vernetzt und dauerhaft etabliert werden kann.
Abgeschlossen wird die Arbeit – nach einigen forschungsstrategischen Überlegungen in Kap. 10 – mit dem Entwurf zweier praktischer Werkzeuge zur Übersetzung und Anwendung der Kernidee des »Didaktischen Kreuzes«. In Kap. 11 wird in einem ersten Abschnitt der Vorschlag skizziert, das didaktische Modell in ein kritisch-konstruktives Diskursmodell zu übersetzen, wo in hypothetisch vorgestellten »fünf notwendigen Häusern« (hier zunächst als Metapher formuliert, die sich aber durchaus materialisieren ließe) die jeweiligen Schlüsselfragen und -probleme pädagogisch und politisch in ihren wesentlichen Momenten zu interpretieren und an komplexintegrierte Handlungsansätze heranzuführen. In einem zweiten Abschnitt wird – im Anschluss an die aktuelle Diskussion zur »Typenbildung« in der sozialwissenschaftlichen Umweltforschung – die Anregung für einen Versuch gegeben, auf der Interpretationsbasis des hier vorgelegten didaktischen Modells typenbildende Bestandsaufnahmen von relevanten Umweltbildungsansätzen vorzunehmen.
Im Ganzen gesehen stellt die Arbeit eine Neubearbeitung, Umgestaltung und Erweiterung meiner »Einführung in die Umwelterziehung« aus dem Jahre 1995 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt) dar. Ausgehend von der vor einigen Jahren für mich noch nicht formulierbaren konzeptionellen Idee (das Didaktische Kreuz), die einen geeigneten Rahmen für die bisher nebeneinander bearbeiteten Theorie- und Praxisansätze setzt, wurden erhebliche Teile der »Einführung« in die vollkommen umgestaltete Neufassung eingearbeitet.