Читать книгу Alles wird gut ... - Heidi Dahlsen - Страница 32

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Lydia ist ganz vertieft in das vorletzte Kapitel ihres neuen Buches, als der Vibrationsalarm ihres Handys sie aus den Gedanken reißt.

„Jetzt nicht“, sagt sie, wird aber doch neugierig.

Sie weiß, dass ihre Freunde sie nur im Notfall anfunken. Das neue Buch ist fast fertig. Sie überarbeitet das vorletzte Kapitel zum vielleicht zehnten Mal, aber immerhin.

Sie sieht auf das Display und liest: „SOS. Christine.“

Und schon macht sie sich Sorgen und aktiviert den Rückruf.

„Was ist los?“, fragt sie.

Sie bekommt jedoch keine Antwort.

„Christine?“

„Entschuldige bitte. Ich will dich nicht stören“, sagt Christine leise.

„Du störst nicht. Na ja, nicht sehr. Ich bin fast fertig. Nächste Woche bin ich wieder persönlich für dich da. Versprochen. Was ist passiert?“, fragt Lydia, als sie sich an die SMS erinnert.

„Olli ist wieder da.“

„Wo war er denn?“, fragt Lydia, denn sie hat nach dem Gartenfest bei Christine intensiv gearbeitet, und dabei vergeht ihr im wahrsten Sinne des Wortes jedes Mal Hören und Sehen.

„Er musste doch die Jungs bei Sybille abholen. Und jetzt ist er wieder zurück. Wir haben letzte Nacht lange geredet“, Christine macht eine Pause, „über früher und so.“

„Das war doch längst überfällig. Christine, Olli hat dich doch schon immer vergöttert. Er versteht das. Jetzt wird er sich ärgern, dass er Sybille am Hals hat.“

„Nicht mehr lange. Er will die Scheidung. Das hat aber nichts mit mir zu tun“, sagt sie schnell. „Ich muss dir so viel erzählen.“

Lydia ist erstaunt, dass sie so viel verpasst hat.

„Montag komme ich zu dir, wirklich. Du kannst auch jederzeit anrufen. Wie gesagt, ich habe es fast geschafft. Richte Tilly bitte aus, dass ich das Theaterstück für die Weihnachtsfeier fertig habe“, sagt Lydia.

„Sie wird sich freuen. Entschuldige noch mal den Anruf, aber ich bin total durcheinander.“

„Ist schon gut. Du wirst sehen, es kommt alles in Ordnung“, muntert Lydia sie auf.

„Danke“, sagt Christine und legt auf.

Etwas erleichtert ist sie schon, aber das Durcheinander in ihrem Kopf lässt sie kaum einen klaren Gedanken fassen. Ihre Mutter will sie nicht mit ihren Sorgen belasten. Die hat viel zu tun und nimmt ihr noch die Kinder ab. Wenn sie an Olli denkt, was fast ununterbrochen der Fall ist, erfasst sie eine große Traurigkeit, die sich mit einem seltsamen Gefühl abwechselt. Sie sieht Olli vor sich, wie er ihr die neuen Aufträge auf den Tisch gelegt hat, unermüdlich mit Daniel Fußball spielt oder wie liebenswürdig er zu Tilly ist. Sie muss lächeln. Dann sieht sie wieder die arrogante Sybille und den verzweifelten Richard vor sich und muss weinen. Olli stehen schwere Zeiten bevor. Sie darf sich gar nicht vorstellen, wie schlecht es ihm gehen wird, wenn er die Jungs verlieren sollte. Das Klingeln des Telefons reißt sie aus ihren Gedanken.

„Christine, ich würde jetzt in die Agentur fahren“, sagt Olli. „Nur, damit du Bescheid weißt, dass ich dort bin ..... falls du mich brauchst. Ich konnte nicht schlafen. Es ist vielleicht besser, wenn ich mich in die Arbeit stürze. Ich möchte den anderen nicht mehr als nötig aufhalsen.“

„Christine?“, fragt er, weil sie nicht antwortet.

„Ja, ja. Das ist schon in Ordnung. Ich komme zurecht. Die Kinder müssen wir erst gegen Abend abholen. Die sind ja in guten Händen.“

„Wie geht es dir?“, fragt er.

Seine Nerven sind bis aufs Äußerste angespannt.

„Sicher auch nicht besser als dir. Olli, es tut mir alles so leid .....“

Sie kann die Tränen kaum zurückhalten und sagt nur noch: „Komm einfach her, wenn du Zeit hast.“

„Prima“, antwortet er und legt auf.

Nur gut, dass ich heute alleine bin und die Kinder mich so nicht sehen müssen“, denkt Christine.

Am späten Nachmittag kommt Olli, um sie abzuholen. Schweigend setzt sie sich zu ihm ins Auto. Auch während der Fahrt sagt keiner ein Wort.

Als sie auf dem Reiterhof ankommen, sehen sie, dass Jutta gerade abfahren will. Sie winkt ihnen glücklich zu. Christine geht zu ihrem Auto.

„Hallo, Christine“, sagt Jutta durch das offene Fenster und redet drauflos: „Jenny ist heute schon zurückgekommen. Es gab kein Halten mehr. Das hat mir zwar Ärger mit Rüdiger eingebracht, aber egal. Von ihm lasse ich mir mein Leben nicht mehr verderben. Sie kam nach Hause gestürmt, hat frische Sachen eingepackt und wollte nur noch hier her.“

„Wo ist sie?“, fragt Christine etwas abwesend und schaut sich um.

„Schon im Quartier“, antwortet Jutta. „Vor nächstem Sonntag soll ich sie auf keinen Fall abholen, hat sie mir deutlich zu verstehen gegeben.“

„Das kann euch doch recht sein“, sagt Christine.

„Ja“, strahlt Jutta und bemerkt erst jetzt Christines fürchterliches Aussehen. „Was ist denn mit dir passiert?“

„Ach, nichts weiter. Wir wollen die Kinder abholen. Meine Mutti hat sich auch um Ollis Jungs gekümmert. Richard war ziemlich krank“, antwortet sie nur.

„Das hat mir Markus erzählt. Ansonsten habe ich nicht viel mitbekommen“, sagt Jutta und blickt Christine entschuldigend an. „Wir müssen uns bald treffen, damit ich wieder auf dem Laufenden bin. Meine Einzugsparty ist auch schon längst überfällig.“

„Lydia wird bald mit ihrem neuen Buch fertig und hat Zeit für uns“, sagt Christine.

„Dann könnten wir am kommenden Samstag bei mir feiern“, schlägt Jutta vor.

„Aber ohne Kinder“, sagt Christine. „Jenny und Tilly sind dann noch hier, und für die Kleinen ist das nichts.“

„Gut. Sagst du bitte Lydia Bescheid?“

„Ja“, sagt Christine. „Ich bin gespannt auf Markus.“

„Er wartet schon auf mich. Ich fahre dann mal. Tschüss.“

Christine geht in die Reiterklause.

„Hallo, Mutti.“

Oma Hedwig sieht ihre Tochter prüfend an, nimmt sie in die Arme und fragt besorgt: „Was ist passiert? Kann ich dir irgendwie helfen?“

„Olli war die halbe Nacht da. Wir haben über alles geredet.“

„Das wurde aber auch Zeit. Der arme Junge wusste noch nie, woran er mit dir ist.“

Christine lächelt, denn sie weiß, dass ihre Mutter oft versucht hat, ihr Olli schmackhaft zu machen.

„Wie bist du mit den Kindern klargekommen?“, fragt sie.

„Welche Kinder meinst du?“, fragt ihre Mutter schmunzelnd. „Hier sind keine Kinder.“

Christine sieht ihre Mutter dankbar an. „Du hast es schon immer geschafft, mich in kürzester Zeit aufzumuntern.“

„Dazu sind Mütter da. Eure Kinder sind in irgendwelchen Ställen. Olli ist schon zu ihnen gegangen. Er sieht ja fast noch furchtbarer aus als du.“

„Ich weiß“, sagt Christine traurig und will nach draußen gehen.

„Christine“, ruft ihre Mutter ihr nach.

„Ja?“

„Mach es dir nicht wieder schwerer, als es schon ist. Olli ist ein sehr anständiger Junge.“

„Das weiß ich doch.“

Ihr laufen wieder Tränen über das Gesicht. Deshalb geht sie sehr langsam. Schon von weitem hört sie die Kinder laut lachen. Sie bleibt in der offenen Tür des Ziegenstalles stehen und sieht dem Trubel zu. Olli tobt mit den Kindern im Stroh herum.

„Duck mal, Papa“, sagt Bertram. „Die Siege hat Dnochen auf dem Dopf.“

„Das sind Hörner“, erklärt Olli ihm.

„Ich dachte Dnochen“, sagt Bertram.

Tilly kommt vom Reitplatz. Sie geht zu ihrer Mutter und fragt besorgt: „Was ist los?“

„Es ist soweit alles in Ordnung“, antwortet Christine.

„Ich dachte, ihr habt euch gestern einen schönen Abend gemacht“, sagt Tilly enttäuscht.

„So einfach ist das nicht. Zumindest hatten wir einen langen Abend“, antwortet Christine.

Tilly sieht ihre Mutter irritiert an.

„Mach dir keine Sorgen, meine Große. Es wird bald alles gut. Das hoffe ich jedenfalls. Ach, bevor ich es vergesse, deine Patentante hat das Theaterstück für euch fertig und bringt es dir am Montag mit.“

Tilly strahlt über das ganze Gesicht und Christine ist froh, ihre Tochter abgelenkt zu haben.

„Christine, da bist du ja“, ruft Olli unter den Kindern hervor.

„Wollen wir nach Hause fahren?“, fragt sie.

„Oh nö“, rufen Richard und Bertram im Chor. Sie haben sich Daniels Aussprache schon angewöhnt.

„Ja“, ruft Daniel begeistert. „Wir müssen doch noch Fußball spielen.“

„Dann ab zum Auto“, sagt Olli.

Die drei Jungs flitzen davon. Olli zupft sich das Stroh von den Sachen. Christine geht zu ihm und zieht mehrere Halme aus seinem Haar. Er sieht sie dankbar an und versucht in ihren Augen zu lesen, was in ihr vor geht. Er hat ein starkes Verlangen, sie in die Arme zu nehmen.

Sie sieht ihn nur kurz an, weicht seinem Blick aus und geht den Kindern hinterher.

„Ich bleibe noch bis morgen früh hier und helfe Oma. Mit zwanzig Ferienkindern hat sie wieder viel zu tun. Oder braucht ihr mich?“, fragt Tilly.

„Nein, bleib nur hier“, antwortet Olli.

Als sie zum Auto gehen, vor dem die Jungs schon ungeduldig warten, sprechen sie wieder kein Wort. Sie sind viel zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt. Christine könnte ununterbrochen weinen. Sie versucht, so gut es geht, ihre Gefühle zu unterdrücken, denn sie möchte weder die Kinder noch Olli damit konfrontieren.

Nach dem Fußballspiel und Abendessen sind die Jungs alle drei todmüde. Olli will nach Hause fahren, denn er kann Christines Nähe kaum ertragen. Er hat das Gefühl, sein ganzer Körper verkrampft sich. Es tut ihm weh, sie so traurig zu sehen. Die ganze Liebe, die er schon immer für sie empfunden hat, ist wie eine große Welle über ihm zusammengeschlagen. Wenn er Christine ansieht, möchte er sie fest umarmen und nie wieder loslassen. Er weiß, dass das nicht möglich ist, und ist froh, dass er überhaupt bei ihr sein kann.

Christine will ihn nicht gehenlassen, weil sie weiß, dass sie sich dann einsam fühlen würde. Sie schlägt vor, dass die Jungs zusammen in Daniels Zimmer schlafen können. Richard und Bertram sind begeistert und Daniel ist glücklich, nicht mehr allein zu sein. Christine gibt jedem einen Kuss und wünscht eine gute Nacht. Schon bald ist Ruhe im Kinderzimmer.

Olli sitzt auf der Hollywoodschaukel. Christine setzt sich zu ihm, lächelt ihn hilflos an und kommt sich wie ein kleines Mädchen vor. Sie ist mit der Situation überfordert und unfähig, etwas zu tun oder zu sagen.

„Ich habe letzte Nacht überhaupt nicht geschlafen“, sagt Olli.

„Ich auch nicht“, schluchzt Christine.

Die Tränen laufen wieder unaufhaltsam über ihre Wangen. Olli gibt ihr ein Taschentuch und zieht sie einfach in seine Arme. Er sagt leise: „Ich will nichts falsch machen.“ Christine kann sich nicht beruhigen.

„Ich habe von Anfang an alles falsch gemacht. Du bist so lieb“, sagt sie.

Olli stehen nun auch Tränen in den Augen. Es tut ihm sehr weh, hilflos mit ansehen zu müssen, dass sie so verzweifelt ist. Er hält sie fest, denn mehr kann er erst einmal nicht tun.

„Möchtest du lieber allein sein?“, fragt er.

Sie schüttelt energisch den Kopf. „Nein. Auf gar keinen Fall. Ich bin froh, dass du da bist. Ich weiß auch nicht, warum ich nicht aufhören kann zu heulen. Das ist sonst nicht meine Art. Als ich dir gestern alles erzählt habe, da wurde mir das Desaster der letzten Jahre wieder bewusst. Ich ärgere mich so sehr über mich selbst. Wenn ich mich jedoch damals für dich entschieden hätte, dann hätte ich uns beide irgendwie belogen. Ich wollte dir keine falschen Hoffnungen machen. Meine größte Angst war, dass ich dich als Freund verlieren könnte, wenn ich dir nicht nachgebe. Du hast mir schon immer viel bedeutet. Aber ..... du weißt schon. Ich konnte wirklich nichts dagegen tun.“

Olli genießt ihre Nähe. Er streicht ihr sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht und hat das Gefühl, ihr somit wenigstens etwas Trost zu geben. Er fühlt sich ziemlich hilflos.

„Am meisten ärgere ich mich, dass ich in dieser Zeit nicht bei dir war und dir helfen konnte“, sagt er traurig. „Wenn ich an dich gedacht habe, war ich zuversichtlich, dass es dir gut geht. Ich konnte doch nicht ahnen ..... Solange ich mich erinnern kann, habe ich dich geliebt, Christine. Ich werde immer nur dich lieben – egal wie du für mich empfindest. Ich kann nämlich auch nichts dafür und kann noch länger warten. Aber bitte, höre endlich auf zu weinen. Ich ertrage es nicht mehr, dass du so traurig bist.“

Er sieht sie liebevoll an.

„Bleibst du heute Nacht bei mir?“, fragt sie ihn, denn sie weiß, dass der nächste Schritt von ihr ausgehen muss.

„Ich mache alles, was du willst“, sagt er und ergänzt, „Hauptsache du bist glücklich.“

Sie sehen sich lange in die Augen.

Christine durchströmt ein überwältigendes Gefühl. Sie beugt sich zu ihm und küsst ihn zaghaft.

Als Tilly am nächsten Morgen nach Hause kommt, freut sie sich sehr, dass Ollis Auto noch auf dem Parkplatz steht. Sie geht in die Küche und überrascht ihre Mutter, die gerade für alle das Frühstück macht, mit frischen Brötchen.

„Guten Morgen, Mama. Die habe ich für euch gebacken.“

Christine dreht sich um und fühlt, dass sie einem prüfenden Blick ihrer Tochter standhalten muss.

„Guten Morgen, mein Schatz.“

Tilly bemerkt, dass ihre Mutter noch immer traurig wirkt, aber in ihren Augen ist ein klitzekleines Funkeln aufgetaucht. Erleichtert umarmt sie ihre Mutter.

„Schön, dass die Kleinen und Olli noch da sind“, sagt sie.

„Findest du?“

„Ja. Ich freue mich sehr und Daniel sicher auch.“

„Guten Morgen“, sagt Olli als er in die Küche kommt.

Im Schlepptau hat er drei muntere Jungs.

„Wir haben alle einen Bärenhunger“, sagt er fröhlich.

Tilly sieht ihn erleichtert und zufrieden an. Olli erwidert ihren Blick und ist froh, ein stummes Einverständnis bei ihr zu erkennen. Er fühlt sich unendlich glücklich.

„Dann wollen wir mal frühstücken“, sagt Christine und hebt die zwei Kleinen auf ihre Stühle.

„Was machen wir heute?“, fragt Bertram und sieht erwartungsvoll in die Runde.

„Fußball spielen“, antwortet Daniel. „Das war versprochen.“

Christine schmunzelt und sieht Olli an. In ihrem Blick spiegelt sich eine tiefe Zuneigung.

Sie verbringen zwei wunderschöne Tage miteinander. Für die Kinder scheint die neue Situation unkompliziert zu sein. An diesem ersten gemeinsamen Wochenende fühlen sich alle so, als wären sie eine große Familie. Nur Olli und Christine ahnen, dass dieses Glück schon bald auf einem schweren Prüfstand stehen wird.

Als Daniel mit Olli allein auf der Terrasse sitzt, zupft er ihn am Ärmel und sieht ihn mit großen Augen fragend an.

„Du Ollihi?“

„Was gibt es?“

„Bist du jetzt auch mein Papa?“, fragt Daniel ernst.

Olli ist total überrascht und überlegt, was er ihm antworten soll. Er weiß ja selbst noch nicht, ob er mit Christine wirklich eine gemeinsame Zukunft hat.

„Ein Papa wird man nicht so einfach. Das ist eine große Verantwortung“, antwortet er ausweichend. „Das will gut überlegt sein.“

„Warum?“, fragt Daniel und sieht Olli gespannt an.

Weil Olli nicht sofort weiterspricht, sagt Daniel: „Das ist nämlich ungerecht, der Jason hat schon viel länger einen Papa als ich.“

Christine lauscht am offenen Küchenfenster der Unterhaltung. Sie ist neugierig und voller Anspannung und muss über Daniels Begründung lächeln. Sie wird jedoch wieder traurig, weil ihr Sohn seinen Vater zu vermissen scheint.

Olli sucht krampfhaft nach weiteren Argumenten und sagt: „Ich müsste mich dann um dich kümmern, deine Hausaufgaben kontrollieren, mit dir zum Arzt gehen, wenn du krank bist.“

„Aber das machen doch schon Tilly und Mama alles. Du hast mit mir keine Arbeit“, stellt Daniel nüchtern fest. „Du musst nur mit mir Fußball spielen.“

Olli ist sprachlos.

„Na, wenn das so einfach ist, werden wir noch eine Runde trainieren“, sagt Olli und ist froh, diesem ernsten Gespräch zu entkommen. Er will den kleinen Jungen mit voreiligen Versprechungen nicht unglücklich machen. Dass Daniel keine abschließende Antwort auf seine Frage erhalten hat, scheint ihn nicht weiter zu stören, denn er ist schon unterwegs, um seinen Ball zu holen.

Am nächsten Tag wartet Christine ungeduldig auf Lydia. Sie kann es kaum erwarten, mit ihrer Freundin über die Veränderungen in ihrem Leben zu reden.

Auch Tilly sitzt wie auf Kohlen, denn sie will den Text für das Märchenspiel gleich mit zum Reiterhof nehmen.

Als Lydia ankommt, sehen ihr zwei Augenpaare erwartungsvoll entgegen.

„Hallo, ihr zwei hübschen Mädels“, ruft Lydia schon von weitem.

Tilly springt auf und geht ihr schnell entgegen. „Endlich bist du da.“

Lydia nimmt eine Papierrolle aus ihrer Tasche. „Hier, wenn du Änderungen oder Ergänzungen hast, kannst du mich jederzeit informieren.“

Tilly drückt Lydia herzlich und sagt: „Danke. Du bist unser Ehrengast, aber das weißt du ja bereits. Ich fahre jetzt zum Stall. Die warten schon alle auf den Text.“

„Grüß Oma von mir“, ruft Christine ihr hinterher.

„Die wird sich über die Neuigkeit freuen“, antwortet Tilly. Sie zwinkert ihrer Mutter noch zu und tritt kräftig in die Pedalen.

Jetzt erst kann Christine Lydia begrüßen. „Schön, dass du da bist. Du hast mir sehr gefehlt.“

„Ein gutes Gefühl, gebraucht zu werden“, sagt Lydia. „Ich finde mit meinem Buch einfach nicht das passende Ende. Das macht mich noch ganz verrückt. Die Stellen, an denen mich Hansi attackiert, werfen mich immerzu aus der Bahn. Erzähle mir erst einmal, was dich bedrückt.“

Christine berichtet ihrer Freundin, was diese in den letzten Wochen alles verpasst hat.

Lydia ist erstaunt. Erst wütend auf Sybille, dann erfreut über Jutta und zum Schluss des Berichtes traurig mit Christine.

„Und am Donnerstag war Olli noch lange hier. Ich musste ihm einfach alles erzählen. Leicht ist es mir nicht gefallen“, sagt Christine.

„Weiß er jetzt, wer Tillys Vater ist?“, fragt Lydia.

„Ja. Den Namen musste ich nicht aussprechen. Konnte ich auch nicht, weil ich mich heute noch schäme, dass ich auf den Mistkerl reingefallen bin. Das ist mir heute noch so peinlich. Am liebsten würde ich die Zeit zurückdrehen. Aber das geht ja leider nicht. Olli hat auch gefragt, ob ich weiß, warum du von deinen Eltern nichts wissen willst.“

„Wie kommt er denn darauf?“, fragt Lydia erstaunt.

„Das kam so spontan im Gespräch. Auch Juttas Mutter war ein Thema“, sagt Christine, damit Lydia nicht denkt, sie hätten nur über sie gesprochen.

„Mir wäre es lieber, wenn du ihm alles erzählst“, sagt Lydia. „Es ist vielleicht besser, wenn er alles weiß. Dann muss ich nicht jedes Mal erschrecken, wenn das Thema auf Max oder meine Eltern kommt. Sonst fange ich auch noch an zu heulen und kann nicht wieder aufhören. Wer sollte mich dann trösten?“

„Okay. Wenn du damit einverstanden bist. Danach können die alten Geschichten hoffentlich ruhen“, sagt Christine. „Weißt du schon, dass am Samstag Juttas Einzugsparty steigt? Ich habe dich einfach mit angemeldet. Dann lernen wir endlich Markus kennen.“

„Und ich sehe mich nur frisch verliebten Paaren gegenüber? Das wird bestimmt eine aufregende Party für mich“, sagt Lydia wehmütig.

„So schlimm wird es schon nicht werden. Du setzt dich einfach zwischen uns. Ich würde am liebsten nur heulen, aber auch vor Glück. Das ist ein ständiges Wechselbad. Olli und ich, wir haben im Unterbewusstsein viel zu viel Angst, dass etwas dazwischen kommt, als dass wir uns jetzt schon mit Haut und Haaren aufeinander einlassen können, denn über uns beiden schwebt drohend Sybille. Ende September will sie erst zurückkommen und dann die Jungs abholen. Mir graut heute schon davor, weil ich nicht weiß, wie ich Olli trösten soll, wenn es so weit ist.“

„Gibt es da einen Trost?“, fragt Lydia und antwortet gleich selbst. „Ich glaube nicht. Ihr könnt nur kämpfen und euch den Kindern gegenüber so wenig wie möglich anmerken lassen. Ich kann aber nur gute Ratschläge geben. Ausbaden müsst ihr das ganz alleine.“

„Ach, Lydia. Warum muss immer alles so kompliziert sein?“

„Vielleicht, weil das Leben sonst langweilig wäre und ich nicht wüsste, was ich schreiben soll“, grinst sie.

„Bist du eigentlich glücklich?“, fragt Christine.

Lydia sieht sie erstaunt an und denkt nach.

„Ich weiß nicht. Wenn ich ein Buch fertig habe, bin ich sehr zufrieden mit mir, und wenn ich hier sein kann, dann fühle ich mich besser als allein zu Hause. Ansonsten, na ja, ich habe noch nicht darüber nachgedacht.“

„Willst du auch mit hier einziehen? Sybille hat doch gesagt, wir sollen eine Kommune gründen“, schlägt Christine vor und beide brechen in ein herzhaftes Gelächter aus.

Nach einer Weile sieht Christine Lydia ernst an.

„Darf ich dich etwas sehr Persönliches fragen?“

„Ja“, sagt Lydia vorsichtig. Sie wird hellhörig und befürchtet etwas Unangenehmes. „Du kannst mich alles fragen. Ob ich dir jedoch auf alles eine Antwort gebe, überlege ich mir noch.“

„Tut es dir eigentlich weh, wenn du mit Tilly zusammen bist? Ich habe mich das schon so oft gefragt.“

Lydia sieht nachdenklich vor sich hin. Sie schluckt. Es fällt ihr schwer, die richtigen Worte zu finden.

„Ganz am Anfang, als sie geboren wurde, da hat es mir oft einen Stich versetzt, wenn ich sie bloß angesehen habe. Aber auch, weil du mir so leid getan hast. Als du mich dann gefragt hast, ob ich ihre Patentante werden will, dachte ich mir, dass das vielleicht eine ganz gute Idee ist. Du weißt doch – geteiltes Leid ist halbes Leid. Aber in der Zwischenzeit liebe ich sie. Ich kann mir nur nicht vorstellen, wie so ein liebes Mädchen von so einem A....., du weißt schon, abstammen kann. Bist du dir wirklich sicher, dass sie von dem ist? Sie würde besser zu Olli passen. Sieh mich nicht so an, du wolltest eine ehrliche Antwort.“

„Ist schon gut. Ich bin sehr froh, dass ich jetzt weiß, wie du darüber denkst. Wenn es auch weh tut, aber ich glaube, es wurde langsam Zeit, dass wir uns alle mal aussprechen.“

„Wir sehen uns also am Samstag bei Jutta?“, fragt Lydia, um das unangenehme Thema zu beenden.

„Ja, aber ohne Kinder.“

„Schade“, sagt Lydia. „Ich hätte Ollis Jungs gern mal wiedergesehen.“

„Dann komm doch abends mal her. Die Kleinen sind so süß. Daniel freut sich, dass sie mit ihm Fußball spielen. Obwohl Bertram der Ball bis zu den Knien reicht und er mehr darüber stolpert. Daniel ist sehr geduldig mit ihm. Bei uns ist jetzt ganz schön Stimmung.“

„Okay. Ich komme morgen und bringe Wein mit.“

„Das wird alle freuen“, sagt Christine.

Christine hat sich vorgenommen, Olli bald zu erzählen, warum Lydia mit ihren Eltern kaum noch Kontakt hat. Sie wollte nur ihr Einverständnis abwarten.

Sie ist der Meinung, dass er alles wissen sollte, damit in Zukunft erst gar keine Missverständnisse aufkommen können.

Als er aus der Agentur kommt, spricht sie ihn gleich darauf an. „Lydia hat mich gebeten, dir etwas zu erzählen.“

„Da bin ich aber gespannt, was noch so alles ans Tageslicht kommt. Aber lass mich doch erst einmal reinkommen.“

Er gibt ihr einen Kuss und schwingt sich auf die Hollywoodschaukel.

„Ich würde es gern hinter mich bringen“, sagt sie aufgeregt und setzt sich zu ihm. „Du wolltest doch wissen, warum Lydia nicht gut auf ihre Eltern zu sprechen ist?“

„Du weißt das wohl?“, fragt er erstaunt.

„Ja. Das habe ich aber auch erst später erfahren. Als ich damals so glücklich vom Zelten nach Hause kam, habe ich Lydia natürlich gleich alles brühwarm erzählt. Ich bin übergeschäumt vor Glück und habe mich gewundert, weil sie anfing zu heulen. Es hat lange gedauert, bevor sie mir dafür eine Erklärung geben konnte. Ich staunte nicht schlecht, als sie mich vor Max warnte. Erst dachte ich, sie wäre bloß eifersüchtig. Dass das nicht so war, habe ich gewusst, nachdem sie mir die ganze Geschichte erzählt hat.

Bereits in der zehnten Klasse hat er ihr so den Kopf verdreht, dass sie sich auf ihn eingelassen hat. Er hat sie überredet, sich nur heimlich mit ihm zu treffen. Deshalb haben wir das nicht gewusst. Sie war doch erst sechzehn, ich wenigstens schon zweiundzwanzig. Für sie muss das alles noch viel schlimmer gewesen sein. Als er erreicht hatte, was er wollte, hat er sie einfach fallen gelassen. Sie war auch schwanger von ihm.“

„Das glaube ich nicht“, unterbricht Olli Christine bestürzt. „Das ist doch furchtbar und muss schrecklich für sie gewesen sein. Warum hat sie uns nichts gesagt?“

„Weil sie vor Entsetzen wie gelähmt war. Sie musste es ihren Eltern sagen, und die haben sie mit Blinddarmentzündung in der Schule entschuldigt.“

„Daran erinnere ich mich noch. Wir durften sie nicht einmal besuchen. Sie sah lange aus wie der Tod auf Latschen und war nicht mehr die Lydia, die wir kannten.“

„Ich kann mir nur ungefähr vorstellen, was sie durchgemacht hat. Es muss die Hölle für sie gewesen sein. Ihre Eltern haben sie zu einer Abtreibung gezwungen. Im Krankenhaus hat ein Arzt ihr zwar gesagt, dass etwas nicht in Ordnung wäre und sie die Schwangerschaft hätten sowieso unterbrechen müssen. Das hat sie ihm aber nicht geglaubt. Als sie mir das damals unter Tränen erzählt hat, war sie erleichtert. Es tat ihr weh, dass sie nie darüber sprechen durfte. Ich war schockiert, weil ich mir zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen konnte, dass mir das auch mit Max passieren würde. Nicht nach der schönen Zeit, die wir hatten. Die Realität hat mich aber gleich in den nächsten Tagen eingeholt. Lydia war für mich da und das Wissen um ihr Leid hat mich irgendwie ein bisschen getröstet. Sie konnte nicht nachvollziehen, dass ich dieses Baby behalten will, hat es aber akzeptiert.“

„Wie können Eltern ihrer Tochter so etwas antun? Das haut mich um“, sagt Olli schockiert. „Und Max hätte mit Nachnamen statt Schöne besser Aal-Glatt oder Moral-Schwein heißen sollen. Dann wäre jeder vor ihm gewarnt. Na, ich freue mich schon aufs Klassentreffen. Der wird mir nicht ungeschoren davonkommen.“

„Das bringt doch jetzt nichts mehr. Sicher wird er alles abstreiten und uns auslachen. Es reicht schon, dass wir uns damit rumquälen müssen. Nun weißt du auch, dass es besser ist, in unserer Nähe nicht unbedingt vom schönen Max zu sprechen.“

Olli sieht sie voller Mitleid an und zieht sie in seine Arme. Christine fühlt sich sehr wohl darin.

Warum konnte ich das früher nicht genießen?“, fragt sie sich.

Nun erinnert sie sich auch, dass er einen Termin wegen der Scheidung hatte.

„Warst du heute beim Anwalt?“

„Ja. Er bereitet alles vor und wird sogar das alleinige Sorgerecht zu meinen Gunsten beantragen. Es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass ich als Vater das bekommen kann. Wir müssen nur kämpfen und von Anfang an schwere Geschütze auffahren. Und Zeugen brauche ich. Aber da habe ich ja schon ein paar.“

„Wenn doch alles erst vorbei wäre. Die Ungewissheit macht mich ganz krank“, sagt Christine.

„Am Samstag feiern wir bei Jutta eine Party“, sagt er, um sie auf andere Gedanken zu bringen. „Es ist ein gutes Gefühl, dass ich endlich alles gemeinsam mit dir machen und dich überall als meine Freundin vorstellen kann.“ Er sieht Christine glücklich an. „Du wirst sehen, es wird alles gut. Und mein größter Wunsch geht auch bald in Erfüllung.“

„Du hast einen großen Wunsch?“

„Eigentlich zwei. Ich wünsche mir, dass du endlich meine Frau bist und ich mit dir alt werden darf.“

Christine sieht ihn glücklich an.

„Das möchte ich auch mit dir“, sagt sie und küsst ihn zärtlich.

Am Abend fahren Olli und Christine einkaufen. Mit der Zeit ist ihnen bewusst geworden, dass sie wirklich zusammen sind. Sie sehen sich immerzu glücklich an. Olli kann es nicht lassen und neckt Christine. Sie kichert wie ein junges Mädchen.

Als sie an der Kasse stehen, rollt hinter ihnen ein Einkaufswagen heran.

„Ach, sieh mal einer an. Da würde ich gern wissen, was Ihre zukünftige Frau Lydia dazu sagt?“, sagt Herr Schulze und tippt Olli unsanft an.

Olli erinnert sich sofort an die Szene, als er Lydia vor dem retten musste. Bevor er überhaupt etwas antworten kann, sagt Frau Schulze zu ihrem Hansi: „Die feine Frau Bach ist doch kein bisschen besser als der da. Die stellt dir überall nach und lässt dich einfach nicht in Ruhe. Die haben sich beide verdient.“

Christine ist entsetzt und sieht Olli fragend an.

Deshalb sagt Herr Schulze zu ihr: „Das haben Sie wohl nicht gewusst, dass der bald heiratet.“ Und nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Aber nicht Sie.“

„Darf ich vorstellen“, klärt Olli Christine auf. „Das ist der Herr Schulze von Tillys Klassenfahrt.“

Christine geht ein Licht auf und sie erinnert sich, dass Lydia sich über dessen Belästigungen beschwert hatte.

„Ach deeer Herr Schulze, der Lydia .....“, sagt sie geheimnisvoll und spricht leise zu Olli, damit es Schulzes nicht verstehen können. Sie macht einen wissenden Gesichtsausdruck und sieht mitleidig zu Frau Schulze.

Hansi wird feuerrot und schiebt seinen Einkaufswagen samt Ehefrau zu der nächsten Kasse.

Olli und Christine verlassen lachend den Supermarkt.

„Ich dachte, mir bleibt das Herz stehen“, sagt sie auf der Heimfahrt. „Konfrontiere mich nie wieder mit solchen Menschen. Auch nicht zum Spaß, sonst kann ich für nichts garantieren. Lydia wird sich freuen, wenn wir ihr das erzählen. Sie kommt übrigens morgen Abend mal vorbei, aber mehr wegen der Kinder.“

Olli sieht sie erstaunt an.

„Das geht schon in Ordnung. Nun lass dir nicht ständig anmerken, dass du ihr Geheimnis kennst. Sie möchte, dass wir normal mit ihr umgehen. Wenn sie darüber sprechen will, wird sie es uns wissen lassen.“

Alles wird gut ...

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