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Polarlicht ganz anders

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Am dritten Tag der Reise, von der ich fast mein ganzes Leben lang geträumt hatte, war ich kurz davor, über Bord zu springen.


Man musste sich sehr nah sein, um in so einer Kabine die gemeinsame Zeit gut überleben zu können.

Wir hatten uns gemeinsam für die kleine Innenkabine entschieden, weil wir dachten, dass wir dort nur schlafen und den Rest des Tages anderweitig verbringen würden. Aber als ich die Kabine zum ersten Mal sah, stockte mir kurz der Atem – denn sie war entsetzlich klein. Wenn man die Tür öffnete, erblickte man ein an der Wand festgeschraubtes Bett und gegenüber ein schmales Sofa, das ebenfalls zum Schlafen umgebaut werden konnte. Darüber befanden sich zwei weiße Regalbretter. Hinter der Tür versteckten sich ein winziger Kleiderschrank und ein halbmondförmiges Tischchen mit einem Stuhl, das ebenfalls an der Wand verschraubt war. Das war alles. Erst, als ich überlegte, wo wohl das Badezimmer sein könnte, fiel mir eine schmale Tür zwischen Sofa und Tisch auf. Vorsichtig öffnete ich sie. Dusche, Toilette, Waschbecken, alles drin. Man musste sich sehr nah sein, um in so einer Kabine die gemeinsame Zeit gut überleben zu können.

Schon als wir unsere Reisetaschen hineingeschleppt hatten, konnten wir uns kaum noch bewegen. Marks Laune sank in den Keller und kam fortan auch nicht mehr nach oben zurück.

Ich machte gute Miene, öffnete das Fläschchen Sekt, das zur Begrüßung für uns bereitstand, und goss ihm ein Glas ein. Mit langem Gesicht süffelte er auf der Couch sitzend vor sich hin, während ich unsere Sachen in den Schrank stopfte.

Danach wollte ich das Schiff erkunden und hoffte, dass das seine Laune heben würde. Doch als wir auf einem der großen Decks ankamen, wurden wir gleich von einem Reiseleiter, zu dem eher der Ausdruck Animateur passte, in Beschlag genommen. Er trieb die Horde der Reisenden, die er bis dahin in die Finger bekommen hatte, vor sich her wie eine Herde Schafe. Es war zwar hilfreich, um sich schnell auf dem Schiff zurechtzufinden, aber die ständigen Witzchen des Animateurs und der schon etwas angeschickerten Senioren, die den Großteil der Passagiere ausmachten, verschlimmerten Marks Laune leider noch mehr.

Es war eisig kalt, doch wir hatten aus zwei Gründen entschieden, diese Reise in die Wintermonate zu verlegen: Erstens war es wesentlich günstiger und zweitens hatte man nur so die Chance, vielleicht Polarlichter sehen zu können.

Vorsichtig blickte ich mich um, wo Mark abgeblieben war. Er stand so weit wie möglich von allen anderen entfernt allein an der Reling und starrte ins Wasser.

Der Animateur verteilte gerade blau schimmernde Begrüßungsdrinks, und das war ein guter Zeitpunkt, um sich zu verdrücken. Rasch ging ich zu Mark, nahm ihn an der Hand und zog ihn weg. Als wir eine wunderschöne Ecke erreicht hatten, in der ein paar sehr bequeme Stühle vor riesigen Panoramafenstern standen, drückte ich ihn in einen hinein und setzte mich auf seinen Schoß.

Endlich gelang es mir, ihn ein wenig zu versöhnen, doch schon beim Abendessen lief es wieder gar nicht gut. Wir saßen mit zwei schrecklich anstrengenden älteren Damen am Tisch, die sich entweder zankten, oder uns mit einem solchen Wortschwall überhäuften, dass ich das Gefühl hatte, als würden riesige Mengen Buchstaben auf uns herabregnen.

So schnell wie möglich verließen wir den Speisesaal wieder. Ich nahm mir vor, gleich am nächsten Morgen nach einem anderen Tisch zu fragen, auch wenn mir das ein wenig peinlich war. Wir gingen in die Bar, da der Gedanke an die Kabine auch nicht gerade verlockend war, und es dauerte nicht lange, bis Mark ziemlich angetrunken war. In der Kabine fiel er dann schnarchend in den Tiefschlaf, während ich noch eine ganze Weile mit dem Ausklappsofa kämpfte. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.

Am nächsten Morgen erwachte ich sehr früh, zog mich leise an und ging hinauf ans Deck. Was für ein Ausblick! Das Wetter war herrlich, frische eiskalte Luft füllte meine Lungen, und um mich herum reckten sich die schneebedeckten Berge in den samtschwarzen Himmel. Wir passierten gerade einen kleinen Fjord, in dem sich eine Handvoll Häuschen an die weißen Hänge kuschelten. Einige Lichter strahlten in warmem Orange und verliehen der Szene etwas Magisches. Ich kam mir vor wie in einer Märchenwelt.

Kurze Zeit später landeten wir in einem kleinen Hafen, und ich bewunderte mit einigen anderen Passagieren das geschickte Anlegemanöver. Als ich Hunger bekam, ging ich Mark wecken, der einen ziemlich ausgeprägten Kater hatte. Zumindest konnten wir uns darüber freuen, dass unsere Tischgesellschaft offensichtlich schon gefrühstückt hatte. Das Schiff legte an, und wir gingen von Bord. Wir wanderten durch die schneebedeckten Straßen einer kleinen, typisch norwegischen Stadt, und ich schöpfte Hoffnung, dass doch noch alles gut werden könnte, als ich sah, wie begeistert Mark fotografierte.

Doch als wir uns später in der Kabine für das Abendessen umzogen und uns dabei ständig in die Quere kamen, bekamen wir einen handfesten Streit. Mark neigte dazu, alles infrage zu stellen, obwohl wir nun seit mehr als zehn Jahren zusammen waren. Das verletzt mich sehr.

Beim Abendessen schwiegen wir uns an, und mir war sogar egal, was unsere Tischdamen davon hielten. Den Rest des Abends verbrachte ich an einem abgelegenen Winkel des Schiffes an Deck und Mark vermutlich in einer Bar.

Ich war unendlich traurig und wütend, dass er nicht nach mir gesucht hatte, als ich mich irgendwann auf den Weg zu unserer Kabine machte. Dort angekommen sprang ich rasch unter die Dusche, legte mich ins Bett und versuchte zu schlafen. Irgendwann spät in der Nacht kam Mark laut polternd, ließ sich auf sein Bett fallen und schlief sofort ein.

Der nächste Tag begann in ebenso schlechter Stimmung, und irgendwann wurde es mir zu blöd. Ich beschloss, mir etwas Gutes zu gönnen und buchte einen Ausflug: eine Schlittenhundfahrt. Ich ging in die Kabine, um meine Tasche zu holen und meinen Entschluss Mark mitzuteilen. Er wollte schon anfangen, sich aufzuregen, aber als er meinen Blick sah, traute er sich dann wohl doch nicht, etwas zu sagen, und schwieg stattdessen schmollend vor sich hin.

Ich knallte die Tür hinter mir zu und beschloss, dass ich ab sofort so viel Spaß wie möglich auf dieser Reise haben würde. Im Bus setzte ich mich neben eine Frau in meinem Alter, die allein unterwegs war, und wir unterhielten uns sehr nett. Da es stark schneite, war von der Landschaft nicht viel zu erkennen, und somit sanken auch unsere Chancen Polarlichter zu sehen.

Am Ziel angekommen, empfing uns ein höllischer Lärm. Unzählige Schlittenhunde bellten wie verrückt. Meine Blase drückte, und ich erkundigte mich nach einer Toilette. Als ich wieder bei der Gruppe ankam, waren schon alle auf Schlitten verteilt: jeweils zwei Passagiere, dick eingemummelt in warme Felle, und je ein Guide.

Leider konnte ich Anna, die im Bus neben mir gesessen hatte, nirgendwo entdecken, dafür winkte mir ein bärtiger Mann zu und zeigte auf seinen Schlitten. Die anderen fuhren bereits los, also beeilte ich mich. Als ich mich gesetzt hatte und er eine Decke über mich breitete, konnte ich riechen, dass er eine starke Alkoholfahne hatte. Na bravo.

Schon ging die Fahrt los, und sobald die Hunde in Schwung waren, sausten wir in höllischem Tempo den anderen hinterher. Es hörte auf zu schneien, und kurz danach lichtete sich der Himmel. Er war von einem königlichen Dunkelblau, wie ich es bisher noch nie gesehen hatte. Fasziniert starrte ich nach oben, während der eiskalte Wind mir ins Gesicht schnitt. Links und rechts von uns befand sich dichter, undurchdringlich wirkender Wald. Wir fuhren durch eine breite, tief verschneite Schneise, und ich konnte mich kaum sattsehen an der Weite, die bald vor uns lag.

Und doch war ich auch traurig, dies war eigentlich ein Moment, in dem man sich an einen geliebten Menschen kuscheln sollte.

Mein Guide schrie den Hunden in regelmäßigen Abständen etwas zu, was sowohl aufmunternd als auch schimpfend gemeint sein konnte. Es war mir nicht möglich, das zu unterscheiden. Norwegisch klang in meinen Ohren wie eine Märchensprache.

Ich war so versunken in den Anblick um mich herum, dass ich erst nach einer ganzen Weile merkte, dass ich die anderen Schlitten nicht mehr sehen konnte. Nervös drehte ich mich um, als mein Schlittenhund-Guide gerade einen großen Schluck aus einer kleinen Flasche nahm. Was wäre, wenn er sich jetzt hier in der einsamen Wildnis verfahren hatte und ich nicht rechtzeitig zum Schiff zurückkäme? Ich wurde panisch und gestikulierte wie verrückt in der Hoffnung, er würde verstehen, was ich ihm sagen wollte.

Endlich blickte er zu mir, dann wieder nach vorn und erneut zu mir. Er schrie den Hunden etwas zu, diese wurden langsamer und blieben schließlich stehen. Ich sprang aus dem Schlitten und schrie ihn hysterisch an.

Was für eine beschissene Reise war das denn? Sollte sie hier enden, mit einem betrunkenen Schlittenhund-Guide in dunkler Nacht, mit dem ich mich nicht einmal verständigen konnte?

In gebrochenem Englisch versuchte er mich zu beruhigen, doch ich war am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Ich brüllte ihn an, er solle mir sein Handy geben, aber natürlich hatte er keines dabei.

Tränen quollen aus meinen Augen. Erschöpft ließ ich mich auf den Schlitten fallen und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Hier draußen herrschte absolute Stille, nur ab und an unterbrochen vom Schnauben der Hunde.

Plötzlich stupste mich mein bärtiger Begleiter an der Schulter und ließ sich gleich darauf neben mir auf den Schlitten fallen. Er hielt mir seine kleine Flasche hin, und ich dachte mir: Was soll’s? Nach einem großen Schluck schossen mir gleich wieder Tränen in die Augen, so scharf war das Zeug, das meine Kehle hinunterrann. Er legte seinen Arm um meine Schulter, und ich wollte schon schreien, dass er ja die Pfoten von mir lassen solle, aber er interessierte sich gar nicht für mich, sondern zeigte nach oben in den Himmel. Über uns tanzten dunkelgrüne Polarlichter! Ich kniff meine Augen zusammen, konnte es kaum glauben, doch als ich sie wieder öffnete, waren die Lichter noch da. Was für ein unglaubliches Spektakel! Zum dritten Mal vergoss ich Tränen, doch diesmal vor Freude. Lachend hielt er mir erneut seine Flasche hin, und ich stand auf, prostete dem leuchtenden Himmel zu und nahm einen großen Schluck.

Danach saßen wir einfach schweigend nebeneinander und blickten in den Himmel. So etwas Schönes hatte ich noch nie gesehen, und für eine ganze Weile löschte es alles andere aus meinen Gedanken. Ich war irgendwie eins mit der Natur und spürte in mir ein Glück, das ich nicht in Worte hätte fassen können.

Irgendwann ertönten in der Ferne Geräusche, und ich sah die anderen Schlitten auf uns zukommen. Natürlich war ich erleichtert, die anderen wiederzusehen, doch im ersten Moment war ich auch traurig, dass diese unglaubliche Stille nun durchschnitten wurde.

Der Schnee stob auf, als der erste der anderen Wagen bei uns haltmachte. Stefan, einer der Deutschen, dem die Schlittenhund-Station gehörte, fragte mich, ob alles in Ordnung sei und entschuldigte sich bei mir. Mein Guide war wohl dafür bekannt, dass er immer wieder eigenmächtig andere Wege fuhr, doch ich war so selig, dass ich einfach nur abwinkte.

Auf dem Rückweg zum Schiff herrschte aufgeregtes Geplapper. Alle waren überglücklich, die Polarlichter gesehen zu haben. Still saß ich ganz hinten und spürte diesem Erlebnis nach. Ich hatte meinen Guide beim Abschied stürmisch in die Arme genommen und mich bei ihm bedankt. Ich fühlte mich, als hätte dieses Erlebnis ein wertvolles Gefäß in mir angefüllt. Mir war ein wenig bange davor, was mich wohl erwarten würde, wenn ich wieder auf Mark traf. Ich war erstaunt zu sehen, dass er vor dem Schiff auf und ab lief, als wir ankamen. Kaum war ich aus dem Bus ausgestiegen, rannte er auf mich zu und nahm mich in die Arme. Er entschuldigte sich mehrmals und sah richtig zerknirscht aus. Dann zog er mich aufgeregt aufs Schiff und meinte, er hätte eine Überraschung. Neugierig ließ ich mich von ihm durch die Gänge führen, und schließlich sperrte er stolz eine andere Kabine auf. Eigentlich konnte man schon Suite dazu sagen. Es war fantastisch! Geräumig, mit einem riesigen Doppelbett vor einer Panoramafensterwand und davor wiederum ein gemütlicher Balkon mit Liegestühlen. Ein Traum!

Mark hatte umgebucht, und dies wäre für den Rest der Reise unsere Kabine, ich konnte es kaum fassen!

Wie es dazu kam, erfuhr ich einige Stunden später, als ich bei einem kurzen Spaziergang die beiden Damen traf, mit denen wir unseren Tisch teilten. Sie hatten Mark während des Mittagessens in die Zange genommen, sodass sein schlechtes Gewissen schließlich überhandnahm. Also hatte er sich überlegt, womit er mir eine Freude machen konnte. Und sich auch.

Ich erfuhr nie, was die Damen ihm erzählt oder an den Kopf geworfen hatten, aber selbst bei der Polarkreistaufe am nächsten Tag spielte er mit. Bei diesem besonderen Ereignis, wenn man den Polarkreis kreuzt, tanzt ein als Neptun verkleideter Mann über Bord, und die Taufe besteht darin, dass jeder Passagier eine Kelle Eiswürfel in den Ausschnitt bekommt. Nicht eben angenehm bei den Temperaturen. Danach umarmten wir uns fest. Und während wir an der großen Weltkugel, die den Polarkreis markiert, vorbeifuhren, lief uns das eiskalte Wasser den Rücken herunter und wurde langsam warm.

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