Читать книгу Urlaubstrauma - Heike Abidi - Страница 17
Auf ins idyllische Allgäu
Оглавление»Was ist das denn für ein Monstrum?«, stieß Gisela erschrocken hervor. Ein dicker Reisebus bog auf den Parkplatz ein. »So ein Riesending für uns paar Leute?«
Gisela war enttäuscht. Zu dem zweitägigen Betriebsausflug des Forschungsinstituts ins idyllische Allgäu, wie es ihre bunt verzierte Einladung versprach, hatten sich leider nur 21 Kolleginnen und Kollegen angemeldet. Dabei hatten Gisela und Professor Lehmann, inzwischen pensionierter Biologieprofessor, gehofft, dass ihre Idee mehr Anklang finden würde. Trotzdem wollte Gisela sich die Laune nicht verderben lassen. Das Programm war gut durchorganisiert, und bestimmt war für jeden Teilnehmer etwas Nettes dabei. Da war sie sich hundert Prozent sicher. Und die Sache mit dem Bus würde sich auch gleich klären.
»Idyllisches Allgäu?«, fragte das kleine schmächtige Männchen, das dem Busmonster entstieg und sich mit Namen Fischer vorstellte.
»Ja …, aber der Bus ist doch viel zu groß für uns. Wie viele Plätze hat der denn?«, fragte Professor Lehmann, der sich neben Gisela nach vorn schob. Sein Rollkoffer ruckelte über den Kies des Parkplatzes.
»55«, war Herrn Fischers knappe Antwort. »Also genügend Platz zum Liegen und Schlafen.«
»Das soll wohl ein Witz sein«, warf Gisela ärgerlich ein. »Ich hatte extra um einen kleinen Bus gebeten. Wird doch sonst viel zu teuer.«
»Der kleine Bus hat einen Motorschaden und steht in der Werkstatt«, entgegnete Herr Fischer leicht säuerlich. »Das hier ist der Ersatzbus, ohne Zusatzkosten. Mehr kann ich Ihnen nicht anbieten.«
»Und Sie sind der Aushilfsfahrer, wenn ich das richtig sehe«, meinte Professor Lehmann.
Herr Fischer grinste. »Genau. Aber wir werden die Gesellschaft schon ins idyllische Allgäu schaukeln. Machen Sie sich mal keine Sorgen.«
»Der hat gut reden«, murmelte Gisela beim Einsteigen. So hatte sie sich den Ausflug jedenfalls nicht vorgestellt. Das Sonnenberg-Hotel, das sie gebucht hatte, lag ziemlich weit oben. Wie wollte Herr Fischer mit diesem Monsterbus nur die Berge hinaufkommen? Doch Zeit zum Überlegen blieb nicht.
»Auf ins idyllische Allgäu«, rief Professor Lehmann. Die Gruppe machte es sich auf den breiten Sitzen bequem und legte die Beine hoch. Gisela und ihre Laborkolleginnen Silke und Tamara spielten Stewardessen und servierten das Bordfrühstück, Butterbrezeln, Croissants, belegte Brote und Kaffee aus der Thermoskanne. Die Stimmung im Bus war ausgezeichnet.
Bis zu dem Zeitpunkt, als Professor Lehmann sich irgendwo hinter Oberstdorf zu Wort meldete: »Ich glaube, hier sind wir falsch. Da geht’s nicht zu unserem Hotel, das weiß ich genau. Wir hätten weiter unten links abbiegen müssen.«
»Aber das Navi sagt, dass wir hier genau richtig sind«, verteidigte Herr Fischer sich und die Bordtechnik des Busses.
»Was haben Sie denn als Ziel eingegeben?«, wollte Werner wissen. »Ich bin im Institut nämlich für die Software-Programmierung zuständig und weiß aus Erfahrung, dass dabei so einiges schiefgehen kann.«
»Diesem neumodischen Zeug vertraue ich nicht.« Professor Lehmann winkte ab und zückte eine alte Straßenkarte, die bereits ziemlich mitgenommen aussah. »Meine Geheimwaffe«, fügte er schmunzelnd hinzu.
»Wenn möglich, bitte wenden«, tönte nun eine Frauenstimme aus dem Navigationsgerät.
»Sag ich doch«, bestätigte Werner und klopfte sich anerkennend auf die Oberschenkel. »Das Ding spinnt. Hat hier oben wahrscheinlich keine GPS-Verbindung. Oder es ist ein Softwarefehler. So was kenne ich zur Genüge.«
Der Reisebus näherte sich langsam dem Ende der Straße, die in einen steil ansteigenden Feldweg mündete, umgeben von sattgrünen Wiesen mit glockenbimmelnden Kühen und ein paar in der Berglandschaft versprengten Bauernhäusern.
»Wirklich sehr idyllisch, dieses Allgäu«, kommentierte Silke mit säuerlichem Gesicht. Kurz wallte Gelächter durch den Bus, dann wurden alle ziemlich still.
»Und jetzt?«, fragte Gisela. Selbst der allwissende Werner schien mit seinem Latein am Ende zu sein.
»Na, dann wende ich eben«, erklärte Herr Fischer mutig, wobei Gisela völlig schleierhaft war, wie er das auf dem engen Schotterweg anstellen wollte. Links neben ihnen ging es steil bergab, und die Leitplanke machte keinen besonders stabilen Eindruck.
In kunterbunter Abfolge redeten nun die Kollegen auf den Busfahrer ein:
»Der Bus hat bestimmt Servolenkung, oder?«
»Am besten fahren Sie rückwärts den Berg wieder runter.«
Herr Fischer wurde ganz grün im Gesicht, nach wenigen Minuten standen dicke Schweißtropfen auf seiner hohen Stirn. Fast tat er Gisela ein wenig leid. Aber nur fast. Schließlich hatte sie einen kleinen Bus und kein solches Monstrum bestellt. Sollte er doch sehen, wie er das Riesending wieder den Berg hinunterbekam.
Rückwärtsfahren schien am Ende die einzige Option zu sein. Eine Wendemöglichkeit fand Herr Fischer nicht. Also zuckelte der Bus in Schrittgeschwindigkeit die schmale Bergstraße hinab. Die 21 Kollegen verrenkten sich die Hälse.
Die sonst so gemütliche Tamara, die selbst der größte Stress nicht aus der Ruhe brachte, war blass um die Nase geworden. »Wenn wir nun abstürzen?«, jammerte sie.
»Am besten steigen alle aus«, verkündete Herr Fischer im selben Augenblick und trat auf die Bremse.
Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Der Bus setzte seine Rückwärtsfahrt fort, und alle marschierten hinterher. Professor Lehmann in seinen dicken Wanderstiefeln, mit Hut und Spazierstock bewaffnet, vorneweg. Von rechts näherten sich braun-weiß-gefleckte Kühe dem elektrischen Weidezaun und beäugten den Bus und die Wandergruppe kauend. So etwas war den Tieren hier oben auf ihrer Weide wohl noch nicht untergekommen.
Endlich wurde die Straße wieder breiter, und Herr Fischer versuchte ein Wendemanöver. Natürlich nicht ohne tatkräftige Anleitung von mindestens acht der Kollegen.
»Noch ein Stückchen zurück.«
»Nein, mehr nach rechts.«
»Halt! Jetzt wieder in die andere Richtung einschlagen.«
»Mann, drehen Sie doch am Lenkrad. So was lernt man schon in der Fahrschule.«
Herr Fischer kurbelte hierhin und kurbelte dorthin und schwitzte noch viel mehr. Einen halben Meter vor, zwanzig Zentimeter wieder zurück. Rechts, links, nein, doch geradeaus. Gisela wurde vom Zugucken ganz schwindlig im Kopf. Dann hatte Herr Fischer es beinahe geschafft, nur noch eine halbe Drehung des Lenkrades. Gisela atmete schon aus vor Erleichterung … Da ging ein kräftiger Ruck durch den Bus, und es gab einen lauten Knall. Der Bus hatte mit der rechten Seite einen Metallpfosten gerammt und ihn aus der Verankerung gerissen. Die Seitenwand des Busses war aufgeschlitzt, genau da, wo sich die Toilette befand.
»Haben Sie den Pfosten denn nicht gesehen?«, fauchte Werner den Busfahrer an. »Steht übergroß im Weg, das Ding. Sieht doch ein Blinder.«
Herr Fischer hatte nichts gesehen, aber das war nicht das Schlimmste. Als sie wieder eingestiegen waren, machte sich ein unangenehmer Geruch im Bus breit.
»Ach herrje, Eau de Toilette«, rief Tamara und verzog das Gesicht.
»Das hat uns gerade noch gefehlt«, entgegnete Gisela. Dieser Ausflug schien wirklich unter keinem guten Stern zu stehen.
Zehn Minuten später war der Bus endlich auf dem richtigen Weg, und sie erreichten das Hotel Sonnenberg. Nachdem sie die gebuchten Zimmer bezogen und ein deftiges Mittagessen eingenommen hatten, pochte Gisela auf den nächsten Programmpunkt, nämlich die Wanderung zum Gaisalpsee.
»Der See liegt total idyllisch«, verkündete sie stolz. »Das wird euch bestimmt gefallen, ihr werdet sehen.«
»Wie lange dauert die Wanderung denn?«, fragte Silke mit besorgter Miene. Auch ein paar andere murrten. Sie schienen wohl zur Fraktion der Fußkranken zu gehören.
»Nur ein gutes Stündchen«, erklärte Professor Lehmann. »Und lauter befestigte Wege, also auch für Ungeübte geeignet. Ich kenn mich prima aus in den Allgäuer Bergen. Schließlich verbringe ich seit Jahren jeden Urlaub hier oben.«
Sofort übernahm Professor Lehmann wieder die Führung der Gruppe. Mit Wanderstiefeln, Spazierstock und Karte marschierte er voran. Der Rest der Kollegen folgte ihm im Gänsemarsch den Berg hinauf, begleitet von bimmelnden Kuhglocken und einem plätschernden Bergbach.
Aber schnell war es wieder mit der Idylle vorbei.
»Von wegen ein Stündchen, dass ich nicht lache«, beklagte sich Tamara, nachdem sie beinahe zwei Stunden durch die Berglandschaft gestapft waren und der Gaisalpsee immer noch nicht in Sichtweite gekommen war.
»Genau, Herr Professor. Wann sind wir denn nun endlich bei diesem ach so idyllischen See?«, pflichtete Silke ihr bei. »Mir tun die Füße weh, und ich habe Hunger.«
»Können wir hier nirgends einkehren? Schauen Sie doch mal in Ihrer klugen Karte nach«, sagte Werner. Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt.
»Ich verstehe das nicht«, gab der Professor zerknirscht zu und stierte auf seine Karte. »Das letzte Mal war ich vom Hotel aus in einer knappen Stunde am Gaisalpsee. Aber diesen Weg kenne ich gar nicht.«
»Wahrscheinlich hätten wir irgendwo weiter unten links abbiegen müssen«, sagte Tamara und lächelte gequält. Den anderen war das Lachen allerdings gründlich vergangen.
Ich wollte eine lockere Bergwanderung machen und kein Überlebenstraining in der Wildnis.
Werner war stocksauer: »Ihr Orientierungssinn in allen Ehren, Herr Professor. Ich wollte eine lockere Bergwanderung machen und kein Überlebenstraining in der Wildnis. Da ist mir mein Navi mit GPS jedenfalls tausendmal lieber als Ihre uralte Wanderkarte.«
Werner nahm Professor Lehmann die Karte einfach aus der Hand. »Jetzt brauchen wir einen Experten. Lassen Sie mich mal ran. Kann doch nicht so schwer sein, diesen verflixten Geißensee zu finden.«
»Gaisalpsee«, berichtigte Gisela.
»Wie auch immer.« Werner deutete nach rechts auf einen schmalen Pfad, der in den Wald hineinführte. »Ist doch alles sonnenklar. Wir müssen da lang. Mir nach.«
Also marschierten sie weiter, nur dieses Mal lief Werner vorneweg. Wie eine Herde Schafe folgten sie ihrem Leitwolf den Berg hinauf.
Zehn Minuten später kam die nächste Überraschung. Der Weg endete einfach im Nichts. Auf einer Lichtung standen sie plötzlich knöcheltief im Wasser, allerdings nicht im Wasser des Gaisalpsees. Von dem war immer noch weit und breit keine Spur, nicht mal ein winziges Hinweisschild.
»Meine Füße sind klatschnass«, beklagte sich Tamara.
Silke setzte sich auf einen Felsen am Rande der Lichtung. »Ich kann nicht mehr laufen, keinen Schritt«, verkündete sie trotzig.
Wie ihr ging es auch den meisten anderen. Ratlosigkeit machte sich breit. Und Wut. Professor Lehmann, Werner und Gisela standen mit betroffenen Gesichtern mittendrin.
»In zwei Stunden wird es dunkel«, gab jemand zu bedenken.
»Ich wollte eigentlich nicht unter freiem Himmel übernachten.«
»Gibt es hier oben nicht Wölfe?«, fiel Tamara plötzlich ein.
»Oder Luchse?«, wagte jemand anderes zu sagen.
Gisela schauderte vor Entsetzen.
»Verschollen in den Bergen, im 21. Jahrhundert. Unglaublich!«, klagte Silke.
»Hör auf mit dem Mist«, schimpfte Werner. »Wir müssen zurück. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig.«
Also stiefelten alle Mann den Weg wieder hinunter, den sie vor einer halben Stunde heraufgekommen waren. Niemand in der Gruppe sagte etwas. Nur ihr lautes Schnaufen, das Rauschen des Waldes und das Vogelgezwitscher waren zu hören. Doch auf einmal kam noch ein weiteres Geräusch dazu, zuerst ganz schwach, dann immer lauter. Das Brummen eines Motors.
»Hier kommt doch nicht etwa ein Linienbus vorbei?« Gisela blieb zweifelnd stehen und lauschte.
»Hier oben doch nicht«, meinte Professor Lehmann. »Hier gibt’s ja gar keine richtige Straße.«
Aber das tuckernde Geräusch wurde immer lauter. Auf dem Waldweg kam ein Traktor mit Anhänger auf sie zu. Sie stellten sich dem Bauern, der auf dem Bock des Traktors saß, einfach in den Weg.
»Himmel und Herrgott, habt ihr mich erschreckt«, rief er. Sein Traktor kam stotternd zum Stehen. »Was in aller Welt macht’s ihr denn so weit ab der Zivilisation? Habt’s ihr euch etwa verlaufen?«
Abwechselnd erzählten Professor Lehmann, Gisela und Werner von ihrem Wanderabenteuer.
Der Bauer lachte über das ganze wettergegerbte Gesicht. »Aber zum Gaisalpsee hätten Sie weiter unten schon nach links abbiegen müssen.«
»Können Sie uns vielleicht helfen?«, fragte Gisela, der beim Anblick des leeren Traktoranhängers eine Idee durch den Kopf schoss. »Ein paar von uns können fast nicht mehr laufen.«
»Wenn Sie wollen, nehm ich Sie mit dem Traktor mit«, gab der Bauer Giselas Hoffnung nach. »Steigen Sie auf. Aber gemütlich ist’s nicht, das sag ich Ihnen gleich.«
Angenehm wurde die Fahrt tatsächlich nicht. Alle quetschten sich auf den engen Anhänger, saßen mehr über- als nebeneinander und holten sich beim Holpern über Stock und Stein einige Schrammen und blaue Flecken.
Aber eine Viertelstunde später erreichten sie endlich wieder eine befestigte Straße. Der Bauer bremste den Traktor ab und deutete mit der rechten Hand in das weite Tal, das vor ihnen lag.
»Schauen Sie nur«, sagte er, und seine Äuglein strahlten. Fasziniert blickte die Gruppe auf das Alpenpanorama unter ihnen. Nasse schmerzende Füße? Hunger oder Durst? Für einen Moment war das alles vergessen. Die Sonne verschwand soeben hinter den hohen Berggipfeln und tauchte die Landschaft in ein sattes Purpur. Die Luft war klar und die Fernsicht atemberaubend.
»Wie idyllisch«, stieß Gisela hervor und alle nickten.