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Stadtrauschen

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Wir waren frei und unabhängig. Wir waren gierig nach Abenteuern und suchten das Paradies. Das ist ja nicht ungewöhnlich mit Anfang zwanzig und beschränkter Lebenserfahrung, schließlich hat man zu der Zeit noch alles vor sich und will, dass das richtige Leben endlich beginnt.

Nach nur zwei Jahren Philosophiestudium hatten meine beste Freundin Karolin und ich vorerst genug von Vorlesungen in stickigen Räumen und nächtelangem Schreiben an Hausarbeiten, und wir beschlossen, die nächsten Sommersemesterferien für einen längeren Auslandstrip zu nutzen. Also buchten wir mal eben einen Flug, besuchten fleißig Spanischkurse, von denen nicht gerade viel hängen blieb, und arbeiteten ein halbes Jahr lang doppelt so viel wie sonst. Schon hatten wir ein bisschen Geld zusammengespart, das uns bei einfacher Lebensführung wohl über ein paar Wochen tragen konnte. Ist ja nicht teuer, Mexiko. Dachten wir.

Nach gefühlt fünf Tagen Flugzeit landeten wir gegen sechs Uhr morgens in Mexico City. In einem Land weit weg, von dem man nicht so einfach zurückkehren kann. Auch nicht, wenn man es schafft, gleich auf dem Flughafen beklaut zu werden. Inklusive Digitalkamera, Kreditkarte und leerem Tagebuch.

»Macht nichts«, tröstete mich Karolin. »Das passiert halt. Wir kommen auch mit meinem Geld zurecht.«

Ich rief trotzdem meine Eltern an und bat sie, meine Karte sperren zu lassen und etwas von meinem Konto auf das von Karolin zu überweisen. Sie redeten zwar auf mich ein, dass sie ja gleich gesagt hätten, Mexiko sei gefährlich, und das wäre wieder typisch für mich, war ja nicht das erste Mal, nur half uns das nicht weiter. Übermüdet, nach Schweiß stinkend und frisch beklaut ist man ohnehin nicht so richtig gut drauf.

Wir beschlossen trotzdem, uns diese Leichtigkeit, die wir eigentlich suchten, weshalb wir überhaupt hatten reisen wollen, nicht ruinieren zu lassen, und liefen vom Flughafengebäude zur Metro-Station. Denn Taxis in Mexico City sind zwar nicht teuer, aber immer noch teurer als die U-Bahn. Allerdings ist die gegen sieben Uhr morgens zum Bersten gefüllt, überall Menschen, und manche, vorwiegend Männer, grabschen einem auch gern mal an den Hintern oder wühlen, während man eingequetscht zwischen lauter Fremden steht und nichts mehr mitbekommt, in anderer Leute Handtaschen herum. Außer in meiner natürlich, die war ja schon weg. Erst, als wir endlich unsere Zielstation erreichten, bemerkten wir, dass es auf dieser Linie auch U-Bahn-Waggons gab, die nur Frauen und Kindern vorbehalten waren.

»Das System könnte man in Berlin auch mal einführen«, meinte ich zu Karolin.

»Ich finde, man sollte eher die Grabscher in ein Abteil sperren. Die hätten bestimmt ’ne Menge Spaß miteinander.«

Noch müder, noch verschwitzter, aber zum Glück nicht noch mal beklaut, verließen wir die Metro-Station und landeten auf einer breiten, dicht befahrenen Straße im Sonnenschein bei etwa dreißig Grad. Und das mit vollgepacktem Trekkingrucksack auf dem Rücken. Meckern half uns aber auch nicht weiter, also stiefelten wir Richtung Hostel. Die Zona Rosa, hatten wir im Reiseführer gelesen, war zwar ein bisschen sehr touristisch, doch konnte man dort abends gut weggehen. Und weggehen, das hatten wir uns, um Geld zu sparen, das gesamte letzte halbe Jahr nicht gegönnt.


Die Kühlschranktür schlossen wir gleich wieder, nachdem wir sie kurz geöffnet hatten. Offenbar wurde darin der Biomüll gelagert.

Kurz nachdem wir im Hostel angekommen waren, sahen wir allerdings ein, dass wir vielleicht nicht unbedingt das billigste hätten nehmen sollen. Sechs-Personen-Schlafräume mit jeweils einem winzigen Bad, in dem sich die Kakerlaken vergnügten, in der Küche ebenfalls, falls man den für so viele Personen viel zu kleinen Raum mit den schmuddeligen Schränken überhaupt als solche bezeichnen konnte. Die Kühlschranktür schlossen wir gleich wieder, nachdem wir sie kurz geöffnet hatten. Offenbar wurde darin der Biomüll gelagert.

»Wir wollten ja eh die einheimische Kulinarik testen«, bemerkte Karolin achselzuckend. »Wofür brauchen wir da eine Küche?«

Zum Glück war das Hostel nicht voll, und wir durften unser Zimmer gleich belegen. In zwei Betten schnarchten noch Mädels vor sich hin, also stopften wir unser Gepäck nur in die wackeligen Schließschränke – im Übrigen sehr stolz darauf, dass wir an Sicherheitsschlösser für genau solche Fälle gedacht hatten –, und begaben uns auf den Weg, die Stadt zu erkunden. Trotz Jetlag, vergessener Sonnencreme und akutem Geldmangel.

Wir mussten etwa zwanzig Minuten lang den Reiseführer studieren, bis wir kapierten, dass die Zona Rosa nicht so direkt um die Ecke lag, obwohl die Beschreibung auf der Homepage des Hostels Gegenteiliges versprochen hatte. Diese Feststellung trübte unseren Abenteuerwillen jedoch keineswegs. Schließlich ist man nicht jeden Tag in Mexiko, und vor uns lagen unglaubliche zwei Monate. Was machte da schon ein bisschen Fahrt mit der Metro? Das gehörte schließlich dazu.

Wo wir auch ausstiegen, immer war es laut und voll und heiß. Nicht, dass wir uns beschweren wollten, im Gegenteil, wir waren fest entschlossen, uns außerordentlich gut zu amüsieren. Also wanderten wir durch das Zentrum und auf dem Zócalo, dem großen Zentralplatz, herum, besahen uns Kirchen und das eine oder andere Museum, weil Kultur ja nie schaden kann, doch immer hatten wir das Gefühl, um uns herum würden alle möglichen Sprachen gesprochen, nur kein Spanisch, und im Übrigen sah auch keiner der Kellner so gut aus wie unsere Sprachlehrer. Vermutlich ist das eine Tourismusstrategie, die gut aussehenden Einheimischen zu exportieren, um hübsche junge Frauen ins Land zu locken.


Im Übrigen einer der Vorteile, wenn man keinen Plan hat: Man stellt sich vor eine Tafel mit lauter Namen von Orten, die man nicht kennt, und sucht sich einfach einen aus.

Jedenfalls schmerzte uns nach drei Tagen der Kopf, richtig atmen konnten wir die dicke Smogluft auch nicht mehr, und von dem vielen Herumgelaufe hatten wir Blasen an den Füßen. Kurz und gut, wir packten unsere Sachen, verließen das Schnarcherzimmer und begaben uns zum nächsten Busbahnhof. Im Übrigen einer der Vorteile, wenn man keinen Plan hat: Man stellt sich vor eine Tafel mit lauter Namen von Orten, die man nicht kennt, und sucht sich einfach einen aus. Sofern das Budget die Fahrkarten hergibt. Oder in unserem Fall Karolins Budget.

Auch wenn wir den Namen des Ortes, an den uns der Dritte-Klasse-Bus ohne Bordtoilette über Nacht bringen sollte, kaum aussprechen konnten und erst recht nicht im Reiseführer fanden, blieben wir optimistisch. Zumindest, bis wir die zuvor an einem Straßenstand erworbenen tortas, eine Art herzhaft belegtes, meist warmes Sandwich, probierten und ich kurz darauf Durchfall bekam. Wie gesagt, keine Bordtoilette. Es ist nicht gerade angenehm, mitten in der Nacht den Busfahrer anhalten zu lassen, damit man sich irgendwo in der Dunkelheit ein ruhiges Fleckchen suchen kann, während die anderen Reisenden vermutlich neugierig durch die Fenster spähen.

Dementsprechend erschöpft waren wir, besonders ich, als wir gegen fünf Uhr morgens aus dem Bus fielen, mit den letzten Passagieren, die bis hierhin durchgehalten hatten.

»Riechst du das?«, fragte Karolin.

»Ich bin das nicht.«

»Nein, ich meine die Luft. Es riecht nach Meer!«

Und tatsächlich. Kaum hatten wir die übervollen Trekking­rucksäcke ein paar hundert Meter weitergeschleppt, sahen wir ihn: den Ozean. Den Pazifik. Mit graublauen Wellen, die eher schläfrig in den winzigen Hafen schwappten. Hinter uns dämmerte bereits der Morgen.

Ein älterer Mann mit sonnengegerbtem Gesicht winkte uns von einem der wenigen Boote aus zu. »Wollt ihr mitfahren?«, fragte er uns auf Spanisch, was wir erst beim zweiten Mal verstanden.

»Wohin?«

Den Namen des Ortes verstanden wir genauso wenig, nur, dass es sich wohl um eine Insel handelte, auf die er uns entführen wollte. Wir hatten kaum geschlafen und außerdem Hunger, doch da der Mann nur wenig Geld für die Überfahrt verlangte und wir einfach hofften, dass er uns unterwegs nicht an Organhändler verscherbeln würde, stiegen wir in das wackelige Boot, kaum mehr als ein Kahn mit Motor und randvoll gefüllt mit Fischernetzen. Wir waren schließlich auf der Suche nach Abenteuern. Irgendwie.

Wasser spritzte ins Boot, die Luft schmeckte salzig und frisch, wie gefiltert, und auf einmal deutete der Mann irgendwo in die Ferne und sagte: »Delfines.« Auch wenn wir kaum mehr als ein paar Schatten auf der Wasseroberfläche entdeckten, die möglicherweise die Rückenflossen von Delfinen darstellten, reichte uns das fürs Abenteuergefühl. Delfine.

Die Fahrt dauerte etwa 15 Minuten. An einem zerfallenen Steg stiegen wir aus, der Mann winkte uns noch einmal zu, dann drehte er um und fuhr davon.

Zugegeben, so ganz durchdacht hatten wir das Ganze nicht. Wie sollten wir denn wieder zurückkommen? Und viel wichtiger: Wo, bitte schön, gab es was zu essen?

Wir schleppten uns dem Hungertod nahe durch einen Waldkamm, bemüht, die Umgebung schön zu finden, und auf einmal öffnete sich vor uns die Vegetation, und wir blickten auf einen weiten, menschenleeren Strand, an dem sich die Pazifikwellen brachen, eingedeckt in orangewarmes Sonnenaufgangslicht, hinter uns Kokospalmen oder Avocadobäume oder was auch immer das waren, jedenfalls volle Kanne Südseeflair. Also, beinahe Südsee.

»Okay«, sagte ich. »Wir bleiben.«

Ein paar Meter weiter entdeckten wir einige Hütten, und in einer von ihnen einen jungen Mexikaner, der einfache Holz­unterkünfte und Hängemattenschlafplätze vermietete und uns eine einmalige Fischpfanne zubereitete, während wir uns unter so etwas wie einer stark rudimentären Außendusche erfrischten. Anschließend balancierten wir die randvoll mit Reis, gebackenem Gemüse und Fisch gefüllten Teller an den Strand, setzten uns in den Sand und atmeten tief durch. Salzluft. Meeresrauschen.

»Woanders würden wir für dieses Panorama zusätzlich bezahlen«, meinte ich.

»Gut, dass wir nicht woanders sind.«

Irgendwo weiter weg liefen zwei Hunde über den Strand, und fast am Horizont fuhr gemächlich eines dieser riesigen Luxuskreuzfahrtschiffe vorbei, von dem aus man diese Insel vermutlich nicht erkennen konnte, nicht ohne Fernglas. Das waren die einzigen Spuren von Leben.

Es vergingen bestimmt zwei Wochen, ehe wir wieder aufbrachen, um uns den Rest des Landes anzusehen. Denn egal, wie viel noch vor einem liegt: Wenn man das Paradies gefunden hat, sollte man dort bleiben. Solange es geht.

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