Читать книгу Wahnsinn Wartezimmer - Heike Abidi - Страница 14
500 mg Zuwendung, rezeptfrei
ОглавлениеSeit jeher sprach alles dafür, dass Apotheker genau der richtige Beruf für mich ist. Als Kind faszinierten mich die vielen bunten, akkurat geordneten Schächtelchen in den Regalen. Als Jugendlicher interessierte ich mich überdurchschnittlich für Chemie und Biologie. Mein Pharmaziestudium liebte ich. In meinen frühen Berufsjahren stürzte ich mich dann begeistert auf jede Art der Weiterbildung, denn ich wollte in meinem Beruf bestmöglich sein. Doch dass umfangreiches Wissen im Leben oft nicht genug ist, musste mir erst klar werden.
Es begann eines Tages, als ich allein in der Apotheke Waldesruh stand und eine Kundin zur Tür hereinkam. Ich war relativ neu dort und mochte den kleinen, altmodischen Laden und seinen betagten Besitzer. Dennoch war ich zu jener Zeit auf der Suche nach einer anderen Stelle. Ich hielt die Apotheke Waldesruh für zu ländlich und perspektivlos.
»Ist Herr Klöblich denn nicht da?«, fragte die steinalte Frau verzweifelt, nachdem sie sich umgesehen hatte. Ihr Mund spitzte sich zu einem runzligen Ring.
Antifaltencreme, Knoblauch-Ginkgo-Kapseln, Ibuprofen-Salbe, spuckte mein Streber-Hirn völlig automatisch aus.
»Nein, er hat heute einen Tag frei. Aber dafür bin ich ja hier. Wie kann ich Ihnen helfen?«, antwortete ich geschäftsmäßig. Meine Finger schwebten bereits über der Tastatur, um ihre Kundendatei aufzurufen. »Ihr Name?«
Hoffentlich werde ich sie schnell wieder los, dachte ich. In den drei Monaten, in denen ich nun schon in dieser kleinen Stadt arbeitete, war die Frau mehrmals wöchentlich aufgetaucht. Und jedes Mal hatte die Greisin meinen Chef halbe Ewigkeiten mit irgendeinem Wehwehchen aufgehalten. Trockene Mundschleimhaut, verfärbter Stuhl, ein Ziehen in der Wade – das Übliche.
Carmellose-Spray, Enterokokken-Kapseln, Diclofenac-Salbe.
»Er hat frei?«, fragte sie fassungslos nach. »Aber Herr Klöblich hat doch nie frei!« Ihr Entsetzen ließ sie leicht schwanken und sie hielt sich am Verkaufstresen fest.
»Eben. Also wurde es höchste Zeit für ihn, ein wenig zu entspannen. Jetzt bin ich da, deswegen kann er ab und zu blaumachen«, erklärte ich.
Skeptisch musterte sie mich mit ihren kleinen, schon etwas trüben Äuglein. »Aber Sie sind doch keine zwanzig Jahre alt! Was sind Sie? Der Praktikant?«
»Ich habe ein abgeschlossenes Studium der Pharmazie und bin 29«, antwortete ich ungehalten. Zur Unterstreichung meiner Kompetenz schob ich einen Stapel Rezepte von links nach rechts. »Wenn Sie mir jetzt einfach Ihren Namen verraten würden? Ich kann Ihnen sicher genauso gut weiterhelfen wie Herr Klöblich.«
Vielleicht sogar besser, denn meine Ausbildung hat nicht in der Steinzeit stattgefunden, fügte ich in Gedanken hinzu.
An der Miene der Alten konnte ich ablesen, dass sie mir nicht traute. Unsicher sah sie zwischen der Kundenbetreuungsecke und mir hin und her.
»Mein rechtes Auge brennt«, informierte sie mich schließlich mit rauer Stimme.
Euphrasia, Polyvidon, Hyaluronsäure.
Euphrasia, Polyvidon, Hyaluronsäure.
Ich lehnte mich ein wenig über den Tresen zu ihr hinüber, um feststellen zu können, ob eine Rötung vorlag.
Offensichtlich erschrocken trat sie einen wackeligen Schritt zurück.
»Auf den ersten Blick würde ich sagen, dass keine Reizung vorliegt. Alles normal«, versuchte ich sie zu beruhigen, denn von einer schlimmen Entzündung konnte ganz bestimmt nicht die Rede sein.
»Sind Sie Augenarzt, junger Mann?«, fragte sie schnippisch. »Wann ist Herr Klöblich wieder da?«
»Morgen. Aber der ist auch kein Augenarzt. Warum nehmen Sie nicht einfach homöopathische Tropfen mit? Die sind wohltuend für die Bindehaut.«
»Neumodisches Zeug!«, krächzte die Frau. Ihre Züge wurden zunehmend härter. Während sie beim Hereinkommen nur alt ausgesehen hatte, wirkte sie nun auch böse – wie eine Hexe.
Ich fragte mich, wieso der Chef stets so viel Zeit in sie investierte. Noch dazu war sie nicht die Einzige von diesen kauzigen Alten, die hier dauernd hereinschneiten und ihm seine Kapazitäten stahlen. Er war einfach zu gutmütig. Eigentlich sollte er sie abwimmeln und sich lieber dem Versandhandel widmen, den er gerade aufzubauen versuchte. Das war zeitgemäß und brachte Geld. Wie wollte er mit den hypochondrischen Symptomen dieser Senioren seinen Laden auf Vordermann bringen?
»Homöopathie gibt es seit zweihundert Jahren. Ich denke, Sie können also davon ausgehen, dass Sie nicht als Probandin gelten, wenn Sie die jetzt nehmen.« Ich holte ein Fläschchen aus dem Regal und hielt es ihr ungeduldig hin.
»Sie halten sich wohl für besonders witzig, Bürschlein!«, schimpfte sie. »Frisch von der Uni und denkt, er hätte die Weisheit mit dem Löffel gegessen!« Unwirsch schüttelte sie den Kopf.
Thiopental, Etomidat, Propofol.
Ich atmete tief durch und versuchte mich zu beherrschen.
Das ist nur eine einsame alte Frau, sagte ich mir in Gedanken vor und erzwang ein Lächeln.
»Die kosten 9,50 Euro.«
»Also schön. Aber was ist mit Blutdruckmessen? Herr Klöblich macht das immer. Ich habe Traumwerte. Wollen Sie mal sehen?«
Auf gar keinen Fall! Soll sie doch zum Hausarzt gehen, wenn sie sich langweilt. Der bekommt das wenigstens bezahlt.
»Vielleicht ein anderes Mal«, winkte ich ab. »Passen die Augentropfen in Ihre Tasche?«
Mein Stolz, wie gekonnt ich die Alte abgefertigt hatte, hielt genau drei Tage an. Drei Tage, in denen ich mir unglaublich geschäftstüchtig, erwachsen und schlau vorkam. Drei Tage, in denen ich glaubte, ein guter Apotheker zu sein.
Doch dann kam die Kundin wieder.
»Was ist das für ein Unsinn mit den freien Tagen? Macht Ihnen Ihr Beruf keinen Spaß mehr?«
»Oh, dem Himmel sei Dank! Sie sind da«, grüßte die Frau im Hereinkommen. Es war sonnenklar, dass sie nicht mich meinte, denn sie strahlte meinen Chef glücklich an. Das ließ sie gleich um zehn Jahre jünger wirken. »Was ist das für ein Unsinn mit den freien Tagen? Macht Ihnen Ihr Beruf keinen Spaß mehr?«
Wie unverschämt sich diese Alten oft aufführen, dachte ich. Als wären sie der Nabel der Welt.
Ich schaute angestrengt in den Computer und gab vor, die Bestellliste durchzugehen.
»Ach, Sie haben recht, Frau Schnabel! Was für eine Schnapsidee!«, antwortete mein Chef lachend. »Was will ich zu Hause, wenn ich hier so bezaubernde Stammkundschaft verpasse?«
Sie kicherte, was mich verstohlen über den Rand des Bildschirms linsen ließ. Flirtete er etwa mit ihr? Tatsächlich, er zwinkerte ihr zu.
»Wie ist es Ihnen mit der darmregulierenden Teemischung ergangen, Frau Schnabel? Konnten Sie irgendeine Wirkung feststellen?« Mittlerweile war er um den Tresen herum zu ihr geeilt, nahm sie am Arm und führte sie zur Kundenbetreuungsecke.
»Ach, Herr Klöblich, ich muss gestehen, den habe ich noch gar nicht probiert. Ich hatte ein paar richtig gute Tage und deshalb momentan keinen Bedarf. Ich hoffe, Sie sind nicht böse auf mich.«
»Wie könnte ich böse sein, wenn Sie sich wohlfühlen? Und wie geht es Ihnen heute? Sie sehen auf alle Fälle prima aus. Wollen wir Wetten abschließen, wie Ihre Blutdruckwerte ausfallen werden?«
Schnell gab ich »Schnabel« in unsere Kundendatei ein und warf einen Blick auf die dort gespeicherten Informationen. Werte, auf die jeder Junge neidisch sein konnte, eine Gewichtstabelle, eine etwas ältere Zusammenstellung für eine Reiseapotheke, aktuell diverse Tees, Stärkungsmittel und Cremes. Keine Dauermedikation oder Erkrankungen. Dachte ich es mir doch: fit wie ein Turnschuh.
»125 zu 85, sage ich«, tippte die Kundin und nannte damit den Blutdruckwert der letzten Messung.
»Gut, ich unterbiete. 120 zu 79. Wer näher dran ist, darf sich ein Bonbon aus dem Glas dort drüben nehmen.«
Also das schlägt dem Fass den Boden aus, ärgerte ich mich. Hier türmt sich die Büroarbeit und er spielt den Entertainer. Resolut erhob ich mich. Wenn er es nicht allein schaffte, die Alte loszuwerden, dann musste ich ihm eben Hilfestellung geben.
»Herr Klöblich, da wartet eine Angelegenheit, die keinen Aufschub duldet«, sagte ich und deutete vage Richtung Labor, in dem Rezepturarzneimittel zubereitet wurden.
Die Miene der betagten Kundin verfinsterte sich schlagartig. Bisher hatte sie mich kaum beachtet, aber jetzt fixierte sie mich mit sengendem Blick.
»Was könnte wichtiger sein als Frau Schnabels Blutdruck?«, antwortete er gelassen und rückte ihr einen Stuhl zurecht.
»Kümmelzäpfchen für das Mädchen mit den Koliken«, warf ich ins Rennen.
Sie schnaubte, während sie sich setze. »Herr Klöblich, wo haben Sie denn diesen Jungen aufgegabelt? Ist noch ein bisschen grün hinter den Ohren, was? Letztens hat er mir total wirkungslose Augentropfen aufgeschwatzt. Ich habe sie gekauft, weil ich ihn ja nicht vor den Kopf stoßen wollte.«
»Das war sehr nett von Ihnen«, erwiderte mein Chef und streifte ihr die Blutdruckmanschette über den Arm.
Ich fasste es nicht. Er verteidigte meine Apotheker-Ehre nicht?
Da musste ich wohl erfindungsreicher sein.
Verstohlen zog ich unter dem Tisch mein Handy aus der Hosentasche und wählte unsere Geschäftsnummer. Wenig später läutete es.
»Telefon«, vermeldete ich.
»So machen Sie sich doch bitte nützlich und gehen dran«, bat Herr Klöblich.
Genervt hob ich den Hörer ab. »Apotheke Waldesruh«, meldete ich mich und lauschte in die Stille. »Ja, er ist da. Soll ich ihn an den Apparat holen?«, gab ich vor, zu jemandem zu sagen. Dann hielt ich den Hörer in Richtung Herrn Klöblich. »Für Sie, Chef. Scheint dringend zu sein.«
Ich war wohl der mieseste Stratege von allen.
Es war absurd. Was für ein armseliges Manöver war das? Wenn er gleich dranging, gab es keinen Gesprächspartner, denn ich konnte ja nicht das Handy zücken und mit ihm reden, ohne mich total lächerlich zu machen. Ich war wohl der mieseste Stratege von allen.
»Sagen Sie, ich rufe zurück. Ich habe gerade einen wichtigen Termin«, antwortete mein Chef und startete den Blutdruckmessvorgang bei Frau Schnabel. Brummend pumpte sich die Manschette voll Luft.
Artig wiederholte ich seine Worte und legte wütend auf.
Würde ich eben abwarten, bis die lästige Kundin fort war, um dann Tacheles mit meinem Arbeitgeber zu reden. Ich musste ihm klarmachen, dass er mit ihr und ihresgleichen seine Zeit verschwendete.
»Wer hat angerufen?«, wollte er wissen.
Total überrumpelt starrte ich das Telefon an.
»Haben Sie die Nummer notiert?«, fragte er.
Das hatte ich natürlich nicht. Wie auch?
Die Alte keckerte laut. »Na, Herr Klöblich, machen Sie sich nichts draus. Der wird schon noch!«
Mein Chef lachte mit.
Verächtlich wendete ich mich wieder dem Bildschirm zu und mischte mich nicht mehr ein, solange die Kundin in der Apotheke war.
Als sie nach geschlagenen 25 Minuten, in denen ich mit vier anderen Kunden weitaus lukrativere Geschäfte gemacht hatte, endlich den Laden verließ, baute ich mich vor meinem Chef auf.
»Mir ist klar, was Sie sagen wollen«, kam er mir zuvor. »Lassen Sie es.«
»Aber …«
»Wenn Sie denken, Sie müssten mir einen Vortrag darüber halten, wie unwirtschaftlich mein Verhalten ist, kann ich Sie beruhigen: Ich weiß das.«
»25 Minuten, Herr Klöblich! Und das alle paar Tage. Im vergangenen Kalenderjahr hat sie insgesamt 61,40 Euro Umsatz eingebracht.«
»Glauben Sie, das interessiert mich? Frau Schnabel ist seit beinahe drei Jahrzehnten Witwe. Ihr Sohn wohnt in Mexiko, wohin sie früher hin und wieder geflogen ist. Aber jetzt traut sie sich das nicht mehr zu. Vor einem halben Jahr ist auch noch ihr Hund gestorben. Also hat sie niemanden mehr. Deshalb sucht sie sich ihre kleinen zwischenmenschlichen Fixpunkte im endlosen Alltag. ›Leider‹ fehlt ihr körperlich nichts, was eine Rechtfertigung liefert, regelmäßig hierher zu uns zu kommen. Vermutlich würden Sie, werter Herr Kollege, ihre Besuche gutheißen, wenn Sie zum Beispiel Krebs hätte. Hat sie aber nicht. So bleibt ihr Verlangen nach ein wenig menschlicher Zuwendung ohne wirtschaftliche Rentabilität. Doch ich bin nun einmal nicht Apotheker geworden, um reich zu werden, sondern weil ich helfen will. Nennen Sie mich einen Narren, aber ich werde Menschen wie Frau Schnabel auch dann noch meine Zeit schenken, wenn es in einem Kaff wie dem unseren schlauer wäre, sich ganz auf den Versandhandel zu verlegen. Und jetzt gehen Sie und stellen die Kümmelzäpfchen her – die sind nämlich genauso fürn Arsch wie übertriebener Geschäftssinn.«
Für eine innige Kundenbeziehung zu Frau Schnabel war der Zug nach diesem Weckruf durch meinen Mentor in Sachen Menschlichkeit bereits abgefahren. Außerdem wollte sie sowieso nur vom Chef höchstpersönlich bedient werden.
Aber bald wurde der achtzigjährige Herr Reuter mein ganz persönlicher Stammkunde am Blutdruckmessgerät. Während wir regelmäßig seine Werte kontrollierten, berichtete er mir, was er gegessen hatte und wie sich das auf den Zustand seiner leicht entzündlichen Hautpartien auswirkte. Und ich hätte es mir früher nicht vorstellen können, aber wenn er mir von seinen Mundwinkelrhagaden erzählte und mich dabei voll Vertrauen anschaute, machte mich das zum richtig guten Apotheker.