Читать книгу Wahnsinn Wartezimmer - Heike Abidi - Страница 18
ОглавлениеDie Wartezimmer-Connection
8.05 Uhr
Die junge Mutter ist untröstlich, dass sie es nicht rechtzeitig geschafft hat. Punkt acht ist Punkt acht, nicht fünf nach. Zeit ist schließlich Geld, und die von Medizinern ganz besonders.
Aber was kann sie dafür, dass der Junior kurz vor knapp noch mal schnell Pipi musste? In dieser Hinsicht sind Fünfjährige einfach unberechenbar. Ob ihr das gefällt oder nicht. Und er braucht nun mal eine neue Brille. Ob ihm das gefällt oder nicht.
Die Dame mit der Igelfrisur schaut demonstrativ auf die Uhr, bevor sie die Krankenkassenkarte entgegennimmt. »Sie haben hoffentlich Zeit mitgebracht«, kommentiert sie knapp.
»Komm, Timmi«, seufzt die Mutter und zerrt den Knaben in Richtung Wartezimmer. Ewig wird das hier ja wohl kaum dauern. Schließlich haben sie den frühestmöglichen Termin.
8.06 Uhr
Als ob das Wartezimmer noch nicht voll genug wäre! Die pensionierte Oberstudienrätin verdreht ganz undamenhaft die Augen, als die zwei Neuankömmlinge hereinkommen.
»Ich wette, wir sind um zehn noch hier.«
»Ich wette, wir sind um zehn noch hier«, brummt ihr Gatte, der Richter im Ruhestand – übrigens nicht zum ersten Mal. Er neigt ohnehin dazu, sich zu wiederholen. Sie dagegen neigt zu Hornhautverkrümmung, weswegen beide hier sitzen. »Kommen Sie unbedingt in Begleitung«, hat es geheißen, als sie den Termin vereinbart hat. »Wir müssen Sie tropfen, danach sind Sie nicht verkehrstüchtig.«
Und nun sitzt sie hier, in diesem winzigen Wartezimmer, das sowieso schon ziemlich voll war und jetzt übervoll ist.
Hoffentlich fängt das Kind nicht auch noch an zu quengeln! Nach Jahrzehnten im Schuldienst hat sie die Nase gestrichen voll von Minderjährigen.
Zum Glück hat sie immer Ohrenstöpsel in der Tasche. Und einen spannenden Krimi.
8.12 Uhr
Eigentlich müsste der Jurastudent in einer todlangweiligen Erbrecht-Vorlesung sitzen, aber seine neue Freundin hat ihn so nett gebeten, sie zum Augenarzt zu begleiten, dass er unmöglich Nein sagen konnte. Schließlich befinden sie sich noch in Phase A der Beziehung – die, in der er völlig verrückt nach ihr ist und ihr deshalb jeden Wunsch erfüllt, damit sie anschließend seine erfüllt …
8.20 Uhr
Warum tut sich hier eigentlich nichts? Der Topmanager mit der Stirnglatze ist am Ende seiner Geduld. Er hat schließlich nicht den ganzen Tag Zeit!
Na großartig, und jetzt hat der Zwerg auch noch Durst! Zum Glück scheint seine Mutter ganz gut organisiert zu sein. In ihrer riesigen Umhängetasche ist Platz für Saft, Kekse, ein Bilderbuch – vermutlich sogar für ein Schaukelpferd.
Genervt zieht er sein Smartphone hervor und checkt seine Mails.
»Dad, chill mal«, raunt die junge Frau neben ihm. Sie hat sich nur zu gern bereit erklärt, ihn zum Augenarzt zu begleiten. Alles ist besser als Schule! Und darauf, den stets souveränen Übervater einmal fahruntüchtig und hilflos zu erleben, freut sie sich schon seit Tagen.
8.47 Uhr
Jetzt hat sie Timmi die Geschichte vom Bär, der nicht schwimmen konnte, schon dreimal vorgelesen, so langsam kommt sie ihr selbst zu den Ohren raus.
Ob der Arzt überhaupt schon da ist? Womöglich sitzt er noch gemütlich daheim in seiner Designerküche und schlürft einen Latte macchiato.
Und vor allem kommt ihr die ganze Situation so langsam merkwürdig vor. Offenbar hatten alle, die hier warten, einen Achtuhrtermin. Aber noch wurde niemand in den Behandlungsraum gerufen. Ob der Arzt überhaupt schon da ist? Womöglich sitzt er noch gemütlich daheim in seiner Designerküche und schlürft einen Latte macchiato.
»Mama, wie lange dauert das denn noch?«
»Ich geh mal raus und frage nach, mein Schatz.«
Doch noch bevor sie aufstehen kann, kommt die humorlose Igeldame vom Empfang herein und verkündet, dass sie die Patienten jetzt tropfen müsse. Zur Pupillenerweiterung. »Das ist nötig für die Untersuchung.«
»Und wann findet diese Untersuchung statt?«, will der Manager wissen.
»Erst müssen die Tropfen mal wirken«, wird er abgebügelt.
9.13 Uhr
Die Tropfen wirken. Leider! Alles ist unscharf und an Lesen ist nicht mehr zu denken. Längst hat die Studienrätin ihren Krimi weggesteckt. Hätte sie ihre Ohrenstöpsel nicht dabei, bliebe ihr nichts anderes übrig, als dem zu lauschen, was der Knabe vorgelesen bekommt. Und das wäre wirklich entwürdigend!
9.44 Uhr
Der Manager hat wirklich Geduld bewiesen. Aber genug ist genug!
»Führ mich zum Empfang«, zischt er seiner Tochter zu und hakt sich bei ihr unter.
»Sag nicht, dass du aufs Klo musst!«, stöhnt die auf. Schließlich ist sie keine Altenpflegerin.
»Sei nicht albern. Ich will bloß mit dem Drachen am Empfang reden.«
9.47 Uhr
Der großkotzige Typ mit der Stirnglatze wirkt ziemlich kleinlaut, als er zurückkommt, findet der Jurastudent. Vermutlich wollte er sich beschweren und hat von der Tussi am Empfang einen auf den Deckel bekommen. Der Student beglückwünscht sich selbst, dem Glatzenmann nicht zuvorgekommen zu sein. Fast wäre er selbst vorhin hinausgestürmt und hätte Rabatz gemacht, aber er vermutet stark, dass seine Freundin eher auf sensible Typen steht als auf Choleriker. Also hat er sich zusammengerissen. Gute Entscheidung.
Aber warum dauert das hier so ewig? Irgendwas ist da doch faul!
10.35 Uhr
Es passiert etwas, womit schon niemand mehr gerechnet hat: Die Tür geht auf und die Igelfrau vom Empfang erscheint. Aber nicht, um den ersten Patienten ins Behandlungszimmer zu bitten, sondern um die Hände in die Seiten zu stemmen und angriffslustig in die Runde zu schauen. Was natürlich nur die Hälfte der Anwesenden wahrnimmt, die anderen erkennen dank der Tropfen nur Schemen.
»Es gab einen Unfall. Der Doktor ist bei einer Notoperation. Das kann dauern. Seien Sie froh, dass es Ihnen besser geht als dem armen Schwein auf dem OP-Tisch, das vielleicht sein Augenlicht verliert. Im Vergleich dazu ist ein bisschen Wartezeit doch wirklich das kleinere Übel.«
Und weg ist sie wieder.
11.02 Uhr
»Die Bären-Geschichte ist langweilig«, verkündet der Fünfjährige. »Erzähl mir eine andere.«
»Ich habe nur dieses eine Buch dabei, mein Schatz«, erwidert seine Mutter kraftlos.
»Ich könnte ihm ein Märchen erzählen«, mischt sich die Freundin des Jurastudenten ein und rutscht zu ihm rüber. Zum ersten Mal im Leben ist der Student eifersüchtig auf einen Fünfjährigen.
11.27 Uhr
Der Manager hat Durst. Und Hunger. Und ist genervt.
Der Manager hat Durst. Und Hunger. Und ist genervt. Am liebsten würde er hier abhauen. Aber die blöde Augenuntersuchung muss nun mal sein, das sieht er ja ein. Und der Vormittag ist eh im Eimer. Also hält er lieber hier aus, als noch mal wiederkommen zu müssen.
»Ich hab keine Kekse mehr«, beklagt sich der Zwerg.
»Daran kann ich jetzt nichts ändern«, versucht seine Mutter ihn zu beschwichtigen.
»Du kannst ihm doch was holen gehen«, raunt der Manager seiner Tochter zu. Die schaut ihn an, als hätte er gerade Chinesisch gesprochen. Er steckt ihr einen Zwanziger zu. »Belegte Brötchen, Sandwiches, Schokoriegel, irgendwas!« Er zückt sein Portemonnaie noch einmal und tauscht etwas umständlich – halbblind, wie er ist – den Schein gegen einen Fünfziger: »Am besten gleich für alle. Und was zu trinken. Kaffee, Wasser, Apfelsaft – so viel du tragen kannst.«
»Das schafft sie doch niemals allein«, mischt sich der Richter im Ruhestand ein. »Ich komm mal lieber mit.«
11.59 Uhr
Die Tochter des Managers und der Richter im Ruhestand werden mit lautem Hallo begrüßt, als sie – beladen wie die Packesel – zurückkehren. Rasch räumt die Mutter des Fünfjährigen den Tisch frei, auf dem die obligatorischen Zeitschriften auslagen, und dann folgt ein allgemeines Wartezimmerstühlerücken, bis alle einen gemütlichen Kreis um den Mittagstisch bilden.
»Lecker«, verkündet der Fünfjährige und der Manager gibt ihm uneingeschränkt recht.
»Tut der gut«, sagt die pensionierte Oberstudienrätin und genießt ihren Kaffee.
»Das war eine super Idee«, lobt die Freundin des Studenten den Manager, der sich darüber in unangemessenem Maße freut. Schließlich ist es sein Job, permanent super Ideen auszuspucken.
12.11 Uhr
»Wie lange wirken diese blöden Tropfen überhaupt?«, will der Richter im Ruhestand wissen. Er weiß, wie unleidlich seine Gattin werden kann, wenn sie zum Warten verdammt ist, ohne dabei lesen zu können.
»Auf jeden Fall mehrere Stunden«, antwortet der Jurastudent wie aus der Pistole geschossen. »Ich hab das gerade gegoogelt. Und eben habe ich mal diese Praxis gecheckt. Wie es scheint, ist Warten wegen angeblicher Not-OPs hier Standard.«
Der Manager wird hellhörig. »Wie meinen Sie das?«
»Nun, wie es aussieht, hat der gute Doc eine Art … Motivationsproblem. Immer wenn er es nicht pünktlich in die Praxis schafft oder auf der Pritsche in Untersuchungsraum eins seinen Rausch ausschläft, wird ein Notfall vorgeschoben. Jedenfalls gibt es hier mehrere Berichte über ähnliche Fälle. Kann ich bitte noch ein Käsebrötchen haben?«
12.13 Uhr
»Zur Toilette geht es da lang!«, ruft die Igelfrau vom Empfang dem Richter im Ruhestand hinterher, doch der lässt sich nicht bremsen. Dicht gefolgt von der Tochter des Managers reißt er die Tür zu Behandlungszimmer eins auf.
»Treffer, versenkt«, ruft die Tochter des Managers.
»In flagranti«, ergänzt der Richter im Ruhestand. »In flagranti!«
12.42 Uhr
»Fassen wir zusammen: Wir haben jetzt drei Augenarzt-Praxen in der engeren Wahl«, sagt der Manager. »Alle mit Top-Bewertung, in zentraler Lage und mit geringen Wartezeiten. Wie gehen wir weiter vor?«
»Anrufen«, kommandiert die pensionierte Oberstudienrätin. »Und fragen, wann sie vier direkt aufeinanderfolgende Untersuchungstermine vergeben können.«
»Du willst uns alle gemeinsam anmelden?«, fragt die Mutter des Fünfjährigen überrascht.
Oder glaubst du, ich will mich schon wieder an andere Mitpatienten gewöhnen?
»Natürlich. Oder glaubst du, ich will mich schon wieder an andere Mitpatienten gewöhnen?«
»In diesen Praxen gibt es übrigens auch Wasserspender und Kaffeeautomaten«, liest der Student begeistert vor.
»Na ja, so lange werden wir hoffentlich nicht wieder warten müssen«, erwidert die Mutter des Fünfjährigen. »Aber wenn, dann spielen wir Blinde Kuh!«