Читать книгу Wahnsinn Wartezimmer - Heike Abidi - Страница 8
Von Klebeband, Leichen und Antennen
ОглавлениеPlötzlich war sie da: kreisrund, etwa drei Millimeter groß und ebenso hoch. Und sie fühlte sich ziemlich unangenehm an, da an der Außenseite meines rechten Daumens.
Ich entdeckte sie morgens im Bad, als ich mir gerade meine Haare kämmte und mich selbst inklusive meiner Hände im Spiegel sah. Igitt, dachte ich und bekam prompt eine Gänsehaut, wie eklig – das muss doch echt nicht sein!
Doch es war so – ich hatte eindeutig eine Warze.
Auf dem Weg ins Büro fummelte ich die ganze Zeit daran herum: Nervös, wie ich war, drückte und befühlte ich sie ununterbrochen. Eins war klar: Ich musste das Ding so schnell wie möglich loswerden!
Ein Arztbesuch also? Kam nicht infrage. Nicht wegen einer simplen Warze. Außerdem lag einfach zu viel Arbeit auf meinem Schreibtisch. Also beschloss ich, das Warzenproblem selbst zu lösen, indem ich nach Feierabend das Internet befragte.
Mit einem Glas Rotwein und ein paar Käse-Kräckern machte ich es mir am Schreibtisch gemütlich und fütterte die Suchmaschine mit dem unappetitlichen Stichwort.
Als Erstes las ich natürlich die Definition bei Wikipedia:
»Warzen (lateinisch Verrucae) sind häufige, unter Umständen ansteckende, kleine, scharf begrenzte und in der Regel gutartige Epithel-Geschwulste der oberen Hautschicht (Epidermis). Meistens sind sie leicht erhaben, manchmal flach. Sie sind zumeist auf eine Infektion mit einem der mehr als hundert verschiedenen ›Low-risk-Typen‹ von humanen Papillomviren aus der Familie der Papillomaviridae (unbehüllte, doppelsträngige DNA-Viren) zurückzuführen.«
Ansteckend, wie unschön!
Humane Papillomviren, soso. Ansteckend, wie unschön! Noch mehr von diesen hässlichen Dingern wollte ich auf gar keinen Fall!
Dank der großartigen Online-Enzyklopädie erfuhr ich außerdem, dass es vulgäre Warzen oder auch Stachelwarzen gibt, nicht zu vergessen Fußsohlenwarzen, Feigwarzen, Dellwarzen, Flachwarzen, Pinselwarzen und Alterswarzen – letztere konnte ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen, denn ich war noch deutlich unter fünfzig.
Doch allein die Fotos der verschiedenen Warzentypen brachten mich dazu, die Schüssel mit den Käse-Kräckern angewidert wegzuschieben! Zum Glück hatte ich nichts mehr davon im Mund, als ich weiterlas und erfuhr, dass man Feigwarzen gern auch am Anus bekommt. Wie bekam ich bloß diese Bilder wieder aus dem Kopf?
Ich betrachtete meine Warze und stellte erleichtert fest, dass ich mit diesem kleinen, regelmäßig ausgebildeten, fast schon niedlichen Exemplar in der Fotogalerie der Warzenschrecklichkeiten auf keinen Fall einen der vorderen Plätze erreichen würde. Denn ich hatte – was für ein Glück – wohl nur eine ganz ordinäre »vulgäre Warze«.
Im nächsten Textabschnitt wurde es dann richtig interessant, denn er behandelte die alles entscheidende Frage: Wie wird man die Dinger wieder los? Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Warzen werden vereist, verätzt, mit elektrischem Strom bekämpft oder chirurgisch entfernt – genauer gesagt rausgelöffelt. Örks – zum Glück hatte ich die Schüssel mit den Kräckern außer Sichtweite gestellt! Fast bekam ich Mitleid mit meiner Warze! Aber auch nur fast …
Weil ich das Ding ja selbst bekämpfen wollte, scrollte ich weiter zum Punkt Hausmittel: Klebeband soll zum Beispiel helfen, vielleicht auch Knoblauch – beides allerdings wissenschaftlich nicht belegt, vor allem der Knoblauch nicht.
Ich durchwühlte meinen Schreibtisch und fand Klebeband, einen gewöhnlichen Tesafilm sowie dickeres Paketklebeband. Damit stand die Wahl meines Hausmittels fest. Leider war auf Wikipedia kein Hinweis zu finden, wie man dieses Klebeband im Kampf gegen die Warze nun konkret einsetzt. Und so bemühte ich abermals die Suchmaschine, dieses Mal mit der Wortkombination »Klebeband Warze entfernen«. Auf einer medizinischen Sammelseite wurde ich schließlich fündig: Ziel der Klebeband-Maßnahme sei es, die Warze luftdicht abzukleben und gleichzeitig leichten Druck auf die betroffene Hautstelle auszuüben.
Aberglaube? Das wäre normalerweise mein erster Gedanke gewesen. Doch heute fand ich, dass das nicht mal übermäßig absurd klang: Das Klebeband könnte so den Heilungsprozess unterstützen und die infizierten Hautstellen würden abgetötet und abtransportiert – von ganz allein.
Wenigstens wusste ich jetzt auch, warum Paketklebeband in praktischem Hautbeige verkauft wird.
Coole Sache, da kann ich mir den Arztbesuch wirklich sparen, dachte ich, während ich mir aus beigefarbenem Paketklebeband ein Antiwarzen-Pflaster bastelte. Na ja, einen Schönheitspreis würde meine Konstruktion wohl kaum gewinnen, eher kritische Blicke meiner Kollegen, aber Hauptsache, es half. Wenigstens wusste ich jetzt auch, warum Paketklebeband in praktischem Hautbeige verkauft wird.
Da fiel mir ein, was mir eine Freundin einmal erzählt hatte: Nämlich, Warzen könnte man besprechen oder wegstreicheln. Ich hatte sie damals ausgelacht. Warzen vollzulabern oder zärtlich zu umhegen, das hatte ich seinerzeit eher im Reich der Mythen und Legenden verortet. Andererseits waren die Warzen jener Freundin nach einer Weile tatsächlich verschwunden. Hatte die Sache etwa wirklich funktioniert?
Ich wollte es genauer wissen und änderte die Suchwortkombination in »Warze besprechen«. Es öffnete sich ein Universum der Unglaublichkeiten! Ich klickte einen der unzähligen Links an und fand mich in einer Parallelwelt wieder. Genauer gesagt: in einem Warzenforum. Was es nicht alles gab …
Neugierig las ich den ersten Tipp:
»Mache in einen Baumwollfaden so viele Knoten, wie du Warzen hast. Diesen Faden wirfst du dann bei Vollmond hinter dich. Wenn der Faden verfault, sind die Warzen weg. Wichtig: Sprich mit niemandem darüber und schaue auch nicht mehr nach dem Bindfaden.«
Logik war wohl nicht die Sache der Warzenforumsbesucher. Dafür hatten sie auch poetische Verse im Angebot, um die Warzen zu besprechen:
»Lege deine Hand auf die Warze und sage dreimal: ›Was ich sehe, das vergehe. Was ich streiche, das erweiche – Warze weiche.‹ Nach dem dritten Mal sage dann noch: ›So wahr es Gottvaters Wille ist!‹«
Ganz zauberhaft auch diese Variante:
»Warze, Warze weiche,
reit auf einer Leiche,
auf dem Fluss der Zeit davon.
Im Namen des Vaters (pusten),
des Sohnes (pusten)
und des Heiligen Geistes (pusten).«
Ich hatte zwar schon einige Zombiefilme gesehen, aber einen, in dem Warzen nachts einen Friedhof stürmen, um eine Leiche zu stehlen, auf der sie dann auf dem Fluss der Zeit davonreiten – das war mir neu. Unklar blieb allerdings, was diese spezielle Form der Leichenschändung mit christlicher Dreifaltigkeit zu tun hatte. Wie auch immer – für mich war das wohl nichts. Auch zur Zielgruppe der Bücher, die »seelische Heilung« versprachen, oder der Warzenbesprecherin, die ihre Dienstleistungen nur einmal im Monat – kurz vor Vollmond – anbot, gehörte ich eher nicht. Dennoch las ich aufmerksam ihr Inserat. Aha, sie behandelt ohnehin am liebsten Kinder, weil Erwachsene immer so gestresst sind, hohe Ansprüche haben und wenig Geduld.
Doch die Gute kannte mich nicht! Bewies ich nicht gerade eine schier übermenschliche Geduld? Denn ich verbrachte noch weitere Stunden mit meiner Recherche.
Irgendwann stieß ich auf ein Forum, in dem sogar Sprüche zur Heilung von Aids und Krebs geteilt wurden – neben diversen Erfolgsgeschichten. Da wurde zum Beispiel von einer kleinen Anna berichtet, deren Leukämie von einer »weißen Hexe« geheilt worden sein soll – mit entsprechenden Heilsprüchen und Elixieren. Ob das jemand ernsthaft glaubte? Die Verfasserin des Postings schwor natürlich Stein und Bein, dass sich alles genau so zugetragen hatte.
Und auch zum Thema Warzen entdeckte ich noch neue Theorien. Ich erfuhr, dass sie nichts anderes sind als die »Rache der Toten«. Sofort dachte ich an Tante Elisabeth, die ich als Kind immer regelrecht verflucht hatte, weil sie mir Röcke aus kratziger Wolle strickte, die ich dann auch noch anziehen musste, wenn wir sie besuchten. Ob meine Warze ihre späte Rache war?
Ich entdeckte die große Warzenverschwörung.
Ich füllte mein Rotweinglas erneut und nahm einen großen Schluck, bevor ich mich aufs nächste Level der Erkenntnis begab: Ich entdeckte die große Warzenverschwörung. Laut dieser Theorie sind Warzen eine Art Krebs, der von verschiedenen dubiosen Mächten im Kampf gegen die Menschheit eingesetzt wird. Er entsteht durch Chemikalien, mit denen der entsprechende Mensch systematisch vergiftet wird. Wenn man mit der Warze zum Arzt geht, weiß der Halbgott im weißen Kittel bereits Bescheid, dass diese Person von diesen uns alle beherrschenden Kräften bekämpft wird – und kann ihr während der Warzenentfernung heimlich einen kleinen Sender implantieren, mit dessen Hilfe künftig jeder Schritt überwacht werden kann.
Ich staunte. Und trank einen weiteren Schluck Wein.
Garantiert war es dieser Schluck, der dann den kleinen Schelm in mir anstachelte: Warum eigentlich nur lesen, was andere posten? Warum nicht auch selbst kreativ werden? Und so meldete ich mich unter dem Namen »Lissi Crowley 666« in diesem Forum an, um aktiv mitzudiskutieren.
Als ich die Qual der Wahl hatte, ob ich meine Warzengeschichte unter der Rubrik »Grenzwissenschaften und Paranormales« oder doch eher in der klassischen Rubrik »Heilung« veröffentlichen sollte, entschied ich mich für die erste Möglichkeit – wenn schon schräg, dann richtig!
Ich eröffnete also einen neuen Strang und haute folgende Geschichte raus:
»Warzen und Antennen – jetzt kommt die Wahrheit ans Licht! Hey, Leute, ihr werdet nicht glauben, was mir heute passiert ist: Ich bin seit nunmehr zwei Jahren bei einer Hexe wegen verschiedener Warzen in Behandlung – doch sie kommt gegen die bösen Zauber nicht an, die mich befallen haben, ich werde meine Warzen einfach nicht los. Da ich unter anderem eine Dornwarze an der Fußsohle hatte, die mich bei jedem Schritt schmerzte, bin ich nun zum Schulmediziner gegangen, der diese Warze unter örtlicher Betäubung aus meinem Fuß geschält hat. Und jetzt kommt der Hammer: Als er die entfernte Warze in eine Schüssel warf, hörte ich ein metallisches Geräusch. Der Arzt wollte ganz offensichtlich verhindern, dass ich einen Blick darauf warf, doch beim Rausgehen aus dem OP gelang es mir trotzdem und ich erkannte eine winzige Antenne! Die Warze war also die Stelle, an der die Antenne aus meinem Körper gewachsen ist!!!!!«
Ich drückte auf »Senden« und rechnete fest damit, umgehend aus diesem Forum geworfen zu werden – doch weit gefehlt: Während der nächsten Stunden entspann sich ein regelrechter Wettbewerb, wer nach meiner die krasseste Antennen-Arzt-Geschichte zu bieten hatte. Eine Userin mit dem schönen Nickname »Engelstaub« berichtete zum Beispiel, dass ein Frisör ihr beim Haareschneiden zufällig einen kleinen Sender aus der Kopfhaut entfernt hatte – woraufhin sie sich gleich viel freier in ihren Entscheidungen fühlte! Bei »Sucher der Tiefe« war es die Nachbarin, die sich selbst eine kleine Antenne aus dem Unterarm geschnitten hatte, weil sie die warmen Strömungen und das Prickeln des Senders nicht mehr ertragen hatte. »Lillifee« hingegen nahm meine Geschichte dankbar auf und wollte sie gleich am nächsten Tag mit ihrem Schamanen besprechen – schließlich fühlte sie sich auch schon seit Jahren so »fremdgesteuert«. Lediglich der User »Walgesang« meldete leise Zweifel an, denn er hatte noch nie gehört, dass sich jemand nach der Entdeckung einer solchen Antenne noch frei bewegen konnte – alle ihm bekannten Personen, bei denen das geschehen war, seien schließlich verschwunden und bis heute wisse auch niemand, wohin.
Um vier Uhr morgens kapitulierte ich und meldete mich wieder von diesem Forum ab. Schließlich musste ich in ein paar Stunden zur Arbeit gehen. Ich hoffte, dass sich meine Kopfschmerzen – vom Wein und der Warzenverschwörung – in Grenzen halten würden, und nahm mir vor, morgens als Erstes einen Arzttermin auszumachen. Das mit dem Vereisen hatte doch gar nicht so übel geklungen.