Читать книгу Wahnsinn Wartezimmer - Heike Abidi - Страница 17

Die Rettung

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»Herr Friedrichs, bitte schon mal vor Raum zwei Platz nehmen und Frau Stelter bitte in Raum acht«, krähte eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher über der Tür. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her, denn wo Leute waren, konnte ich nicht still sitzen. Alle beharrten immer auf ihrer beschissenen Einzigartigkeit, dabei lebten sie als kleine Lifestyle-Zombies in einem Haufen bunter Curver-Boxen, beschriftet und sortiert. Dass ich selbst auch nicht anders war, bemerkte ich aber immer erst dann, wenn ich mit anderen Menschen gemeinsam in einem Zimmer saß. Dann gruselte es mich, weil wir gern so viel sein wollten, aber nur so wenig sein konnten.


Linksträger oder Schürzenjäger, Pazifisten oder Anarchisten.

Familienväter, Mütter, Einzelkinder oder Lebenskünstler. Wiederholungstäter, Nichtraucher oder Bedenkenträger. Arbeitnehmer, Arbeitgeber oder Leistungsverweigerer. Wir durften schwul sein, hetero oder alles zusammen. Linksträger oder Schürzenjäger, Pazifisten oder Anarchisten. Akademiker oder Zahntechniker, Abendländer oder Morgenständer. Für alles gab es eine eigene Beschriftung auf der Curver-Box. Wir konnten high sein oder zwei sein, wir durften in jeder Hinsicht das Gefühl haben, wählen zu können, welche der vielen Kisten wir wollten.

Ich selbst stapelte meine Boxen in verschiedene Farben, beschriftete sie vorn mit Edding, und wenn all die anderen Leute nicht wären, könnte ich glauben, dass sich daraus ein Ganzes ergäbe, etwas, das mich ausmachte. Nur mich. Samsung oder iPhone, Hippie oder Hipster, Einbauküche oder Kinderwunsch, Wellness oder Weltreise – das konnte ich mir alles selbst aussuchen. Genau wie die anderen auch. Aber was wir uns aussuchten, war noch niemals so egal wie heute.

High Heels betraten das Wartezimmer, flüsterten »Guten Morgen« und setzten sich neben Vans. Lila Halstuch griff sich den Stern, Undercut spielte auf dem Handy. Der hatte es gut, dachte ich, der war Kassenpatient und durfte im Wartezimmer die Runde Ninja Fruit wenigstens zu Ende spielen, bevor er aufgerufen wurde.

Tätowierung am Hals saß mir gegenüber. Sie war hübsch und schaute mich an. Kreuzanhänger am Hals saß weiter links, wirkte verklemmt und schaute auf den Boden.

Ich ging auf die Toilette, und als ich wiederkam, saß Bauchfrei auf meinem Platz. Ich wollte mich gern neben Tätowierung am Hals setzen und nahm mir den Spiegel vom Zeitschriftenstapel, denn ich wollte nicht, dass sie mich für Bild am Sonntag hielt, wobei ich wusste, dass das mittlerweile auch keinen Unterschied mehr machte. Außerdem wollte ich kein Gespräch anfangen müssen, auch wenn ich gern mit ihr geredet hätte. So richtig tätowiert, dachte ich, war man heute zwar erst, wenn man gar nicht tätowiert war, aber Tätowierung am Hals war wenigstens nicht Tätowierung am Bein oder auf dem Unterarm, sie war Kompass und nicht chinesisches Schriftzeichen oder der geschwungene Schriftzug: La vida de la familia.

»Darf ich?«

»Klar.«

Ich setzte mich.

Sie hatte Tunnels, aber die waren weniger als acht Millimeter groß, damit die Ohrlöcher später auch wieder zusammenwachsen würden, und sie war Septum mit Ball-Closure-Ring. Das war besser als Nostril, denn Nostril war Arzthelferin. Septum aber war Philosophiestudentin.

Ich schaute sie eine Weile aus den Augenwinkeln an, dann aber sah ich, wie sie ihre Hände aus den Jackentaschen zog und plötzlich auch French Nails war. Außerdem, das sah ich jetzt erst, war sie auch Frei.Wild-Button am Kragen. Die Postmoderne hat uns endgültig bei den Eiern, dachte ich. Alles ist Text und Prätext – das ist aber auch nur für die interessant, die lesen können. Das haben die damals nicht zu Ende gedacht. Und jetzt saßen wir hier herum mit unserer Randomkultur, jeder war alles und alles war scheißegal.

Auch French Nails schaute mich aus den Augenwinkeln an, dann wagte sie den Anfang.

»Warum bist du hier?«


Schließlich fragte ich sie auch nicht: »Und? Scheidenpilz?«

Ich antworte nicht direkt – die Enttäuschung war zu groß, dass aus Tätowierung am Hals so schnell French Nails geworden war und dass ich mit diesem Zufallsmix aus Zeug jetzt gar nichts mehr anfangen konnte. Außerdem mochte ich kaum glauben, dass jemand tatsächlich so eine Frage stellte. Schließlich fragte ich sie auch nicht: »Und? Scheidenpilz?«

»Also, ich werde heute noch mal geimpft«, erzählte sie weiter. »Gegen Gelbfieber. Ich fliege in drei Wochen mit meiner besten Freundin nach Bolivien, und darum.«

»Aha«, sagte ich. Was sollte man auch sagen, wenn jemand nur deswegen etwas fragte, damit er von sich selbst erzählen konnte. French Nails wollte dann aber doch noch wissen, weswegen ich hier war, und schaute mich weiter erwartungsvoll an.

»Schilddrüsenkarzinom«, sagte ich. »Mit etwas Glück habe ich noch zwei Monate.«

Selbstverständlich war das gelogen. Eigentlich fehlte mir gar nichts. Ich hatte heute Morgen nur keine Lust gehabt, zur Arbeit zu gehen. Das wollte ich French Nails jedoch nicht sagen. Außerdem wäre Krebs ja durchaus möglich gewesen, wenn man schon zum Arzt ging. Und ich fand, das sollte man wissen, bevor man so eine Frage stellte.

»Oh«, sagt sie.

Jetzt war sie betroffen, wurde jedoch viel zu schnell von der Stimme aus dem Lautsprecher erlöst, stand wortlos auf und nahm vor Raum drei Platz.

Wenigstens sind wir alle Patienten, dachte ich. Und zwar immer und von Geburt an. Denn selbst wenn wir noch nichts hatten, hatten wir doch eines: Angst vor dem, was wir in Zukunft noch bekommen könnten. Wir waren also schon Patienten, bevor wir überhaupt wussten, weswegen. Wenigstens das war noch eine verlässliche Größe. Und so hassten wir den Sport, gingen aber zweimal die Woche laufen. Wir liebten Schokolade und wir liebten auch Fritten, aber wir aßen Salat. Rauchen war toll, aber es machte uns krank und später auch tot, also ließen wir es sein. Auch Alkohol war wunderbar – wenn es gesellschaftlich nicht so geächtet wäre, ich glaube, ich wäre jeden Tag um elf schon besoffen. Aber auch hier rief die Angst von Weitem, dass man das so nicht machen sollte. Und ausgerechnet im Wartezimmer lagen waschkörbeweise Zeitschriften und Magazine aus, die mich erst darüber informierten, welche Krankheiten ich noch bekommen konnte, die ich bislang ja noch gar nicht bedacht hatte. Und jetzt las ich gleich nach, was ich tun musste, um sie nicht zu bekommen. Das kam alles mit auf die Liste, auch darauf hatte ich in Zukunft zu achten, denn offenbar hieß Leben, so lange wie möglich durchzuhalten, und wenn ich schon sterben musste, dann Hauptsache gesund. Wir waren lebenslang Patienten, weil wir alle von Angst getrieben wurden, aber fest daran glaubten, wir hätten es selbst in der Hand, was aus uns werden würde.

Die Analfissur stand jetzt auf und setzte sich vor Raum drei, die Gelbfieberimpfung räumte den Platz und wurde zur Eucharistie empfangen, um schon bald die Hostie des Impfschutzes intravenös zu empfangen. Halsschmerzen kamen ins Wartezimmer und setzten sich neben mich, aber schon bald wurde auch ich aufgefordert, in Raum zwei zu warten.

»Tut das weh?«

»Nein.«

»Und das?«

»Auch nicht.«

Mein Hausarzt war ein gewissenhafter Mann, und so klopfte er und schaute und horchte und tat, was Ärzte taten, wenn sie eine Berufung hatten.

»Ich kann nichts feststellen«, sagte er nach einer Reihe weiterer Untersuchungen und er schien keine Erklärung dafür zu haben. »Soweit ich das sehen kann, sind Sie kerngesund.«

»Das kann gar nicht sein«, sagte ich. »Sind Sie sich da ganz sicher?«


»Ich hatte eine bildschöne Vorhaut und für Krebs war ich nicht so der Typ.«

»Na ja, weil Sie es sind, kann ich ja noch mal nachschauen«, sagte er. »Vielleicht finde ich ja noch einen Tumor oder eine Phimose. Hätten Sie gern etwas Bestimmtes?«

Ich überlegte. Phimose würde sicher nicht reichen, um den Rest der Woche zu Hause zu bleiben und Krebs war wohl ein bisschen zu viel des Guten. Außerdem konnte ich mir beides nicht so recht für mich vorstellen – ich hatte eine bildschöne Vorhaut und für Krebs war ich nicht so der Typ. Es gab Erkrankungen, bei denen ich mir sicher war, dass ich sie niemals bekommen würde. Die passten einfach nicht zu mir. Neurodermitis zum Beispiel – das war nichts für Leute wie mich. Auch Akne oder Warzenbildung … Ich möchte meinen, den gesamten Komplex »Hautunreinheiten« für mich ausschließen zu können. Das war eher etwas für verschwitze Versicherungsfachangestellte, gedrungene Arbeitssklaven, die in ihrer Freizeit zum Ausgleich Death Metal hörten. Neurodermitis – das kriegte man, wenn man dauerhaft unter dem Skrotum des Geschäftsführers wohnte. So einer war ich nicht.

Auch Herzinfarkt oder Schlaganfall waren meine Sache nicht – ich rauchte ja nicht und trieb regelmäßig Sport. Wie ich schon sagte, die Überlebensregeln kannte ich, und ich befolgte sie. Außerdem waren Herz-Kreislauf-Angelegenheiten nur etwas für Karrieristen und Menschen, die gestresst durch die Welt gingen. All das kam für mich also auch nicht infrage.

»Ich hatte da jetzt keine konkreten Vorstellungen«, antwortete ich schließlich, als ich die Liste möglicher Todesursachen durchhatte und fand, dass irgendwie so gar keine von denen zu mir passte, außer vielleicht Busunglück. Das war aber streng genommen keine Krankheit.

»Ich schreibe Sie mal für den Rest der Woche krank«, sagte mein Arzt jetzt und schaute dabei wissend und persönlich enttäuscht von meiner fehlenden Arbeitsmoral über den Rand seiner Brille. »Reicht das?«

»Ja, sicher«, sagte ich. »Aber was habe ich denn?«

»Das können Sie sich aussuchen.«

»Na, aber irgendetwas müssen Sie da jetzt doch reinschreiben.«

»Wir haben alle unsere Geheimnisse«, sagte er, »gute Besserung.« Damit stand er auf und reichte mir die Hand.


Wenigstens unsere Krankheiten waren echt.

Ich konnte mir also eine Krankheit aussuchen, wunderte ich mich, als ich auf die Straße trat, und doch konnte ich mir keine Krankheiten vorstellen, die zu mir passten. Die Vorstellung, eine Wahl zu haben, war offenbar ein fehlgeleitetes Glücksversprechen. Denn ehrlicherweise hatte ich gar keine Wahl – die Krankheit findet dich und nicht umgekehrt. Um eine Wahl zu haben, hätte ich mich zwar für eine Krankheit entscheiden können, die mich später einmal aus dem Leben reißen sollte, und dann hätte ich lediglich konsequent darauf zuarbeiten müssen. Einmal die Leberzirrhose bitte und dann beginne ich gleich morgen früh mit dem asozialen Konsum von Doppelkorn. Doch dazu war ich zu feige. Und selbst wenn ich dazu nicht zu feige gewesen wäre, wäre das ja auch noch lange keine Garantie, dass ich bekommen würde, was ich bestellt hätte. Am Ende würde es dann doch Lungenkrebs werden, obwohl ich nie geraucht hatte. Wer wusste das schon? Und das hieß wieder, wenigstens unsere Krankheiten waren echt. Da gab es nichts auszusuchen. Nur als Patient gab es ein Leben ganz ohne Lifestyle-Dreck. Raus aus den Curver-Boxen und rein in die Dialyse! Darum hatten wir dann auch das absurde Gefühl, aus dem Leben geworfen zu werden, wenn es uns endlich traf. Das ist ’ne Bank, dachte ich, darauf können wir uns verlassen: Es wird passieren. Irgendetwas wird uns immer irgendwann passieren. Früher oder später. Und obwohl wir uns alle Mühe geben und so tun, als könnten wir es vermeiden, haben wir nichts in der Hand. Das fand ich unfassbar beruhigend.

Also ging ich in den Biergarten und setzte mich zu Schilddrüsenüberfunktion mit Nickelbrille – sie war wenigstens nicht Sonnenbrille im Haar, denn Sonnenbrille im Haar war BWL-Studentin, Nickelbrille war Theaterpädagogin. Ich bestellte ein Bier. Ach, und bringen Sie auch einen Aschenbecher, bitte.

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