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53. J. L. Braunhardt180
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Als vierzehnjähriger Knabe... machte ich zuerst die Reise nach Berlin... Meine erste Sorge war nun, irgendwelchen Schulunterricht zu empfangen, da ich bis dahin noch gar keine allgemeine Bildung hatte. Mein Gönner erzählte mir, daß sich in Berlin ein Verein gebildet, dessen Aufgabe es sei, Jünglinge meines Glaubens in allen Fächern der Wissenschaft zu unterrichten. Zu diesen wohltätigen und gelehrten Männern, welche die Unterrichtsanstalt des Kulturvereins begründeten und leiteten, gehörten damals Leopold Zunz, Eduard Gans, Moses Moser, Dr. J. Auerbach, Dr. Rubo, H. Normann, Ludwig Marcus, Dr. Schönberg, Dr. Österreich und – Heinrich Heine.
Von den Schülern der Anstalt, welche mit mir an dem Unterricht teilnahmen, kann ich hauptsächlich nur noch einen nennen: den später weltberühmten Orientalisten Salomon Munk...
Die Unterrichtsstunden, die uns Heine erteilte, bestanden in Französisch, Deutsch und deutscher Geschichte. Sein Vortrag war ein ganz vorzüglicher. Mit großer Begeisterung, ja mit einem unnachahmlichen poetischen Schwunge schilderte er die Siege Hermanns oder Arminius’ des Deutschen und die Niederlage des römischen Heeres im Teutoburger Walde. Hermann oder Arminius war ihm das Muster eines großen Helden und Patrioten, der sein Leben, sein Alles wagte, um seinem Volke die Freiheit zu erkämpfen und das römische Joch abzuwälzen. Als Heine mit überlauter Stimme, wie einst Augustus, ausrief: „Varus! Varus! Gib mir meine Legionen wieder!“ frohlockte sein Herz, seine schönen Augen glänzten und sein ausdrucksvolles männliches Gesicht strahlte vor Freude und Wonne. Wir, seine Zuhörer, waren höchst überrascht, ja erschüttert; noch nie zuvor hatten wir ihn mit einer solchen Begeisterung sprechen gehört. Wir hätten ihm die Hände küssen mögen, und unsere Verehrung gegen ihn wuchs in einem hohen Grade und blieb für unser ganzes Leben unvergänglich. Daß er sich bei dieser Gelegenheit auch über das gegenwärtige Deutschland äußerte, war selbstverständlich. Ich erinnere mich ganz zuverlässig, daß er dabei die damalige Zerrissenheit unseres Vaterlandes aufs tiefste beklagt und wörtlich gesagt hat: „Wenn ich auf die Karte Deutschlands blicke und die Menge von Farbenklecksen schaue, so überfällt mich ein wahres Grauen. Man fragt sich vergebens, wer regiert eigentlich Deutschland?“...
Nur selten äußerte er sich über Politik und Religion. Nur einmal sagte er während des Unterrichts etwa folgendes: „Die israelitische Religion hätte Weltreligion werden können, wenn sie keine Theokratie mit Priestern, Opfern, Zeremonial- und Ritualgesetzen gewesen wäre; das alles war eine Überbürdung für den denkenden Menschen und somit für das damals bestehende Heidentum unannehmbar. Eine Reform war nicht möglich und wäre gefährlich geworden, weil die priesterliche Gewalt alle diejenigen verfolgte, welche es wagten, an irgendeine Reform zu denken. Aus dem Grunde wurden Tausende genötigt, in den neuen Glauben einzutreten. Auf diese Art und Weise geht es heute noch fort; man übt Toleranz gegen alle Rassen, mögen sie Heiden oder nomadische Zigeuner sein; aber Toleranz und Anerkennung gegen Juden findet man nur bei den hochherzigsten und wahrhaft edel gesinnten Männern der sogenannten christlichen Welt. Kein Mensch kann in Wirklichkeit Atheist sein; seiner Natur nach muß er an ein höheres Wesen denken und nach dem höchsten Ideal der Moralität streben. Das ist seine Bestimmung, und nur das allein ist der Kern des Judentums, welches zuerst das heiligste aller Gebote: Du sollst deinen Nächsten als dich selbst lieben, lehrt.“
Mit Lust und Liebe lernten wir auch bei ihm Französisch... Ich bin als 93jähriger Greis noch heute stolz darauf, sagen zu dürfen, daß mich der große Dichter besonders begünstigte. Scherzweise nannte er mich seinen kleinen Famulus Wagner. Ich mußte ihm Bücher aus der königlichen Bibliothek holen und wechseln, ebenso andere kleine Dienste leisten. Dafür wurde ich von dem edlen Manne reichlich belohnt. Soviel ich mich noch zu erinnern vermag, stand Heine zu jener Zeit in der blühendsten Jugend. Seine Gestalt war mehr groß als gedrungen, sein schönes, noch jugendliches Gesicht strotzte von Gesundheit. Sein hübschgeformter Kopf war mit blonden Haaren bedeckt. Von seiner orientalischen Abstammung war in seinem Äußeren nichts zu erkennen. Er war stets modern und elegant gekleidet. Mit einem Worte: „He was a real gentleman comme il faut“, von der Fußsohle bis zum Scheitel.
Sehr oft sprach Heine von seiner Mutter, die er mit wahrer Zärtlichkeit liebte. „Meine Mutter“, sagte er, „stammt wahrscheinlich von einer adeligen jüdischen Familie ab. Die öftere Vertreibung der Israeliten aus den europäischen Ländern hat meine Ahnen nach Holland geführt, in welchem Lande das Wörtchen von in van verwandelt wurde.“
So oft er über Duldung und Glaubensfreiheit sprach, gab er uns den Rat, nach Amerika oder wenigstens nach England auszuwandern. „In diesen Ländern falle es niemandem ein zu fragen: Was glaubst du, oder was glaubst du nicht? Jeder kann da nach seiner Façon selig werden.“
Oft erzählte er kleine heitere Geschichten aus seiner Schulzeit. Unter anderm erzählte er, daß es ihm einmal fast so ergangen sei wie dem Spiegelberg mit dem Hunde. Von seinem engeren Vaterlande, dem Rheinlande, sprach er mit Begeisterung und schilderte es als ein Paradies auf Erden.
[„Spiegelberg mit dem Hunde“: Erzählung Spiegelbergs in Schillers „Räubern“ (I2), wie er als Knabe einen Hund aufs äußerste reizt, das Tier sich unvermutet von der Kette losreißt, sich auf seinen Peiniger wirft und dieser sich nur durch Überspringen eines Grabens rettet, über den er bis dahin nie hinübergekommen war: „die Kräfte wachsen in der Not“.]