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Wie Mister Phipps zum Nordpol fuhr

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In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts machte die Frage nach dem kürzesten Seeweg nach Japan, China und Indien der Londoner Admiralität aufs neue gewaltiges Kopfzerbrechen. England war unterdes eine bedeutende Seemacht geworden, wenn auch noch keineswegs Alleinherrscherin auf allen Meeren; aber es faßte damals gerade in Indien festen Fuß, und eine schnellere Verbindung der neuen Kolonien mit dem Mutterland war deshalb ein außerordentlich wichtiges Problem. Eine Fahrt nach Bengalen um Südamerika herum durch den Stillen Ozean dauerte rund ein Jahr und war immer eine teure Sache, denn sie kostete gewöhnlich die Hälfte der Mannschaft, die, angewiesen auf Pökelfleisch und Schiffszwieback, dem Skorbut zum Opfer fiel. Die Auffindung einer Nordwest- oder Nordostdurchfahrt war daher ein Ziel aufs innigste zu wünschen, und selbst der Weg direkt über den Pol hinweg war auf alle Fälle gesunder und erschien weniger gefährlich als ein Sturm in der Südsee oder eine ebenso mörderische Windstille in der Gluthitze des Äquators.

Wie es am Pol aussehe, darüber wurde von Gelehrten und Ungelehrten andauernd mit Eifer disputiert. Die einen glaubten an ein Festland hoch oben im Norden; andere fabelten von einem Magnetberg mitten in eisfreiem Wasser, das aber von einer gewaltigen Eismauer umgeben sei; es gelte nur, den günstigen Zeitpunkt abzupassen, um diese Mauer zu durchdringen, wenn die Springfluten des Vollmonds das Eis in Bewegung setzten. Noch andere behaupteten, daß aus unergründlichen Tiefen gewaltige Strudel vom Nordpol herabkämen und die Gezeiten verursachten, diese gewaltige, geheimnisvolle Bewegung der Meere.

Ein biederer Landvogt in der Schweiz namens Engel hatte seine eigene Theorie. Er war zwar nie da oben gewesen, hatte sich aber sein Leben lang mit dem Rätsel des Nordpols abgequält und glaubte ihm auf die Spur gekommen zu sein. Eine undurchdringliche Eisbarriere um den Nordpol, so erklärte er mit aller Bestimmtheit der aufhorchenden englischen Admiralität, gebe es überhaupt nicht; im Gegenteil: Meerwasser gefriere überhaupt nicht; alles Eis komme lediglich aus dem Innern der arktischen Länder, aus ihren Flüssen und Gletschern, die sich nach dem Nordpol zu entleerten. Eben deshalb sei es auch in jenen Breiten so kalt. Der Schlaukopf verwechselte die Ursache mit der Wirkung. Seine verblüffende Theorie aber gab den Admiralen in London immerhin zu denken, und die Darlegungen des englischen Naturforschers Barrington, der immer wieder auf die Ergebnisse früherer Polarreisen hinwies, machten Eindruck. Wenn man den Versicherungen der Walfischfahrer glaubte, die seit anderthalb Jahrhunderten die Küsten Grönlands und Spitzbergens allmählich aufgeklärt hatten, schien ein Durchbruchsversuch in dieser Gegend kein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Der eine wollte ganz behaglich bis zum 82. Grad hinaufgeschwommen sein, der andere sogar auf der Suche nach den unbekannten Meeren, wohin im Sommer die Wale verschwinden, um sich zu paaren, mit seinem Segler den 88. Grad erreicht haben. Die Chronik der Grönlandfahrer wußte allerdings auch von hohen Schiffsverlusten zu erzählen; mit abschreckender Regelmäßigkeit verschwanden alljährlich zehn bis zwanzig Fahrzeuge spurlos im ewigen Eis; hatte die Mannschaft Glück, dann wurde sie nach abenteuerlicher Schollenfahrt und furchtbaren Strapazen von einem andern Schiff aufgenommen und nach Hause gebracht. Der Opfer an Menschenleben waren auch im hohen Norden unzählige. Aber daß Spitzbergen, im Westen vom Golfstrom bespült, zeitweise ein ganz erträgliches Klima besaß, im Gegensatz zu Ostgrönland, hatte schon Hudson beobachtet, und daß große Meeresstrecken da herum schiffbar seien, war nach den übereinstimmenden Zeugnissen zahlreicher Seefahrer nicht zu bestreiten. Es mußte nur der rechte Mann kommen, um dieses Ei des Kolumbus auf seine Spitze zu stellen, und das konnte nach menschlichem Ermessen nur ein Engländer sein. Im Jahre 1773 beschloß die englische Admiralität, die Sache nun einmal energisch in die Hand zu nehmen, und sandte den Kommandeur Mister C. J. Phipps mit zwei Seglern aus, mit dem Befehl, die Eisverhältnisse da oben genauestens in Augenschein zu nehmen und möglichst auch den Weg nach China über den Nordpol hin ausfindig zu machen. Die beiden Dreimaster „Racehorse“ und „Carcasse“ waren die stattlichsten Schiffe der englischen Flotte und wurden aufs sorgfältigste ausgerüstet, auch, wie sich das für ein englisches Kriegsschiff geziemt, ordentlich mit Kanonen bestückt. Kapitän Lutwidge allerdings, der Führer der „Carcasse“, sah nicht recht ein, was ihm die Geschütze im Kampf mit dem Eis helfen sollten, und ließ von seinen acht gleich sechs wieder ausladen und statt dieses unnützen Ballastes Winterausrüstung für seine Mannschaft an Bord nehmen. Die Besatzung bestand aus 90 Mann, die besonders angemustert wurden, lauter Vollmatrosen, keine Schiffsjungen, und mehr Offiziere als sonst, wie Mister Phipps ausdrücklich in seinem Tagebuch bemerkt.

In diesem übrigens maßlos trocknen Tagebuch liest man, wenigstens im Anfang, deutlich zwischen den Zeilen, daß es für zwei Segelschiffe der königlichen englischen Marine eine Kleinigkeit sein müsse, mit einem schnellen Handstreich den Nordpol zu nehmen, und zuerst ließ sich die Reise auch ganz gut an. Vor Spitzbergen fanden sie das Meer eisfrei; an der Magdalenenbucht vorbei ging es in flotter Fahrt zur Küste Vogelsang und zum Cloven-Cliff, einer merkwürdigen schwarzen Klippe, die, an Gestalt einem riesigen Ochsenzahn ähnlich, aus dem offenen Meer emporzuragen scheint und nur durch eine ganz schmale, kaum sichtbare Landzunge mit der Küste in Verbindung steht. Aber schon Anfang Juli waren beide Schiffe ringsum vom Eis umgeben, und nun begann ein ermüdender Kleinkrieg mit Schollen und Packeis. Die beiden Engländer hatten unverdientes Pech: wenn das Eis auseinanderging und die schönsten Wasserstraßen nach Norden blinkten, war gewöhnlich völlige Windstille, so daß sie die beste Gelegenheit versäumten, und wenn der Wind sich endlich aufmachte, kam er vom Nordpol her, und sie mußten sich im Schutz des Landes halten, um nicht zurückzutreiben. Die Nachrichten, die heimkehrende Grönlandfahrer brachten, klangen auch wenig verheißend: drei Schiffe waren neuerdings vom Eis zerquetscht worden. An der Kreuzbucht, der heutigen Kingsbai, vorbei kam die englische Flottille noch glücklich um die gefährlichen Felsen der Moffeninsel herum, aber sobald sie zwischen den sieben Inseln den 80. Breitengrad erreichte, erwies sich die Eisbarriere als völlig unzugänglich. Die Mannschaft trieb auf dem blanken Eise Sport, die Offiziere loteten fleißig, fanden das Packeis an acht Meter dick, machten Ausflüge aufs Land, nahmen Winkelmessungen vor und leisteten wertvolle wissenschaftliche Arbeit. Die Aussicht nach Norden hin erwies sich aber als hoffnungslos: nirgends war eine Öffnung in der kompakten Eismasse zu entdecken, und die Eispressungen setzten den beiden Schiffen so gewaltig zu, daß die tapferen Engländer nervös wurden und ihre stolzen Segler samt den Kanonen im Stich zu lassen beschlossen. Die Boote wurden herabgefiert, jeder bekam ein Säckchen mit 20 Pfund Brot, nur das Allernotwendigste wurde eingeladen, alles übrige der Mannschaft freigegeben. Die Leute suchten sich aus den reichen Kleiderschätzen der Offiziere das Lockendste aus und liefen nun in phantastischen Uniformen umher. Die Boote wurden auf Kufen gestellt und mit furchtbarer Mühe südwärts über das Eis gezogen. Das ging verzweifelt langsam, so daß die Mannschaft zum Essen und Schlafen immer noch leicht zu den Schiffen zurückkehren konnte, an deren Rettung man noch nicht ganz verzweifelte. Und diesmal hatten die Engländer mehr Glück. Nach drei Tagen schob ein günstiger Wind das Eis auseinander und legte sich so nachdrücklich in die Segel, daß die ausgesetzten Boote nur mit knapper Not noch rechtzeitig wieder hereingeholt werden konnten. Am 12. August schon lag jede Eisgefahr hinter ihnen. Mister Phipps ließ noch bei Kap Hacklyt, auf der Amsterdaminsel und im alten Smeerenberg anlegen und besichtigte dort die Ruinen ehemaliger holländischer Trankochereien. Dann kehrte er wohlbehalten in die Heimat zurück, ohne eine Kanone verloren, ohne allerdings auch den Weg zum Nordpol gefunden oder den Ruhm geerntet zu haben, höher hinauf gekommen zu sein als der gewöhnlichste Walfischfahrer.

Ist diese Expedition des Mister Phipps, späteren Lords Mulgrave, nicht ohne einen Anflug von Komik, so darf doch nicht verschwiegen werden, daß ihre wissenschaftlichen Ergebnisse von großer Bedeutung waren, daß sie sogar die erste wissenschaftliche Polarexpedition genannt werden muß. An geographischen, meteorologischen, geologischen Feststellungen, an Beobachtungen der Tier- und Pflanzenwelt ist das Tagebuch des Lords ungewöhnlich reich; er versuchte die Tiefe des Eismeeres und seine Temperatur zu ergründen, was damals nur erst wenigen einfiel, und schließlich ist die Expedition Phipps noch dadurch bemerkenswert, daß der große englische Seeheld, Admiral Nelson, als fünfzehnjähriger Freiwilliger an ihr teilnahm.

Der Ruf des Nordens. Abenteuer und Heldentum der Nordpolfahrer

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