Читать книгу Der Ruf des Nordens. Abenteuer und Heldentum der Nordpolfahrer - Heinrich Hubert Houben - Страница 14
Das neue Bild der Welt
ОглавлениеEs gibt eine Karte Nordamerikas aus dem Jahre 1742, auf der die Westküste nach dem Stillen Ozean hin dicht hinter der Hudson-Bai hinläuft. Ein Jahr später setzte England einen Preis von 20000 Pfund für die Auffindung eines Verbindungsweges aus, die jener Karte zufolge nicht übermäßig schwer erschien. Von der ungeheuren Landfläche Amerikanisch-Sibiriens, das in die Halbinsel Alaska ausläuft, hatte man damals noch keine Vorstellung, obgleich die äußersten Vorgebirge Alaskas bereits von der Alten Welt aus gesichtet worden waren. Die nordischen Expeditionen der Russen, mit bewundernswerter Ausdauer, Sachkenntnis und überlegenen Mitteln ausgeführt, hatten fast die ganze Nordküste Sibiriens klargelegt; 1742 erreichte und umfuhr der Steuermann Tscheljuskin Sibiriens nördlichste Spitze, die nach ihm benannt wurde, und schon 1728 war der Kommandeur-Kapitän Veit Bering, ein Däne in russischen Diensten, in die Straße eingelaufen, die seinen Namen führt, ohne daß er jedoch ihre Bedeutung erkannt hätte. Dieses Verdienst gebührt vielmehr einem Kosaken namens Gwosdew, der 1730 vom Lande der Tschuktschen aus zum erstenmal die Bering-Straße überquerte, an der gegenüberliegenden Küste Alaskas landete und dort Eingeborene traf, deren Sprache er nicht verstand. Die Alte und die Neue Welt rückten damit in überraschende Nähe. Aber es dauerte noch ein Menschenalter, ehe das Bild Nordamerikas klarer aus dem Dunkel hervortrat. Ein nochmaliger Versuch Englands, die Nordwestdurchfahrt zu erzwingen, aber diesmal von der andern Seite, von der Südsee aus, führte zu diesem hochbedeutsamen Ergebnis. Führer der Expedition war der berühmte Weltumsegler James Cook, der 1778 von den Sandwich-Inseln herauf in die Grenze zweier Welten, die Bering-Straße, einfuhr; er kam nur bis zum 70. Breitengrad, bis zum Eiskap; hier verlegten ihm die Eismassen den Weg. Aber er kreuzte zwischen der asiatischen und amerikanischen Küste hin und her, und nun begann sich die Landkarte mit neuen Linien zu füllen. Auch andere Versuche, auf diesem Wege die Nordküste Amerikas zu umfahren, scheiterten. Bemerkenswert ist darunter die russische Expedition vom Jahre 1815, an der ein deutscher Dichter, Adelbert von Chamisso, als Naturforscher teilnahm; seine köstliche Schilderung dieser Reise findet sich in seinen Werken.
Als Cook seine Fahrt 1778 antrat, hatte England die vorhin erwähnte Prämie von 20000 Pfund jedem Entdecker verheißen, der irgendeine nördliche Verbindung zwischen den beiden Ozeanen finden werde. Aber je klarer nun bald das Weltbild wurde, je gewaltiger sich die ungeheuern Kontinente Asiens und Amerikas nach dem Norden vorschoben, um sich schließlich, bei der Bering-Straße, fast zu vereinigen zu einem einzigen Wall gegen den Stillen Ozean, um so mehr mußte man an der Lösung des Problems verzweifeln. Seine praktische Bedeutung verlor es gänzlich, als England aus den Kriegen der napoleonischen Zeit, dank den Siegen des Admirals Nelson über die Franzosen, Dänen und Spanier, als unumstrittene Seemacht hervorging. In den Gewässern Grönlands und Spitzbergens, der Heerstraße so vieler entschlossener, aber erfolgloser Nordpolfahrer, war nun wieder der Walfischjäger und Kaufmann Alleinherrscher.
Solch ein Walfischjäger war es, der 1817 das Signal zur Wiederaufnahme der Polarforschung geben sollte. Und damit beginnt das Zeitalter der wissenschaftlichen Polarforschung, die, unbekümmert um unmittelbare praktische Ziele, nur von dem Streben beseelt ist, unsere Kenntnis der Erde zu erweitern, bisher unzugängliche Gebiete der Erdoberfläche zu erschließen, die Ergebnisse dieses Studiums in unsere bisherige fragmentarische Weltbetrachtung einzufügen und für die zahllosen, uns noch beunruhigenden Rätsel der Alten Welt die Lösung in neu entdeckten Zonen zu finden. Daß die englische Admiralität, der für die Handels- oder Kriegsflotte an der Auffindung einer nördlichen Durchfahrt, dem verblaßten Traum der letzten Jahrhunderte, nichts mehr gelegen war, dennoch für die wissenschaftliche Polarforschung die Initiative ergriff, ist ein Verdienst des englischen Geographen John Barrow, der es fertigbrachte, den Ehrgeiz Großbritanniens als Schrittmacher der Wissenschaft zu gewinnen.
Unter den englischen Walfischfängern erfreute sich damals William Scoresby eines ungewöhnlich hohen und wohlverdienten Ansehens. Seit 1806 war er in den Meeren Spitzbergens zu Hause wie keiner seiner Zunftgenossen, er war im Mai 1806 in tollkühner Fahrt bis über den 81. Grad nach Norden vorgedrungen und erwarb sich auf zehn Fischzügen von 1810 bis 1822 nicht nur Reichtümer, sondern auch Kenntnisse der Arktis, in denen ihm nur einer gleichkam, sein Sohn, der ihn auf den meisten Reisen begleitet hatte. Dieser jüngere Scoresby, der ebenso wie sein Vater in wissenschaftlicher Hinsicht Autodidakt war, hat 1819 ein Buch über den Walfischfang herausgegeben, das sich noch heute sehen lassen kann, und dieser selbe Scoresby war es, der im Jahre 1817 die Londoner Gelehrten darauf aufmerksam machte, daß infolge eines ungewöhnlich heißen Sommers das Eis in den nördlichen Meeren überall in starker Bewegung sei; eine solche Gelegenheit, in höhere Breitengrade, vielleicht gar bis zum Nordpol, hinaufzukommen, werde wohl so bald nicht wiederkehren. Die englische Admiralität ließ sich das gesagt sein und rüstete sofort zwei Expeditionen aus. Die eine davon sollte Scoresby selbst übernehmen, aber da er nur ein Handelskapitän war, wurde ihm ein Offizier der königlichen Marine vorgesetzt; er trat deshalb zurück. Kommandeure der beiden Expeditionen wurden nun die Kapitäne John Ross und David Buchan. Ross sollte mit zwei Schiffen, „Alexander“ und „Isabella“, die Baffin-Bai aufwärts fahren, die man seit 200 Jahren gemieden hatte, und Buchan, ebenfalls mit zwei Schiffen, zwischen Spitzbergen und Grönland geradeswegs zum Nordpol vordringen und weiter in den Stillen Ozean hinein. Vorbild des einen war also Baffin, Vorbild des andern Hudson, zwei Namen, die das Größte erwarten ließen, und um den Eifer der gesamten Schiffsmannschaft anzuspornen, wurde für Erreichung des 110. Längengrades innerhalb des Polarkreises, also etwa der jetzigen Melville-Insel, ein Preis von 5000 Pfund Sterling, für die Überquerung des Nordpols ein Preis von 20000 Pfund ausgesetzt.
Kapitän Buchan stach mit seinen Schiffen „Dorothea“ und „Trent“ am 25. April 1818 in See, kam aber nicht weiter als bis zum 80. Grad und fuhr nach Grönland hinüber. Ein rasender Sturm drohte beide Schiffe zwischen den Eismassen zu zertrümmern. Ausweichen war nicht mehr möglich — also steuerte Buchan in die mächtigsten Eisberge hinein und begab sich gewissermaßen in ihren Schutz, den einen als Brustwehr gegen den andern benutzend. Dies kühne Manöver rettete ihn. Aber nach diesem Vabanquespiel war der Mut des Kapitäns und seiner Offiziere erschöpft, sie machten kehrt. Nur einer war mit diesem Rückzug nicht einverstanden, der Leutnant John Franklin, ein tollkühner Draufgänger, der mit seinen 32 Jahren sich bereits in der halben Welt umhergetrieben, sich als hervorragender Seemann und als tapferer Soldat in verschiedenen Schlachten bewährt hatte; dem wollte es schlecht gefallen, daß der Kurs schon wieder der Heimat zuging und die Reise zum Nordpol ein so vorschnelles und wenig rühmliches Ende fand. Er erbot sich, mit dem zweiten Schiff, das er kommandierte, allein einen neuen Versuch zu wagen. Aber da er der Jüngere war, mußte er dem Befehl zum Rückzug gehorchen, und Ende Oktober liefen die beiden von Sturm und Packeis ziemlich mitgenommenen Schiffe wieder in der Themse ein.
Mittlerweile war Kapitän Ross mit der „Isabella“ und dem „Alexander“ die Westküste Grönlands hinaufgefahren, hatte sich durch die gefährlichen Eismassen der Baffin-Bai mit wackerer Ausdauer durchgekämpft und war bis zum Eingang des Smith-Sundes vorgedrungen, nicht ganz so weit wie Baffin vor 200 Jahren. Da er aber den Smith-Sund für eine Sackgasse hielt, drehte er nach Westen bei, um dort eine Durchfahrt zu suchen. Der Jones-Sund erwies sich als unzugänglich; der südlichere Lancaster-Sund aber, den schon Baffin gesehen, doch nur für eine Bucht gehalten hatte, lag völlig eisfrei als prächtigste Fahrstraße da. Mit vollen Segeln und lautem Hurra liefen nun die Engländer in diesen nie befahrenen Meeresarm ein, dessen Strömung ihnen aus geheimnisvoller Ferne entgegenzukommen schien. Die Mannschaft jubelte, ihres Sieges und Preises gewiß, und die Spannung stieg mit jeder Stunde. Als aber das Flaggschiff „Isabella“ auf 80,4 Grad westlicher Länge gekommen war, machte es kehrt, und der „Alexander“, den der Leutnant William Edward Parry befehligte, mußte ihm folgen. Kapitän Ross hatte über der Nebelbank im Westen eine hohe Gebirgskette gesichtet, die den Lancaster-Sund abzuschließen schien, die von ihm benannten Crokerberge. Parrys schärfere Augen erkannten sogleich, daß Ross einer optischen Täuschung zum Opfer gefallen war, wie sie in jenen Zonen häufig ist; aber der Kommandant war davon nicht zu überzeugen, und Parry mußte sich fügen. So endete auch diese Expedition mit einer Enttäuschung für Führer und Mannschaft; doch erwarb sie sich dadurch ein Verdienst, daß sie den Ruhm ihres großen Vorläufers Baffin wiederherstellte, den damals gerade der vorhin erwähnte Geograph Barrow heftig angegriffen hatte; alle Angaben Baffins erwiesen sich als vollkommen zuverlässig und genau.
Im November 1818 trafen sich nun im Vorzimmer der Admiralität zu London zwei unzufriedene Wagehälse, die Unterbefehlshaber Franklin und Parry, die beide über die Unentschlossenheit und Zaghaftigkeit ihrer Vorgesetzten Klage führten. Ihr zuversichtliches Auftreten und ihre Beredsamkeit bestimmten die Admirale, gleich für das nächste Jahr zwei neue Expeditionen auszurüsten und Parry und Franklin das selbständige Kommando zu übertragen. Parry sollte nochmals den Lancaster-Sund aufsuchen und den Weg weiter verfolgen, auf dem er als Untergebener des Kapitäns Ross hatte umkehren müssen; Franklin dagegen von der Hudson-Bai aus zu Land die Nordküste Amerikas zu erreichen suchen und sie dann nach Osten verfolgen, um, wenn das Glück ihnen hold sein sollte, dort irgendwo zusammenzutreffen.
Damit treten zwei Männer auf den Plan, von denen die Geschichte der Polarforschung Großes zu berichten hat.