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W. E. Parry

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„Hecla“ und „Griper“ hießen die beiden Schiffe, mit denen Parry am 4. Mai 1819 in See stach. Den kleinen Segler „Griper“ führte Kapitän Liddon; Parrys Begleiter auf dem „Hecla“ waren der erfahrene Astronom Kapitän Ed. Sabine, der vordem Grönland erforscht hatte, und der später so berühmte James Ross, der Neffe des alten John, von dessen mißglückter Polarfahrt das vorige Kapitel berichtete. Mitte Juli kreuzten die beiden Schiffe in stetem Kampf mit ungeheuren Eisbergen vor dem Lancaster-Sund, und bald stand Parry vor der Flaggenstange, die John Ross im vorigen Jahr, ehe er wieder südwärts steuerte, auf der höchsten Spitze der Possessionsbaiküste errichtet hatte. Daneben war ein Steinmal, in dem Ross eine Urkunde über die Besitzergreifung des von ihm zuerst betretenen Landes durch England niedergelegt hatte. Seitdem pflegte jeder Polarfahrer an bemerkenswerten Punkten seines Weges solch einen arktischen Briefkasten zu bauen, um den Beweis seiner Anwesenheit zu geben, sich das Prioritätsrecht seiner Entdeckungen zu sichern, neu entdeckte Küsten für sein Vaterland in Besitz zu nehmen und den nächsten Forscher, der in diese Eiswüste vordrang, darüber aufzuklären, wo er sich befinde. An möglichst in die Augen fallenden und geographisch wichtigen Punkten errichtet, bildeten diese Briefkästen nach und nach ein Netz von Landmarken und Wegweisern, das auf den Spezialkarten, dem Handwerkszeug jedes Forschers, genau verzeichnet ist.

Parry war genau an demselben Punkte der Küste gelandet wie vordem Ross; in dem vom Sturm kahlgefegten Sand fand er, nach elf Monaten, noch die Fußspuren seiner Vorgänger! An der Mündung eines Flusses, der aus dem unbekannten Landinnern zum Meere strömte, zeigten sich einige spärliche Frühlingsboten: frisches Moos, Kräuter und winzige Blumen. Hier errichtete Parry ein eigenes Steinmal und barg darin einen Bericht über seine bisherige Fahrt. Die nächsten Wochen aber stellten seine Ausdauer auf eine harte Probe. Die Launen des Windes und die eigensinnigen Wirbel des Packeises hielten die Schiffe fest. Erst Anfang August gelang es, in den Lancaster-Sund einzudringen und sich langsam, langsam nach Westen vorwärts zu arbeiten, trotz Nebel, Schneesturm und Windstille. Oft vertäuten sich die beiden Schiffe an Eisbergen, die das andringende Packeis beiseite schoben; dann wieder, wenn das Segeltuch schlaff hing, mußten sie vorwärts „gewarpt“ werden: ein Anker wurde möglichst weit voraus am Eisrand einer Küste festgemacht, seine Kette aufgewunden und so das Schiff weitergezogen. Aber Parrys und seiner tapfern Mannschaft eiserne Ausdauer fand überreichen Lohn. Die „Krokerberge“ erwiesen sich tatsächlich als eine Luftspiegelung, keine Landmasse versperrte den Weg, die Straße nach Westen vom Lancaster-Sund aus war die richtige. Und so war es Parry beschieden, an Land und Meer eine völlig neue Welt, weit größer als sein Vaterland, dem Urnebel der Schöpfung zu entreißen und ihr die Namen zu geben, die sie heute noch trägt: die Admiralitäts-Einfahrt, die Leopolds-Inseln und die Prinzregenten-Einfahrt, die Barrow-Straße, Kap Riley an der Südwestecke der großen Insel Nord-Devon, die Beechey-Insel, die 30 Jahre später hohe Bedeutung gewann, den Wellington-Kanal, der geradeaus zum Pol zu führen schien, die Cornwallis- und die Griffith-Inseln, den Melville-Sund, die Bathurst-Insel im Norden und schließlich die Melville-Insel, wo sich ein Hafen fand, der zur Überwinterung wie geschaffen schien. Der 110. Grad westlicher Länge war hier erreicht, der Preis von 5000 Pfund Sterling gewonnen, das Problem der nordwestlichen Durchfahrt so gut wie gelöst. Nur noch ein paar Tage günstiger Wind — dann mußte das Eismeer nördlich von Alaska und der Bering-Straße am Horizont erscheinen. Also weiter nach Westen! Im Süden wurde bereits wieder eine neue Küste gesichtet, Banks-Land, die letzte gewaltige Insel des nordamerikanischen Archipels — dann aber zwangen Windstillen und Schneestürme Parry zur Umkehr, und er durfte von Glück sagen, daß er am 26. September 1819, noch eben rechtzeitig vor den nächsten Vollmondspringfluten, den Winterhafen an der Melville-Insel erreichte. Der Hafen war schon vereist, und von der Fahrstraße aus mußte ein Kanal von 3½ Kilometer Länge durch das Eis gebrochen werden, um die Schiffe an Land in Sicherheit zu bringen. „Winterhafen“ heißt der Ort noch heute.

Seit der Holländer Wilhelm Barents im Jahre 1596 als erster den Beweis erbrachte, daß der Mensch bei angemessener Lebensweise fähig war, die Schrecken der arktischen Winternacht zu überstehen, waren solche Überwinterungen nichts Unerhörtes mehr. So mancher Walfischfahrer und Matrose war, von plötzlichem Wetterumschlag gezwungen, in Nebel und Schneesturm verirrt, von seinem Schiff im Stich gelassen, nach ein- oder mehrjährigem Robinsonleben in Nacht und Eis glücklich wieder nach Hause gekommen. Aber aufgesucht wurde dies Abenteuer eben nicht, und die englischen Expeditionen waren bisher noch stets rechtzeitig im Herbst wieder heimgekehrt. Parry hatte das nächste Ziel, den 110. Längengrad, erreicht, aber sein Ehrgeiz war damit nicht gestillt; die letzten 1700 Kilometer bis zur Bering-Straße hoffte er im nächsten Frühjahr zurückzulegen, und da er auf weit mehr Hindernisse gefaßt gewesen war, hatte er seine Schiffe auf zwei Jahre verproviantiert und alles so sorgfältig und scharfsinnig überlegt, daß die von ihm geleitete erste Überwinterung einer so zahlreichen Schiffsmannschaft vorbildlich für alle späteren Polarexpeditionen geworden ist. Was, nach dem Stand der damaligen Arzneiwissenschaft, an Mitteln gegen den Hauptfeind, den Skorbut, bekannt war, getrocknetes Gemüse, Sauerkraut, Essig, Mixed Pickles, vor allem Zitronensaft mit Zucker, war reichlich an Bord; täglich mußten die Leute unter Aufsicht eines Offiziers das vorgeschriebene Quantum Zitronensaft mit Zucker trinken. Statt fertigen Brotes war ein großer Vorrat sorgfältigst getrockneten Mehles mitgenommen worden, so daß an Bord selbst frisches Brot gebacken werden konnte. Kresse- und Senfsamen wurde in Holzkästen gezogen; die jungen Pflänzchen ergaben einen heilkräftigen Salat für jeden, der bei der täglichen Körpermusterung durch den Arzt verdächtig erschien. Die Jagd auf Renntiere und Bisamochsen brachte wenigstens einigen Vorrat an frischem Fleisch, war dazu eine gesunde Körperbewegung neben dem Sport, dem täglich mehrere Stunden im Freien gewidmet wurden. Bei schlechtem Wetter wurde das Deck des Schiffes zur Turnhalle. Beide Schiffe waren regelrecht „eingehaust“, ihr Deck mit einem hohen Zelt aus Öltuch überspannt. Das Tauwerk war herabgenommen und lag, zu Eisklumpen geballt, im Freien; in den feuchten Kajütenräumen wäre es verfault. Die Feuchtigkeit unter Deck machte den Aufenthalt in den Kabinen zur Qual; die Ausdünstungen der Menschen und der Wrasen der Küche gefroren an Wänden und Decken zu Eisflächen und -zapfen, die täglich beseitigt werden mußten; als diese Arbeit einmal mehrere Wochen versäumt worden war, hatten sich 60 Zentner Eis in den Kajüten angesammelt! Die Fußböden wurden mit Steinen und heißem Sand abgerieben; Wasser hätte sich sofort in Eis verwandelt. Die Betten waren teils gefroren, teils durch und durch naß, obgleich beide Schiffe von außen dick mit Schnee verpackt waren, um die Wärme im Innern möglichst festzuhalten. Das Thermometer fiel bis auf 47° C. Und trotzdem in der langen Winternacht von 84 Tagen die 94 Mann fast nur auf die unwirtlichen, engen Schiffsräume angewiesen waren, zählte dank der musterhaften und strengen Sorgfalt des Schiffsarztes Dr. Edwards das Krankenjournal, von einem Ausnahmefall abgesehen, immer nur einen, höchstens zwei Namen auf. Einige leichte Anfälle von Skorbut wurden mit Zitronensaft geheilt, und nur ein einziger Todesfall ereignete sich infolge einer Lungenkrankheit. Trotz der barbarischen Kälte mußten nur einem Matrosen einige Finger amputiert werden; bei einem Brand im Observatorium war eine Panik entstanden, und eine Anzahl der Leute hatte die nötigen Vorsichtsmaßregeln außer acht gelassen. An diesem Tage verzeichnet die Krankenliste 16 Namen. Im ganzen aber war diese Überwinterung der Parryschen Expedition eine Meisterleistung.

Auch auf Unterhaltung und geistige Anregung seiner Leute war Parry bedacht. Allwöchentlich erschien eine Schiffszeitung, die erste aller Polarzeitungen, deren humoristischer Teil besonders geschätzt wurde. Sogar ein Theater wurde eingerichtet und alle vierzehn Tage ein neues Stück einstudiert — das erste Polartheater, dessen Premieren auch dann nicht abgesagt wurden, wenn die Bühnentemperatur bis zu 19 Grad Kälte betrug.

Unweit des Winterhafens trägt eine Landspitze noch heute den Namen „Kap Providence“, zur Erinnerung an ein Ereignis, das drei Tage lang Parry und seine Leute in ungeheure Aufregung versetzte. Sieben Mann des „Griper“ waren auf Jagd ausgezogen; es ward Abend: man wartete vergeblich auf ihre Rückkehr. Am andern Morgen geht eine Suchabteilung von drei Mann ihren Spuren nach. Ein Schneesturm überrascht sie, sie finden selbst nicht mehr zum Schiff. Parry läßt Kanonen lösen, Raketen steigen. Endlich, abends um 10 Uhr, kehrt die Hilfsmannschaft völlig erschöpft zurück. Von den Verschollenen hat sie nichts gesehen und gehört. Am nächsten Tag läßt Parry auf dem höchsten Berge der Umgegend eine Stange mit einer riesigen Flagge aufrichten und Lebensmittel dort niederlegen, denn die Jäger sind leichtsinnigerweise nur mit einer Tagesration Proviant ausgerückt. Auch dieser Tag vergeht unter vergeblichem Suchen. Am dritten Morgen ziehen nach allen Seiten Suchabteilungen aus; sie stecken von Zeit zu Zeit Stangen in den Schnee mit daranhängenden Flaschen, als Wegweiser für sich selbst und um die Verirrten zu dem hier und da niedergelegten Proviant zu führen. Endlich kehrt eine Abteilung heim und bringt von den Verschollenen vier Mann, die sich kaum noch auf den Beinen halten können. Gehungert haben sie nicht, sie haben Schneehühner geschossen und roh verzehrt; aber sie sind drei volle Tage und Nächte umhergeirrt — Ausruhen wäre bei der Kälte sicherer Tod gewesen. Die sieben hatten die gestern errichtete Flagge tatsächlich gesehen; aber drei von ihnen behaupteten, das sei eine schon vor einiger Zeit weiter östlich gehißte Flagge, und waren nach der entgegengesetzten Seite gegangen. Nun wußte man wenigstens, wo sie zu suchen waren, und am selben Tag noch wurden auch die drei andern glücklich geborgen. Sie waren 91 Stunden unterwegs gewesen, die stete Bewegung hatte sie vor Frostschäden geschützt; sie brachten sogar Forellen mit, die sie in einem Süßwassersee gefunden hatten. Ihre Rettung durfte als ein Wunder erscheinen. „Im Gefühl demütiger Dankbarkeit gegen Gott für diese auffallende Gnade gaben wir der Landspitze westlich von den Schiffen (wo die große Flagge gehißt worden war) den Namen Kap Providence (Kap der Vorsehung)“, schrieb Parry in sein Tagebuch, und seine nächste Sorge war, weithin am Lande Wegweiser anbringen zu lassen.

Ende April, als die Sonne wieder Tag und Nacht am Himmel stand, unternahm Parry mit seinem wissenschaftlichen Stab eine Forschungsreise von vier Wochen durch die bis dahin völlig unbekannte Melville-Insel. Zelte, Proviant und Brennholz wurden auf einem niedrigen Wagen von den Matrosen mit unsäglichen Mühen über Schneefelder und Felsen, durch Flußbetten und Wasserfälle gezogen. Es war die erste Forschungsreise von einem überwinternden Schiff aus, und ihre Erfahrungen kamen allen späteren ähnlichen Expeditionen zugute. Die gesamten wissenschaftlichen Ergebnisse der Parryschen Expedition, seine Feststellungen über die Schwankungen der Magnetnadel, über Temperaturen, Eisdicke, Nordlicht usw. sind ebenfalls grundlegend für die spätere Polarforschung gewesen.

Während Parrys Abwesenheit machte die zurückgebliebene Mannschaft die Schiffe wieder segelfertig. Aber erst Anfang August lockerte sich der Eisgürtel so weit, daß ein Kanal bis zur längst offenen Fahrstraße gesprengt werden konnte. Nochmals steuerte nun Parry nach Westen; die Durchfahrt nach der Bering-Straße sollte den Abschluß seines Eroberungszuges bilden. Aber diesmal war ihm das Glück nicht hold. Er kam nur eben über den 113. Längengrad hinaus, sichtete noch einmal im Süden das unbekannte Banks-Land, mußte dann aber umkehren. Das Eis erwies sich in diesem Jahr als undurchdringlich, und mit seinen zusammengeschmolzenen Vorräten einem zweiten Winter zu trotzen, erlaubte seine Gewissenhaftigkeit nicht. Auf der Rückfahrt entdeckte er noch im Süden der Barrow-Straße Nord-Somerset-Land, das er nach seiner Heimat Somerset benannte, und, von günstigem Wind beflügelt, war er schon nach sechs Tagen am Ausgang des Lancaster-Sundes. Von da ging es an der Westküste der Baffin-Bai südwärts, und Ende Oktober 1820 trafen die beiden glückhaften Schiffe wieder in England ein Parry galt, und mit Recht, seitdem als unumstrittene Autorität in allen Polarfragen, und sein Ruhm wurde auch dadurch nicht gemindert, daß er in den folgenden Jahren noch drei Fahrten unternahm, die an Erfolg weit hinter der ersten zurückstanden.

Als Parry 1820 unter dem Jubel seiner Landsleute heimkehrte, fand er von seinem Freunde Franklin keinerlei Nachricht vor. Noch anderthalb Jahre dauerte es, bis die Frage nach seinem Schicksal von dem verschollen Geglaubten selbst beantwortet wurde.

Der Ruf des Nordens. Abenteuer und Heldentum der Nordpolfahrer

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