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Nordpoldämmerung

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Reisen — Entdecken — was ist es weiter als die große Sehnsucht des Menschen, hinter das Wesen aller Dinge zu schauen! Wir wissen nicht, woher wir kommen, wir wissen nicht, wohin wir gehen. Um so stärker der Drang, das zu kennen, was um uns ist und unsern wachsenden Kräften erreichbar scheint. Wir wollen das Endliche begreifen, um davon auf das Unendliche, das Unerforschliche, das ewige Geheimnis zu schließen.

Je höher die Intelligenz, die Kultur eines Volkes, desto unwiderstehlicher wird ihr die Anziehungskraft nie betretener Räume unseres Planeten. Ein weißer, unentdeckter Fleck auf der Landkarte verfolgt den Forscher in seine Träume und läßt ihm keine Ruhe, bis er eine Lösung des Rätsels versucht hat. Aber welche Schwierigkeiten stemmen sich der Verwirklichung solcher Pläne entgegen, besonders für uns Deutsche! Im Kessel Mitteleuropas eingepfercht, ringsum an allen Grenzen gebunden, ohne Freiheit nach den Weltmeeren, in jahrhundertelangen inneren Kämpfen erst zu einer Einheit zusammengeschweißt, mußten wir die Aufteilung der übrigen Welt andern Nationen überlassen, die schon durch ihre Lage am Rande des kleinsten aller fünf Erdteile den Blick von Kind auf in die Ferne richteten und die Küsten und Länder jenseits der großen Wasser als herrenloses Gut betrachteten, wo es nur galt, rechtzeitig seine Fahne aufzupflanzen. Wir kamen zu spät und sollten nur Gast sein auf der übrigen Erde — und nicht einmal gern gesehener. „Dem Tüchtigen freie Bahn!“ bleibt immer nur der Wahlspruch des — Tüchtigen. Aber wie der Gefangene die kahlen Wände seiner Zelle mit Bildern von der Welt da draußen schmückt, so lebt auch in uns nur um so stärker die Neigung, unbekannten Fernen nachzusinnen in Buch und Bild.

Von jeher haben den Bewohner der gemäßigten Zone zwei Weltgegenden besonders angelockt: die heißen Länder um den Äquator und das Reich des ewigen Eises an beiden Polen. Die Pole, gedachte Punkte, die durch nautische Instrumente errechnet werden, die Endpunkte einer mathematischen Linie, der die sich drehende Erde durchbohrenden Achse, diese märchenhaften Regionen, wo das Jahr nur einen Tag von sechs Monaten und nur eine ebenso lange Nacht zählt, haben die Phantasie der Menschheit am meisten beschäftigt; man erhoffte von dort ungeahnte Aufschlüsse über die Natur unsers Erdballs, und nirgends in der Welt war der Zugang mit größeren Gefahren und Entbehrungen verknüpft. War? — Er ist es noch heute, und das Wort des alten Griechen Äschylos: „Nichts ist gewaltiger als der Mensch“, wird da, wo die Natur gleichsam alle ihre Kräfte zusammenrafft, zuschanden. Nur ganz vereinzelten Sterblichen ist es bisher gelungen, durch die sich immer wandelnde, immer neu wachsende Barriere des ewigen Eises einen Durchschlupf zu finden und bis zu den Mittelpunkten der Polfestungen vorzudringen. Den Südpol erreichten Roald Amundsen und, einen Monat nach ihm, Robert Scott; der letztere mußte den schwer errungenen Sieg mit dem Leben bezahlen. In die unmittelbare Region des Nordpols gelangten bisher ebenfalls nur zwei wagemutige Männer: Robert Peary und Frederick Cook — zwei unter Tausenden, die im Lauf der Jahrhunderte den Kampf mit dem Nordpol aufnahmen, in diesem Kampfe blieben oder im glücklichen Fall als ruhmvoll Besiegte den Heimweg in die südliche Welt zurückfanden. Die ersten Pfade zu den Polen sind also gefunden, die undurchdringliche Finsternis weicht einer matten Dämmerung, aber die Rätsel des Pols sind damit nicht gelöst; die schmalen Nebelwege jener ersten Pioniere gaben kaum einen Ausblick auf diese geheimnisvolle Welt, die sich weit und breit in ungeheure Ferne dehnt.

Nicht immer war es am Nordpol so kalt und unwirtlich. Dieser Angelpunkt der Erde, der sich alle 24 Stunden einmal um sich selbst dreht, muß früher anderswo gelegen haben — vielleicht im östlichen Europa. Mit dieser vor Jahrmillionen erfolgten Umlagerung der Erde waren Wandlungen der Erdoberfläche, Katastrophen der Erdkruste verbunden, die aller menschlichen Vorstellungskraft spotten. Sie schufen die zerklüfteten Gebirge Europas und die norddeutsche Tiefebene mit ihrem Sandboden, der ehemals Meeresboden war. Die Spuren der Vergangenheit konnten sie dennoch nicht verwischen — sie setzten ihr vielmehr eine Art steinernen Denkmals. Die reichen Kohlenfelder auf Grönland und Spitzbergen, wo heute nur niedriges Krüppelholz und armselige Kriechweiden gedeihen, sind der unwiderlegliche Beweis dafür, daß auch der Nordpol seine „gute alte Zeit“ hatte, in der eine reiche, südliche Vegetation ihn überwucherte. Gewaltige Baumriesen schlossen sich mit üppigem Rankenwerk zu Urwäldern zusammen und gaben ungeheuren pflanzenfressenden Säugetieren überreiche Nahrung. Daher der berühmte steinerne Wald auf Grönland in einer von Gletschern umgebenen Bergschlucht am Waigatsund; versteinerte Stämme und Äste liegen da in chaotischen Massen, und das rostbraune, eisenhaltige Gestein ist ganz mit ausgezackten Blättern, gleich denen unserer Eichen, durchsetzt. Auf Nowaja Semlja und an den Nordküsten Sibiriens, in grauenhaft öden Moorgegenden, wo heute kaum das Renntier seine karge Nahrung hat, fanden sich, tief im Moor versunken, riesige Skelette vorsintflutlicher Tiere, Mammute und Nashörner. Das sogenannte fossile Elfenbein — ihre langen Stoßzähne — ist in der baumlosen Wüstenei dieser „Tundren“ derart häufig, daß es Hügel ausfüllt; das Suchen danach und der Handel damit ist das einträglichste Gewerbe der Samojeden und Tschuktschen. Solche riesigen, pflanzenfressenden Tiere, die zum Frühstück gewiß eine stattliche Baumkrone entlaubten, hätten nie in einer Eiswüste leben können; sie brauchten eine üppige Sumpfvegetation wie die der indischen Dschungeln. Auch muß die vernichtende Erdkatastrophe urplötzlich über die Bewohner dieses vorsintflutlichen Paradieses hereingebrochen sein; dafür sprechen jene Skeletthügel, die Grabmäler ganzer Tierherden, die in Todesangst zusammenliefen und gemeinsam untergingen. Aus dem Sumpfeis der sibirischen Flußmündungen hat man sogar Tiere gegraben, die noch mit Haut und Haaren bedeckt waren. Auch das sogenannte „Noahholz“, steinhartes Holz aus unvordenklicher Zeit, fischt man häufig an diesen Küsten. Vielleicht war die Sintflut, von der die Bibel berichtet, von der in verschiedenster Form die meisten Ursagen erzählen — auch die der Eskimos — der letzte Ausläufer jener elementaren Katastrophen unseres Erdballs.

Betrachten wir einmal den Globus, wie er heute aussieht, so finden wir um den gedachten Endpunkt der Erdachse ein Meer angedeutet, oder eigentlich nur einen leeren Fleck, aus dem rundum nach Süden hin gewaltige Inselmassen sich vorschieben. Diese zerfallen in vier Hauptgruppen: Grönland, die größte Insel der Welt — mindestens viermal so groß wie Deutschland! —, östlich davon die weitverstreuten Inselgruppen Spitzbergen und Franz-Joseph-Land; weiter östlich die russischen Inselgruppen Nowaja Semlja und Wrangel-Land, und schließlich, von letzteren weit entfernt und näher an Grönland, der nordamerikanische Inselarchipel. Aber noch sind längst nicht die letzten Inseln des Eismeeres entdeckt; noch harren viele der auf unserm Globus nur angedeuteten Grenzlinien zwischen Meer und Land ihrer Ergänzung und Berichtigung.

Bis in die neuere Zeit hinein nahm man an, um den Nordpol gruppiere sich ein Kontinent, eine Landmasse, und die Phantasie nicht zu ferner Jahrhunderte noch dachte sich dort ein Wunderland mit milderem Klima und märchenhafter, nirgend sonst auf Erden zu findender Pflanzenwelt; hinter undurchdringlichen Eismauern sollte eine selige Insel träumen mit seltsamen Gewächsen und fabelhaften Tieren. Wie nahe kamen sich auch hier Ahnung des Dichters und unvordenkliche Wirklichkeit! Heute weiß man, daß dort seit Jahrtausenden das Eis sich auftürmt in starrer Einsamkeit. Bläulich weiß und glitzernd dehnen sich unendliche Gefilde; nirgends organisches Leben, nur die Stürme heulen durch die dunkle, kalte Halbjahrsnacht. Dicke Nebel oder das Gewirr eisiger Schneeflocken erfüllen die Luft. Manchmal in klaren Nächten strahlt das überirdische Wunder des Nordlichts auf: weißgrünlich glitzernde Lichtschlangen zucken von Osten und Westen zum Zenit empor und verbinden sich zu einer hehren Lichtkrone, die lange Bänder phantastisch über das schwarze Himmelsgewölbe flattern läßt. Nur wenige Stunden dauert das Schauspiel; langsam verrinnen die Lichtquellen wieder und verlieren sich im dunkeln All. Dann wandeln wieder die Gestirne über der schwarzen Nacht; der Mond gleitet seine leuchtende Bahn von Osten nach Westen und wieder nach Osten, am Firmament kreisend, ohne unter dem Horizont zu verschwinden. Gespenstisch gießt er sein Silberlicht über Schneefelder und Eisberge. Ist aber der Himmel bedeckt, sind vom Nebel alle Gestirne ausgelöscht, dann begräbt grausige Finsternis, wie ein ungeheures Gewölbe, die erstarrte Welt. Dann heulen die rasenden Stürme — das berstende Eis donnert und kracht — und das gebrechliche Schifflein der Polfahrer knarrt und krümmt sich stöhnend zwischen den andrängenden Eisschollen. Wie sehnt man sich da nach der Sonne!

Und endlich wird es wieder Tag — je weiter vom Pol entfernt, desto früher im Jahr. Anfang Februar lugt auf Spitzbergen die Sonne um Mittag über den Rand des Horizonts. Bald steigt sie sieghaft empor, bis sie die Nacht völlig verdrängt, und auf ein halbes Jahr ist nun sie die unumschränkte Herrscherin. Sie glitzert und funkelt in Milliarden Eiskristallen. Um Mitternacht läuft ihre glührote Kugel am Horizont entlang, ohne zu verschwinden. Der Glanz des Gestirns und die bläuliche Weiße der Eis- und Schneegefilde sind fast unerträglich für das Menschenauge, und es sehnt sich wieder nach der Nacht, wie ehemals nach dem fernen Tag.

Grüne Flächen, wo das Auge ausruhen könnte, gibt es nur wenige auf der arktischen Inselwelt. Meist starrt auch hier alles von Eis und Schnee; steile, wildgezackte Klüfte und Bergkegel erheben sich hier und da; nur selten ein geschütztes Tal, dessen Sohle sich mit grünem Moos und saftigem Gras bedeckt, in dem sogar eine bescheidene Blumenflora um ihr Eintagsdasein ringt.

Dennoch ist die Tierwelt der Arktis sehr mannigfaltig. Die größten Säugetiere der Erde scheinen sich aus vorsintflutlicher Zeit dort hinübergerettet zu haben. In den sich plötzlich bildenden Spalten des Meereises tummelt sich der riesige Wal; der kleinere Finnwal kommt bis an Norwegens Küsten herunter. Der Narwal mit seinem mächtigen Stoßzahn jagt in der Meerestiefe. Das häßliche Walroß mit seinem bärtigen Gesicht, aus dem zwei gekrümmte, gelbliche Hauer nach unten ragen, sonnt sich auf dem Packeis und schnauft vor Behagen; es findet sich meist im Kreis einer großen Familie. Auf dem Neueis sammeln sich die Seehunde mit ihren Jungen, rekeln sich in der Sonne und kratzen sich mit der tölpischen Finne, der Vorderflosse, die Seiten. An ihre unbehilflichen Jungen pirscht sich der Eisbär heran, der König der Arktis. In ungeheuren Schwärmen ziehen Eidergänse, Möwen und Lummen zu den einsamsten Klippen der Inseln, um dort zu brüten, und der Polarfuchs holt sich die frischesten Eier aus den für kurze Pause verlassenen Nestern.

Diese eigenartige, grausame Schönheit der arktischen Natur hat ihre dämonische Anziehungskraft seit Jahrhunderten auf die Menschheit ausgeübt, und der trotzige Widerstand der Naturkraft hat den Ehrgeiz tollkühner Abenteurer und wissensdurstiger Forscher fast bis zur Leidenschaft erhitzt. Wieviel Menschenopfer wurden dem Moloch Nordpol gebracht! Wieviel Widerstandskraft und Geistesgegenwart, Mut und Entbehrungsfähigkeit steckte schon in den mittelalterlichen Draufgängern, die über den Nordpol hin den Weg zu den Goldländern China und Indien suchten. Und heute, im Zeitalter der Wissenschaft: welch eiserner Fleiß, wieviel Scharfsinn und Kenntnis, wieviel hartnäckige Selbsterziehung gehört dazu, um, nach dem großen Vorbild Fridtjof Nansens, das bloße Abenteuer oder die Sportleistung zu einer Kulturtat zu erheben, an deren Ergebnissen die Wissenschaft der ganzen Welt teilhat. Wahrlich, ein großer Teil menschlichen Heldentums hat die Polarregion zum Schauplatz, und von diesem Heldentum sollen die folgenden Blätter erzählen.

Der Ruf des Nordens. Abenteuer und Heldentum der Nordpolfahrer

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