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Die Bedeutung der amerikanischen Filialen
ОглавлениеIn den Familien- und Jubiläumsschriften heisst es gelegentlich, die Firma Benziger habe mit ihren amerikanischen Filialen in erster Linie einen Beitrag zur «Kulturvermittlung» leisten wollen. Die deutschsprachigen Auswanderer sollten in der Neuen Welt weiterhin mit ihrer Herkunftsgesellschaft und dem europäischen Katholizismus in Verbindung bleiben. Die Quellen schweigen sich über eine solche «Kulturmission» weitgehend aus. Dafür treten andere Deutungen in den Vordergrund. Die Firma Benziger befand sich in einem intensiven Konkurrenzkampf mit ähnlich positionierten Firmen vor allem in Deutschland, aber auch in Frankreich, der Schweiz und anderen Ländern Europas. Um ihre Verlagswaren möglichst preiswert anbieten zu können, waren sie auf hohe Auflagen und einen entsprechend ausgelasteten Maschinenpark in ihrer Verlagsanstalt angewiesen. Die Wirtschaftswissenschaften sprechen in diesem Zusammenhang von «positiven Skaleneffekten». Die USA garantierten einen über Jahrzehnte wachsenden Markt. Die Firma Benziger konnte sich mit der vergleichsweise frühen Erschliessung dieses Markts als «first mover» einen Wettbewerbsvorteil verschaffen.281 Die amerikanischen Filialen unterhielten im 19. Jahrhundert denn auch keine eigenen technischen Betriebe. Wir «müssen zur Basis resp. Hauptbedingung unseres Consenses machen, dass Sie von allen technischen Richtungen (Setzerei, Druckerei etc.) noch sehr lange fern bleiben. In America ist dieser selbsteigene Betrieb nicht so nöthig wie in einem Bergdorf», schrieb die Verlagsleitung im Sommer 1870 nach New York.282 Alle grösseren Druckaufträge liessen die Filialen in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens fast ausschliesslich im Mutterhaus in Einsiedeln ausführen.
Die Verleger erhofften sich von den Filialen eine stabilisierende Wirkung in Krisenzeiten. Vergangene Krisenjahre mit stockendem Absatz – beispielsweise 1816/17 und die späten 1840er-Jahre – waren im Gedächtnis haften geblieben. Vor allem aber fürchtete man Kriege, die den Absatz in Deutschland zum Erliegen bringen und die Arbeitsplätze in Einsiedeln gefährden könnten. Im Frühling 1869 schrieb die Verlagsleitung in Einsiedeln nach New York: «Ein jedes Geschäft sollte aber in seinen Entwicklungen nie so weit gehen das andere auch mit in bedeutenden Anspruch zu nehmen; damit Kriegs- u. Handelsstockungsfälle nie beide Plätze auf einmal übereilen, sondern dann vielmehr das eine dem andern helfen kann.»283 Und wenige Jahre später hiess es in einem anderen Brief: «Vergessen Sie nie: Wir sind u. bleiben ein u. dieselben hier u. dort u. können den Segen beider Welten brauchen u. wollen uns über die Breite unserer Bemühungen nicht misstimmen lassen.»284 Gelegenheiten, sich als solidarisch zu beweisen, gab es mit dem amerikanischen Sezessionskrieg (1861–1865), dem Deutschen Krieg (1866) und dem Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) reichlich.
Die Gründung der amerikanischen Filialen beruhte also auf einer inneren Logik der Firmenexpansionsstrategie und nicht auf religiösem Zelotismus oder einer wie auch immer gearteten «Kulturmission». Im direkten Umfeld der Firma trugen die Filialgründungen letztlich aber doch zu einer transkontinentalen Kulturvermittlung bei. Vielen Auswanderern aus der Zentralschweiz war die Firma Benziger eine willkommene «Brücke» über den Atlantik.285 Die Firma Benziger stellte Wechsel aus, vermittelte Landsleuten Kontakte in den USA und war eine Anlaufstelle für verschiedenste Anliegen von Immigranten aus Einsiedeln und der Zentralschweiz. So betrieben beispielsweise Einsiedler Einwanderer an verschiedenen Orten in New York und im Mittleren Westen auch kleinere Buchhandlungen, die von Benziger mit Krediten und Verlagswaren unterstützt wurden.286
Die Firma lässt sich als eine Art Informationskanal begreifen und trug in ihrem Umfeld dazu bei, einen transkontinentalen sozialen Raum zu schaffen. Sie exportierte Verlagswaren nach Amerika, importierte aber auch ein «Stück Amerika» nach Europa. In Amerika lernten die Verleger etwa Modelle rationeller Arbeitsteilung in den Fabriken kennen, die sie in Einsiedeln, zuerst in der Buchbinderei, in Anwendung brachten. Für die Arbeiterschaft in Einsiedeln lag die deutschsprachige «New Yorker Staatszeitung» sowie die «New York Times» zur Lektüre bereit.287 Die Firma Benziger publizierte auch Handbücher speziell für deutschsprachige katholische Amerika-Auswanderer, die neben einer Auswahl von Gebeten und Andachtsübungen umfangreiche Informationen zu Reisezeit, Währung, Landkauf und Verdienstmöglichkeiten in Amerika enthielten.288
Im Jahr 1854, fast gleichzeitig wie die Firma Benziger, gründete auch das Kloster Einsiedeln in Spencer County im südlichen Indiana eine Niederlassung. Sie wurde nach dem Eremitenmönch Meinrad (797–861) – der Gründerfigur Einsiedelns – benannt. Das Kloster lag in einer Gegend, in der sich in den Jahrzehnten zuvor zahlreiche deutsche Katholiken angesiedelt hatten. Eingefädelt hatte die Gründung Josef Kundek (1810–1857), gebürtiger Kroate und Generalvikar der Diözese Vincennes (heute Erzbistum Indianapolis) in Indiana, der Abt Heinrich Schmid während eines persönlichen Besuchs in Einsiedeln von diesem Unterfangen überzeugen konnte. Von St. Meinrad aus erfolgten mit der Zeit weitere Klostergründungen in den Staaten Arkansas (1878), Louisiana (1889), Illinois (1933), South Dakota (1950) und Kalifornien (1958). Die Firma Benziger stand mit St. Meinrad und insbesondere mit Martin Marty (1834–1896) aus Schwyz, dem ersten Abt von St. Meinrad und späteren Bischof von St. Cloud, in regem Kontakt.289
Auch als sich andere Innerschweizer Klostergemeinschaften in den USA ansiedelten – das Benediktinerkloster Engelberg OW ab 1873, das Benediktinerinnenkloster Maria Rickenbach NW ab 1874 (beide in Missouri), war die Firma Benziger in verschiedenen Funktionen beteiligt. Sie empfing die Amerikareisenden in New York, vermittelte Kontakte zur Politik und hohen Geistlichkeit, versorgte die von den Mönchen und Schwestern gegründeten Schulen mit Büchern und stattete die neu gebauten Kirchen mit religiöser Kunst aus.290
Altruismus und Kalkül lassen sich bei solchen «Freundschaftsdiensten» nicht immer auseinanderhalten. Kurz vor der Abreise der ersten Engelberger Mönche in die USA im Frühling 1873 schrieb Adelrich B.-Koch an seinen Cousin Adelrich B.-von Sarnthein in New York: «In wenigen Wochen […] erhalten Sie Besuch von 2 Patres Benediktinern aus Engelberg P. Frowin Conrad und P. Adelhelm, die nach America auswandern eine Filiale […] zu stiften. Abt Marty […] hat den Gedanken zur Reise gefördert. P. Frowin Conrad ist der Bruder des Einsiedler Pater Ignaz Conrad [später erster Abt der Abtei Subiaco in Arkansas], Latein Prof. u. besonders Protektor und Lehrer von Nicolaus u. Carli [zwei Neffen von Adelrich B.-Koch, damals an der Stiftsschule Einsiedeln]. […] Erstens ist die ganze Familie Conrad sehr achtenswerth u. mir nahestehend, wichtiger: ist P. Frowin sehr fähig, beliebt, gewandt […] u. wird sonder Zweifel bald Abt u. ist mir sehr gewogen. Wenn wir uns so weit durch beste familiale u. geschäftlich freundliche Aufnahme warm empfehlen, thun wir es mit Herz u. mit Berufung, aus Gewogenheit u. um diese Schöpfung von Anfang an sich geneigt zu machen.»291
Nicht alle Bekannten durften mit einer «familialen Aufnahme» rechnen. Ein paar Jahre früher hiess es über einige ehemalige Angestellte in Einsiedeln, die beabsichtigten, in die USA auszuwandern: «Lasst sie zappeln u. stellt sie nicht an. Vielleicht einige Jahre unter fremden Leuten macht den beiden die Einsiedler-Prinzipale besser erscheinen, als wenn man nichts sah u. nur stets unsere neidische Wirthshaus- u. Beamten-Schimpfereien einathmete.»292 Der soziale Raum über den Atlantik hinweg hatte für einige Auswanderer auch seine Kehrseite, insofern in ihm auch Konfliktverhältnisse und soziale Randständigkeit reproduziert werden konnten.
Die Filialgründungen folgten der Logik des Markts, ein missionarischer Eifer ist in den Quellen aber nicht greifbar. Halten wir deshalb zum Schluss fest: Religiosität spielt sich nie in einem luftleeren Raum ab, sondern muss im Wechselspiel mit Wirtschaft und Gesellschaft betrachtet werden. Mit ihrem von rationalen, kapitalistischen Strategien geprägten verlegerischen Wirken trug die Firma Benziger dazu bei, den Katholizismus in den USA zu etablieren, auch wenn dies nicht die primäre intrinsische Motivation für den Schritt nach Amerika gewesen sein mag. Verlagshäuser wie Benziger haben Millionen von Katholiken und Tausende von Pfarreien, Kirchen, Vereinen, Schulen und Bibliotheken mit den für die religiöse Andacht und Erziehung nötigen materiellen Kulturgütern versorgt. Kapitalistisches Handeln und religiöse Überzeugung schlossen sich dabei keineswegs aus. Dass in der überlieferten Geschäftskorrespondenz konkrete, zahlengetriebene Massnahmen gegenüber Reflexionen über religiöse Gesinnungen bei Weitem überwiegen, liegt in der Natur der Sache. Der Firma Benziger und ihren Verlegern war eine klare katholische Gesinnung so tief inkulturiert, dass sie sich darüber in ihrer Korrespondenz nicht auszutauschen brauchten.