Читать книгу Multiple Sklerose - Heinz Wiendl - Страница 41
1.4 Bedeutung von Surrogatmarkern für Prognose und Verlauf
ОглавлениеIn zahlreichen Verlaufsuntersuchungen zur Rolle der Läsionslast im initialen Kernspintomogramm bei isoliertem klinischem Syndrom konnte gezeigt werden, dass sowohl das Risiko, innerhalb von zwei Jahren einen erneuten Schub zu erleiden als auch der Grad der Behinderung nach zwei, fünf und zehn Jahren von der initialen Läsionslast abhängen kann (Brex et al. 2002; O’Riordan et al. 1998; Rudick et al. 2006; Sailer et al. 1999; Minneboo et al. 2004). Kernspintomografien dienen somit als Surrogatmarker für den natürlichen Verlauf, die Prognose und Therapie. Histopathologische Studien (Übersicht bei Ludwin 2000) und neue kernspintomografische Untersuchungsverfahren (Magnetisations-Transfer-Ratio, Magnet-Resonanz-Spektroskopie und Bestimmungen der Hirnsubstanzminderung) deuten eindeutig darauf hin, dass bereits in sehr frühen Krankheitsstadien neben den entzündlichen Veränderungen axonale Schäden (Bjartmar et al. 2001; Simon et al. 2000; Trapp et al. 1998) und eine Volumenminderung der Hirnsubstanz nachweisbar sind (Berg et al. 2000; Brex et al. 2002; Rudick et al. 1999). Eine weitere wichtige Erkenntnis ist, dass der eigentliche Erkrankungsbeginn meist deutlich vor den ersten klinischen Symptomen liegt, was sich in der zu Beginn der Erkrankung unterschiedlich ausgeprägten Läsionslast oder Verzögerungen zentralnervöser Latenzen bei den evozierten Potenzialen widerspiegelt. Es existiert eine Korrelation des Läsionsvolumens mit dem Grad der sich entwickelnden klinischen Behinderung (EDSS) (Brex et al. 2002; Rudick et al. 2006a). Obwohl die Korrelationen MR-tomografischer Parameter mit Schüben bzw. Erkrankungsprogression nicht immer gegeben ist, hat sich die MRT als der führende Surrogatmarker für die Wirksamkeitsbeurteilung von Therapien in Studien etabliert und gewinnt zunehmend an Bedeutung auch für die Prognoseeinschätzung (Goodin 2006). So ist die MRT inzwischen auch ein wesentliches Indikationskriterium für eine früh einsetzende immunmodulatorische Therapie nach erstem MS-verdächtigem Schub. Trotzdem zeigen verschiedene Untersuchungen ein nahezu paradoxes Auseinanderklaffen von MR-tomografischen Parametern und Klinik. Erklärungen sind das Fehlen histopathologischer Spezifität der MRT (speziell für den axonalen Verlust), die Unterschätzung von Schäden in der sog. normal erscheinenden weißen Substanz (»Normal appearing white matter« weist bereits histopathologische Veränderungen auf), die mangelnde Sensitivität gebräuchlicher klinischer Skalen (z. B. EDSS, Kap. 5.1.3), die Läsionslokalisation im Rückenmark und potenziell maskierende Effekte kortikaler Adaptation. Vergleicht man verschiedene MR-Techniken mit dem klinischen Verlauf und der Erkrankungsschwere, so sind die Akkumulation der T1-black holes, der Rückenmarksdurchmesser auf Höhe C2, der Grad der Hirnparenchymatrophie , die Reduktion der Magnetisation Transfer Ratio (MTR) und der Verlust von N-Acetyl-Aspartat (NAA) in der MR-Spektroskopie bessere Surrogatmarker als die Kontrastmittel aufnehmenden Läsionen oder die T2-Läsionslast (Übersicht z. B. bei McFarland et al. 2002). Die genannten Parameter sind besser in der Lage, spezifische und persistierende Gewebsschäden zu visualisieren. Beispielsweise zeigen die T1-black holes Demyelinisierung, gliale Vernarbungen sowie einen axonalen Schaden an.
Neben den MR-tomografischen Parametern wurde wiederholt der Nachweis oligoklonaler Banden bei Patienten mit klinisch isoliertem Syndrom als prädiktiver Marker für die Entwicklung einer klinisch sicheren MS bestätigt (Tintoré et al. 2015; Spelman et al. 2016). Weitere Bemühungen, laborchemische Parameter zu etablieren, haben Hinweise gegeben, dass die intrathekale Synthese von freien Leichtketten Kappa (Voortman et al. 2017) mit einem erhöhten Konversionsrisiko bei klinisch isoliertem Syndrom assoziiert sind. Der Nachweis von oligoklonalem IgM im Liquor war in Studien bei Patienten mit RRMS mit einer höheren Erkrankungsaktivität und einer rascheren Behinderungsprogression assoziiert, bei Patienten mit klinisch isoliertem Syndrom bestand eine höhere Konversionsrate zu einer klinisch sicheren MS. (Ferraro et al. 2013; Sola et al. 2011). Die Bestimmung von Neurofilament (Neurofilament light chain) im Serum und Liquor wird als möglicher Marker für einen akuten axonalen Schaden angenommen und ist in einzelnen Studien mit einer Behinderungsprogression sowie Hirnatrophie assoziiert (Kuhle et al. 2017; Arrambide et al. 2016; Kuhle et al. 2016). Der Einsatz in der klinischen Routine ist jedoch für die verschiedenen Marker noch nicht etabliert (Teunissen et al. 2015). Es bestehen allerdings Hinweise darauf, dass Antikörper, die gegen bestimmte Bestandteile der Markscheide oder anderer Strukturen des ZNS gerichtet sind, als Biomarker für die Aktivität der Erkrankung und Eingrenzung der MS-Unterform einzusetzen sind. So konnten bei der Neuromyelitis optica Antikörper gegen das auf Astrozyten exprimierte Kanalprotein Aquaporin-4 gefunden werden, die bei der klassischen MS nicht zu finden sind (Lennon et al. 2004 und 2005). Die Bedeutung von Antikörpern gegen Myelin-basisches Protein und Kaliumkanal Kir4.1 als Diagnose- oder Prognosemarker ist aufgrund widersprüchlicher Publikationen unklar (Gaertner et al. 2004; Lampasona et al. 2004; Rauer et al. 2006; Srivastava et al. 2012; Chastre et al. 2016; Pröbstel et al. 2016). Die zunehmende Kenntnis von Antikörpern erleichtert die Abgrenzung anderer entzündlicher ZNS-Erkrankungen von der MS, so z. B. der NMOSD oder der MOG+-Erkrankungen ( Kap. 1.3).
Inwieweit Antikörper gegen Glykolipide des ZNS-Myelins (Galactocerebroside; α-GalC) (Platten und Steinman 2005; Menge et al. 2005a), N-glykosylierte Peptide (Lolli et al. 2005), spezifische Liquor-IgM-Immunglobuline (Villar et al. 2005) oder bestimmte Immunzellphänotypen (Rinaldi et al. 2006) als Biomarker für die RRMS genutzt werden können, bedarf der Bestätigung durch verschiedene unabhängige Labors (Bielekova und Martin 2004). Auch Versuche, spezifische Marker für axonale Schädigung im Serum oder Liquor zu definieren, wie beispielsweise TAU-Protein, Aktin, Tubulin und 14-3-3-Protein, scheiterten bisher (Teunissen et al. 2005a).