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2.3 Gründe für Spracherhalt
ОглавлениеEntgegen der Sichtweise, das Vorhandensein mehrerer unterschiedlicher Sprachen in einem Staat führe zu politischer Spaltung und widerspreche dem Verständnis von einem Nationalstaat mit nur einer gemeinsamen Sprache für alle Bürger (vgl. Krashen 1998: 5f.), argumentiert Fishman für den Erhalt sprachlicher Diversität und belegt anhand von Daten aus 170 Ländern, dass dieser Faktor nicht ausschlaggebend für politische Instabilität ist (vgl. Fishman 1990). Im Gegenteil, die Bewahrung und Akzeptanz selbst kleinerer Minderheitensprachen ist laut Fishman gleichsam ein Zeichen kultureller Demokratie (vgl. Fishman 1991: 3). Sprachliche Pluralität aufrechtzuerhalten, bedeutet demnach die Voranstellung von Identität vor Macht, von Individuum und Gemeinschaft vor Gesellschaft und gibt darüber hinaus nicht prestigeträchtigen Sprachen genügend Raum zur Entfaltung (vgl. ebd.: 6):
The destruction of languages is an abstraction which is concretely mirrored in the concomitant destruction of intimacy, family and community, via national and international involvements and intrusions, the destruction of local life by mass-market hype and fad, of the weak by the strong, of the unique and traditional by the uniformizing, purportedly ‘stylish’ and purposely ephemeral. (Fishman 1991: 4)
Es lassen sich zahlreiche weitere Argumente für den Erhalt einer Minderheitensprache jenseits von verklärter Vorstellung von sprachlicher Diversität anführen. So ist das Versprechen, durch die Mehrheitssprache sozial aufzusteigen und seine Chancen auf Erfolg zu erhöhen, insbesondere wenn man die Minderheitensprache hinter sich lässt, entgegen den in Abschnitt 2.2 zitierten Studien nicht universell einlösbar, wie die Forschungen von Brizić (2007; 2009) nachweisen. In ihrer Studie zeigte sich, dass Schülerinnen und Schüler mit der geringsten Deutschkompetenz gleichzeitig über die geringsten Sprachkenntnisse in der vermeintlichen Erstsprache verfügten. Dies widerspricht also den oben diskutierten Befunden, das schlechte Abschneiden Mehrsprachiger im Bildungssystem sei auf den Erhalt der Minderheitensprache zurückzuführen. Durch qualitative Tiefeninterviews mit den Eltern dieser Schüler konnte Brizić jedoch eine Erklärung für diese Feststellung finden und nachzeichnen, dass in der scheinbar homogenen Sprechergruppe eine Vielzahl an anderen, „verschwiegenen“ Sprachen gesprochen wurde. Diese Familien hatten den Prozess des Sprachwechsels bereits durchlaufen und schon vor der Migration eine im Herkunftsland nicht prestigeträchtige oder gar stigmatisierte Minderheitensprache zugunsten der offiziellen Mehrheitssprache aufgegeben. Brizić formuliert ihre Ergebnisse zusammenfassend wie folgt:
Die uneingeschränkte Weitergabe der Erstsprache von den Eltern an die Kinder könnte also tatsächlich so, wie es sich hier in unserem Sample präsentiert, einen entscheidenden Vorteil darstellen und sogar andere ungünstige Bedingungen aufwiegen; die teilweise Weitergabe und die Nichtweitergabe könnten dagegen gewissermaßen einen „Kapitalverlust“ bedeuten, da sie zu einem mehr oder weniger umfassenden sprachlichen Neuanfang zwingen – in der Migrationssituation möglicherweise eine besonders schwierige Ausgangsposition für jeden weiteren Spracherwerb. (Brizić 2007: 330; Hervorhebungen i.O.)1
Brizić betont also, dass die Aufgabe der familiär verwendeten Sprache in der Migrationssituation eine doppelte Belastung darstellt und die Familien sprachlich zu einem vollständigen Neustart zwingt. Somit führt Sprachwechsel zur Mehrheitssprache erst zu Bildungsbenachteiligung. Studien aus der interkulturellen Erziehungswissenschaft konnten ebenfalls nachweisen, dass diejenigen Sprecher der zweiten Generation erfolgreich am Bildungssystem und am Arbeitsmarkt partizipieren, die sowohl die Mehrheitssprache erwerben als auch die von ihren Eltern mitgebrachte Sprache beibehalten und diese als Ressource nutzen. Fürstenau (2004; 2005) legte eine Untersuchung zu Aufwertungsmöglichkeiten der Minderheitensprache in Ausbildung und Beruf aus der Perspektive Jugendlicher in der Phase der Berufsorientierung vor. In ihrer Arbeit zu portugiesischsprachigen Jugendlichen in Hamburg konnte sie u.a. nachzeichnen, dass sie ihre schulisch illegitimen Sprachkenntnisse durchaus eigenaktiv durch eine offizielle Zertifizierung aufwerten wollten (vgl. Fürstenau 2005: 373). Dies sei nach Fürstenau ein Versuch, sich gegen die bestehenden Verhältnisse auf dem sprachlichen Markt aufzulehnen. Auf dem Arbeitsmarkt zahlten sich insbesondere für die Jugendlichen mit höheren Bildungsabschlüssen die Kenntnisse in der Minderheitensprache ausdrücklich aus: Zusätzlich zu den von Esser (2009) genannten an die portugiesische Migrantengemeinde in Hamburg gebundenen Arbeitsmarktoptionen ergaben sich nach Einschätzung der Studienteilnehmer zahlreiche Berufsfelder in internationalen oder mehrsprachigen Kontexten (vgl. ebd.: 374). Zudem ermöglichte ihnen das Festhalten an der Minderheitensprache Portugiesisch, sich auch im Herkunftsland ihrer Eltern zu bewerben und dort beruflich tätig zu sein.
Auf positive Effekte des Erhalts der Minderheitensprache für das Individuum verweisen Ergebnisse der Akkulturationsforschung, die sich mit auftretenden Verhaltens- oder Werteänderungen bei Kontakt zwischen zwei unterschiedlichen Gruppen befasst (vgl. Smith 2014: 599). Die Arbeitsgruppe um Berry (vgl. Berry 1997; Berry et al. 2010) untersuchte mittels einer umfangreichen Fragebogenstudie das Akkulturationsverhalten von 5.366 Jugendlichen sowohl der ersten als auch der zweiten Migrantengeneration in 13 unterschiedlichen Länderkontexten. Darunter befanden sich klassische Einwanderungsländer wie die USA und Kanada sowie europäische Staaten mit hohem Anteil an Einwanderern wie Frankreich, die Niederlande und Deutschland. Als Akkulturationsindikatoren wurden kulturelle Traditionen, exogame vs. endogame Partnerschaften, soziale Aktivitäten, Freundschaften und Sprache ausgewählt.
Die Analysen belegen, dass der größte Teil der Jugendlichen (36,4 %) ein integriertes Akkulturationsprofil aufwies (vgl. Berry et al. 2010: 26). Das bedeutet, dass diese Jugendlichen sich sowohl der Kultur und den Traditionen ihrer Eltern als auch des Einwanderungslandes zugehörig fühlten und soziale Aktivitäten, Freundschaften und Partnerschaften unabhängig von diesen Kategorien wählten. Diese Gruppe berichtete eine ausgebaute Kompetenz in der Mehrheitssprache sowie eine durchschnittliche in der Minderheitensprache und wies stabile familiäre Beziehungen auf. Jugendliche mit einem nationalen Profil (18,7 %) zeichneten sich in der Studie dadurch aus, dass sie sich voll und ganz der Sprache und Kultur der Mehrheitsgesellschaft zuwendeten. Sie bevorzugten Kontakte zu Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft und lehnten elterliche Autorität stark ab (vgl. ebd.: 25). Ihr Akkulturationsverhalten wies die Tendenz einer völligen Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft auf.
Weitere Auswertungen belegten, dass Jugendliche mit einem integrierten Akkulturationsprofil sich weniger diskriminiert fühlten als solche mit einem nationalen Profil (vgl. ebd.: 29). Zudem zeigten Probanden mit einem integrierten Profil die besten psychologischen und sozio-kulturellen Anpassungsfähigkeiten im Vergleich zu den anderen Akkulturationsprofilen. Das bedeutet, dass sie sowohl über persönliches Wohlbefinden und mentale Stabilität verfügten als auch sozial kompetent in der Gesellschaft agierten. Sie waren zufriedener mit ihrem Leben, hatten ein höheres Selbstbewusstsein, weniger psychologische Probleme oder Verhaltensauffälligkeiten und kamen in der Schule besser zurecht (vgl. ebd.: 32). Das nationale Profil hingegen schlägt sich in durchschnittlichen sozio-kulturellen Anpassungsfähigkeiten bei gleichzeitig nur gering ausgeprägten psychologischen Akkulturationsstrategien nieder. Solche Probanden hatten im Vergleich zu anderen Gruppen weniger Selbstbewusstsein und waren seltener zufrieden mit ihren Lebensumständen. Diese Befunde widersprechen also klar der Annahme, der Erhalt der Minderheitensprache zahle sich nicht aus und sei keiner Investitionen wert:
For governments in societies that are receiving immigrants, our findings suggest that there should be support and encouragement for immigrants to pursue the integration path, since both psychological and sociocultural adaptation are more positive among those who orient themselves in this way. […] First, cultural maintenance should be desired by the immigrant community, and permitted (even encouraged) by the society as a whole. Second, participation and inclusion in the life of the larger society should be sought by the immigrants, and permitted and supported by the larger society. (Berry et al. 2010: 38f.)
Weitere Studien bescheinigen Mehrsprachigen über die emotionale Ebene hinaus zahlreiche kognitive Vorteile. So konnten beispielsweise Arbeiten aus der Fremdsprachenforschung nachweisen, dass die Förderung der Minderheitensprache und ihre Nutzbarmachung im Unterricht nicht nur einen positiven Effekt auf die Deutschkenntnisse ausübt, sondern auch den Erwerb weiterer Sprachen unterstützt (vgl. Göbel et al. 2011; Hesse & Göbel 2009; Hu 2003; Rauch et al. 2010). Ergebnisse der DESI-Studie2 zeigen beispielsweise, dass mehrsprachige Schülerinnen und Schüler im Englischunterricht ihren einsprachigen Klassenkameraden um ein halbes Lernjahr voraus sind – trotz eines Leistungsrückstands im Deutschen. Ein Grund hierfür liegt in den sprachanalytischen Fähigkeiten, dem sog. metasprachlichen Wissen, das Mehrsprachige früher ausbildeten als einsprachig Sozialisierte (vgl. u.a. Bialystok 1986; 1991; 2009; Cummins 1978; Oomen-Welke 2006). Durch die bereits frühe Beschäftigung mit unterschiedlichen Sprachsystemen erfahren mehrsprachig aufwachsende Kinder stärker die formale Funktion des sprachlichen Zeichens und lernen, Form und Inhalt abstrakt zu betrachten (vgl. Adesope et al. 2010: 209). Ein weiterer Erklärungsansatz hierfür könnte die im Fremdsprachenunterricht geringere Bedrohung durch Stereotype sein (s.o.). Da das Lernen einer neuen Sprache für alle Kinder gleichermaßen neu ist und nicht so sehr mit Deutschkenntnissen verbunden ist wie andere (Sach-) Fächer, sind Mehrsprachige im Fremdsprachenunterricht keinen negativen Stereotypen ausgesetzt, die Stereotype könnten gar im Sinne der oben angeführten Argumentation positiv besetzt sein.
Erleichterte Erwerbsbedingungen gelten allerdings nicht pauschal für alle Mehrsprachigen, sondern betreffen nur Sprecher mit einem hohen Kompetenzgrad in beiden Sprachen (vgl. Cenoz 2003; Lauchlan et al. 2013; Rauch et al. 2012). Die Kenntnisse in einer Minderheitensprache können für einen Sprecher also nur dann von Vorteil für den Erwerb anderer Sprachen sein, wenn diese weit ausgebaut und erhalten sind. Weitere Belege für diese Schlussfolgerung liefert die Neurowissenschaft. Untersuchungen mittels bildgebender Verfahren wiesen nach, dass bei balanciert Mehrsprachigen beide Sprachen im gleichen Hirnareal aktiviert werden, während bei eingeschränkter Kompetenz in einer der beiden Sprachen ein zusätzliches neuronales Netzwerk aufgebaut wird (vgl. Nitsch 2007: 55). Der Mehrsprachige kann also nur bei ausgebauter Sprachkompetenz auf bereits vorhandene neuronale Strukturen zurückgreifen und diese für den Erwerb weiterer Sprachen nutzen.
Des Weiteren attestiert die Neuropsychologie Mehrsprachigen Vorteile bezüglich exekutiver Funktionen wie Problemlösekompetenz, mentaler Anpassungsfähigkeit, Aufmerksamkeitssteuerung oder kognitiver Flexibilität. Studien von Costa und Kollegen (vgl. Costa et al. 2008; 2009) zeigten beispielsweise, dass mehrsprachige Probanden in ihrem Sample effizienter und schneller Aufgaben mit inkongruentem Stimulus und widersprüchlicher Information lösten als einsprachige Studienteilnehmer. Sie schlussfolgern daraus, dass Mehrsprachigkeit einen besseren Zugang zu Aufmerksamkeitsmechanismen erlaubt, sodass diese Personen selbst unter erschwerten Bedingungen in der Lage sind, inkonsistente Daten zu verarbeiten (vgl. Costa et al. 2008: 77).
Ähnliche Ergebnisse lieferten mehrsprachige Probanden in den Studien von Bialystok und Kollegen (vgl. Bialystok et al. 2005; Emmorey et al. 2008; Moreno et al. 2010). Bei der Bearbeitung eines Simon Task3 oder bei der Beurteilung von Sätzen, die grammatisch und semantisch inkongruent waren, reagierten Mehrsprachige deutlich schneller und schnitten merklich besser ab als Einsprachige, was auf einen höheren Grad an kognitiver Flexibilität und Kontrolle der erstgenannten Sprechergruppe hindeutet. Diese Vorteile werden auf die Tatsache zurückgeführt, dass der regelmäßige Gebrauch zweier Sprachen ein erhöhtes Ausmaß an Aufmerksamkeit bei der Sprachwahl abverlange (vgl. Adesope et al. 2010: 208). Diese Aufmerksamkeitsleistung können die Probanden ebenfalls auf andere Bereiche übertragen und sie zur Lösung komplexer Probleme nutzen.
Diese auch medial sehr präsenten Annahmen der Neuropsychologie werden jüngst durch die Forschungsgruppe um Paap stark in Frage gestellt. In einer breit angelegten Studie testeten Paap und Kollegen 384 Probanden mithilfe von vier gängigen Testverfahren wie dem Simon Task oder dem Antisakkaden-Test4, um Unterschiede zwischen den einsprachigen und den mehrsprachigen Studienteilnehmern bezüglich exekutiver Funktionen zu erheben (vgl. Paap et al. 2014). Ziel war es, die gängigen Studien der Neuropsychologie zu replizieren und die als untermauert geltenden Ergebnisse zu bestätigen. Sie erhoben dabei zusätzlich Merkmale wie Beginn des L2-Erwerbs, Sprachdominanz sowie die Beherrschung weiterer Sprachen. Die Arbeitsgruppe konnte entgegen den bisherigen Annahmen unter keinen Bedingungen positive Effekte der Mehrsprachigkeit auf exekutive Funktionen auffinden: „It is likely that bilingual advantages in EF (i. e. executive functions, H. O.) do not exist. If they do exist they are restricted to specific aspects of bilingual experience that enhance only specific components of EF. Such constraints, if they exist, have yet to be determined“ (Paap et al. 2015: 276).
Der Widerspruch zu früheren Studien wird primär mit ihrer statistischen Anlage erklärt. So weise ein Großteil der diesem Gebiet zugeordneten Forschungen eine zu geringe Probandenanzahl von durchschnittlich etwa 15 bis 30 Personen pro Gruppe auf (vgl. ebd.: 266f.). Um diesem Missstand zu begegnen, würden jedoch für gewöhnlich mehrere kleinere Studien statt einer umfassenderen Arbeit durchgeführt. Eine weitere Schwäche stelle die Zusammensetzung der Vergleichsgruppen dar, die oftmals nicht nach sozio-ökonomischem Status kontrolliert oder innerhalb der mehrsprachigen Gruppe nicht nach Dauer des Aufenthaltes angeglichen werde (vgl. ebd.: 267f.). Trotz ihrer Kritik formulieren Paap und Kollegen abschließend die Hypothese, dass Mehrsprachigkeit sich dennoch positiv auf exekutive Funktionen auswirken könne, jedoch sei der entsprechende Effekt vermutlich gering und nur bei einer spezifischen Bedingungskonstellation nachweisbar.
Darüber hinaus wird Mehrsprachigen in Bezug auf den Alterungsprozess eine Überlegenheit gegenüber Einsprachigen zugeschrieben. So sei bei Ersteren die altersbedingte Abnahme kognitiver Fähigkeiten weiter nach hinten verlagert, da durch die lebenslange Verwendung zweier oder mehr Sprachen eine kognitive Resistenz geschaffen werde, die den geistigen Alterungsprozess verlangsame und das Gehirn vor Schäden schütze (vgl. Kavé et al. 2008). Dabei kann der Faktor Mehrsprachigkeit zuverlässiger die kognitiven Fertigkeiten eines älteren Probanden vorhersagen als andere demographische Variablen wie Alter, Geschlecht, Alter bei Ausreise oder Bildungsgrad (vgl. ebd.: 70). Die balancierte Beherrschung beider Sprachen scheint hier ebenso eine entscheidende Rolle zu spielen: Je ausgebauter die Sprachkenntnisse in beiden Sprachen, desto besser waren die kognitiven Fähigkeiten der Probanden im Alter erhalten. Ardila und Ramos (2008) berichten zudem über Effekte der Mehrsprachigkeit bei Demenzpatienten. Ihre kognitiven Funktionen blieben mit einer größeren Wahrscheinlichkeit erhalten, wenn sie primär in ihrer Erstsprache kommunizierten statt in der Zweitsprache (vgl. ebd.: 244). Die dargestellten Forschungsergebnisse belegen, dass Mehrsprachigkeit nicht nur einen schützenden Effekt auf kognitive Fähigkeiten bei normalen Alterserscheinungen haben kann, sondern dass sie sich auch verzögernd bei Demenz auswirkt.
Schließlich wiesen einige Studien einen reziproken Zusammenhang zwischen Mehrsprachigkeit und Kreativität nach (vgl. für einen Überblick Ricciardelli 1992). Forschungen konnten bestätigen, dass sowohl eine ausgeprägte nonverbale Kreativität die Mehrsprachigkeit vorteilhaft beeinflusse als auch die Mehrsprachigkeit selbst sich in einem positiven Maße auf den Ideenreichtum und das Vorstellungsvermögen auswirke. Hommel und Kollegen (2011) belegten ebenfalls für verbale Kreativitätsaufgaben, dass Personen, die über ausgebaute Sprachkompetenzen in ihren beiden Sprachen verfügten, eher konvergente Denkstrukturen aufwiesen und schneller in der Lage waren, Gemeinsamkeiten zwischen Begriffen zu finden sowie Assoziationen, Bedeutungen und Abstraktionen von bestimmten Konzepten zu bilden. Nicht balanciert Mehrsprachige hingegen zeigten ausgebaute divergente Denkweisen und generierten mehr originelle, detaillierte Lösungen für ein Problem (vgl. ebd.: 114). Die kognitiven Prozesse des divergenten und konvergenten Denkens sowie der dadurch erzeugte sprachliche Output sind als Manifestationen der Kreativität Mehrsprachiger zu werten (vgl. Kessler & Quinn 1987).
Mehrsprachigkeit ist also aus vielerlei Gründen eine nicht zu unterschätzende gesellschaftliche wie persönliche Ressource, die es aufrechtzuerhalten und auszubauen gilt. Gleichzeitig erscheint eine Sichtweise auf Mehrsprachigkeit als Ressource – also als Arbeitsmittel und Rohstoff – der Sichtweise der Sprecher selbst jedoch nicht gerecht zu werden (vgl. Ricento 2005 zu einer Kritik dieser Betrachtungsweise). Denn auf der Ebene des Individuums bedarf der Erhalt der Minderheitensprache keiner weiteren Begründung als den Wunsch, diese zu erhalten. Daran gekoppelt ist die Vorstellung, das Bewahren der Sprache stärke die Verbindung sowohl zwischen den Generationen innerhalb der Familie als auch zwischen dem Sprecher und einer von ihm konstruierten Identität, Geschichte oder Herkunft. Die Vermeidung intergenerationaler Konflikte durch eine gemeinsame Sprache und somit eine erleichterte Kommunikation mit der älteren Generation, der Community in der Diaspora und den Familienangehörigen im Herkunftsland stellen seitens mehrsprachiger Eltern wichtige Beweggründe dar, dem Verlust der Minderheitensprache entgegenzuwirken (vgl. Cho & Krashen 1998: 33).
So stellt denn auch der Wunsch nach Erhalt der Minderheitensprache für die Familien die Bedeutung der Mehrheitssprache für Bildung und finanziellen Erfolg zwar keinesfalls infrage, dennoch gilt die größere Befürchtung mehrsprachiger Eltern mit Blick auf ihre Kinder nicht einem defizitären Erwerb der Mehrheitssprache, sondern gerade dem Erwerb und Erhalt der Minderheitensprache. Diese Sorge der Eltern spiegelt sich in Unsicherheit und einem großen Beratungsbedarf zu Strategien und Erfolgsbedingungen mehrsprachiger Erziehung, was in einschlägigen Online-Elternforen und in Untersuchungen zu pädiatrischer Beratungspraxis sichtbar wird (vgl. Bockmann et al. 2013; Buschmann et al. 2011). Erste Studien in diesem Bereich konnten aufzeigen, dass Eltern ob der sprachlichen Entwicklung ihres Kindes häufig beunruhigt sind. Falls Beratung in Anspruch genommen wird, so geschieht dies innerhalb der kinderärztlichen Betreuung oder aber im privaten Umfeld (vgl. Bockmann et al. 2013: e16). Meist sind die Eltern jedoch bei Fragen zu mehrsprachigen Erwerbsverläufen auf sich allein gestellt und erfahren kaum institutionelle oder fachkundige Unterstützung (vgl. ebd.).
Insgesamt erscheint es nicht angemessen, eine Rechtfertigung für den Erhalt der Minderheitensprache allein in einem positiven Effekt auf das Altern, das Lernen von Fremdsprachen oder auf die Mehrheitssprache und somit auf Bildungserfolg zu suchen, denn die Minderheitensprache stellt bereits einen intrinsischen Wert dar. Jenseits von angestrebten ökonomischen Vorteilen für den Einzelnen führt der Wunsch nach Erhalt der Minderheitensprache und dessen erfolgreiche Umsetzung zu höherem Selbstwertgefühl, ehrgeizigeren Zukunftsplänen, mehr Selbstbewusstsein bei der Erreichung festgesetzter Ziele und zu einem gesteigerten Gefühl der Kontrolle über sein eigenes Leben (vgl. Garcia 1985: 228f.; Krashen 1998: 8). Die Bewahrung der Mehrsprachigkeit über Generationen hinweg kann folglich einen gewichtigen Einfluss auf emotionales Wohlbefinden, Stabilität und die psychische Verfassung des Individuums ausüben. Als ein persönliches, bedeutsames Thema, das stets im Kontext der Familie verhandelt wird, ist sie für die Sprecher selbst also eine subjektive, emotional aufgeladene Angelegenheit und bedarf weiter keiner rationalen Argumente.