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3.3.3 Unvollständiger bzw. divergenter Erwerb der Heritage Language

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Die Rolle des Inputs beim HL-Erwerb wird jedoch nicht nur im Zusammenhang mit Attritionsprozessen dieser Sprechergruppe diskutiert, sondern auch im Hinblick auf unvollständige Erwerbsverläufe, deren Eigenschaften sich im sprachlichen Output von HL-Sprechern niederschlagen. Der unvollständige Erwerb bezeichnet im Gegensatz zur Attrition einen Zustand, bei dem bestimmte Teile eines sprachlichen Systems nicht vollständig erworben wurden und somit keine „muttersprachliche“ Kompetenz als Resultat des Spracherwerbsprozesses gegeben ist (vgl. Montrul 2008: 19f.). Er nimmt seinen Anfang in der Kindheit des Sprechers, wenn unter bestimmten Voraussetzungen einige Strukturen der HL nicht erworben werden können, weil ein intensiver Kontakt zur Mehrheitssprache einsetzt.

Als Ursachen für diesen Spracherwerbsverlauf werden ebenfalls sowohl der Einfluss der Mehrheitssprache als auch der reduzierte Sprachgebrauch bzw. der Mangel an Stimulus in der HL benannt (vgl. Köpke 2007: 11f.; Montrul 2008: 64). Montrul betont hierbei ähnlich wie im Falle von Attritionsprozessen die Bedeutung des Alters, in dem der Kontakt zur Mehrheitssprache beginnt, und unterstreicht gleichzeitig die Rolle des Inputs: „Fossilization in one of the languages (and possibly even in both) is likely when rich input in the language becomes reduced or is completely interrupted before the closure of the critical period“ (Montrul 2008: 20). Es kommt nach ihrer Auffassung dann zu unvollständigem Erwerb – hier unter dem Begriff „Fossilisierung“ – wenn durch äußere Umstände der Umfang des Inputs in der HL vor dem Erreichen der Pubertät verringert wird.

Pires und Rothman unterscheiden zudem zwei Typen von unvollständigem Erwerb, die sie verstärkt mit der Art des erhaltenen Inputs in Beziehung setzen: Zum einen beschreiben sie tatsächlichen unvollständigen Erwerb von sprachlichen Strukturen, für die der Sprecher eindeutige positive Evidenz im Input erhielt. Zum anderen grenzen sie hiervon einen Erwerbsverlauf der HL ab, bei dem der Sprecher einige im Input fehlende sprachliche Strukturen nicht erwerben konnte (vgl. Pires & Rothman 2009: 214). Dieser zweitgenannte Fall ist zwar in seiner Äußerungsform mit dem ersten identisch, allerdings führen sie ihn auf die oben in Abschnitt 3.2.1 (1) und (2) diskutierten Eigenschaften des durch den HL-Sprecher erhaltenen Inputs zurück und betrachten das Resultat dieses Erwerbsprozesses somit nicht als unvollständig, sondern als divergent (missing-input competence divergence, vgl. ebd.). Erst die Unterscheidung in unvollständig vs. divergent berücksichtige die Erwerbssituation dieser Sprecher, da dadurch nicht ausschließlich die von Monolingualen im Herkunftsland erworbene standardnahe Varietät als Zielfolie gelte, sondern auch der auf informelle Kommunikation im intimen Register ausgerichtete Input durch Migranten erster Generation einbezogen werde. Als unvollständig ist der Erwerbsverlauf einzig in dem erstgenannten Szenario zu bezeichnen, also dann, wenn der durch den HL-Sprecher bezogene Input erwiesenermaßen die zu erwerbende Struktur enthielt.

Spracherhalt und Sprachverlust bei Jugendlichen

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