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3.3.1 Perspektiven der Attritionsforschung auf Sprachverlust

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Im Gegensatz zu Prozessen wie Sprachtod und -wechsel, die sich auf ganze Sprachgemeinschaften beziehen, werden unter dem Begriff „Attrition“ individuelle Verläufe verstanden, die nur Einzelpersonen betreffen (vgl. Montrul 2008: 21). „Attrition“ beschreibt hierbei einen graduellen Verlust bestimmter sprachlicher Strukturen durch ein Individuum: „loss of (or inability to produce) some L1 elements due to L2 influence“ (Pavlenko 2003: 34; vgl. auch Montrul 2008: 64). Es wird unterschieden in natürliche Attritionsprozesse wie L1-Verlust in einer L2-Umgebung (vgl. Köpke et al. 2007; Schmid et al. 2004; Seliger & Vago 1991) sowie L2-Verlust in einer L1-Umgebung (vgl. De Bot & Weltens 1995; Olshtain 1989) im Gegensatz zu krankheitsbedingtem pathologischem Verlust sprachlicher Strukturen bei Aphasie o.ä. (vgl. Gitterman et al. 2012; Paradis 2000; 2004), wobei der erstgenannte Fall durch die Forschung die meiste Aufmerksamkeit erfuhr. Dieser Typ der Attrition wird im Zusammenhang mit der ersten Migrantengeneration untersucht, bei der von einem sukzessiven Verlustprozess von L1-Strukturen in einer L2-Umgebung ausgegangen wird, nachdem diese zuvor in einem L1-Kontext vollständig erworben wurden.

Attrition der L1 wird allem voran durch die neurolinguistisch angelegte Aktivierungsschwellen-Hypothese (Activation Threshold Hypothesis, vgl. Paradis 1993; 2004) erklärt. Sie besagt, dass ein Element nur dann aktiviert wird, die entsprechende Schwelle für seine Verwendung also nur dann überschritten wird, wenn dafür genügend positive Evidenz im Input vorhanden ist (vgl. Paradis 2004: 28). Der Begriff „Element“ kann sich dabei sowohl auf eine konkrete sprachliche Form als auch auf eine Regel beziehen. Diese Aktivierungsschwelle für ein Element wird weiter herabgesenkt, je häufiger es aktiviert wird. Sie liegt entsprechend höher, falls das Element keine Stimulation im Input erhält: „In a nutshell, attrition is the result of long-term lack of stimulation“ (Paradis 2007: 125). Auf einen mehrsprachigen Kontext übertragen bedeutet dies, dass bei frequentem Gebrauch der L2 die Aktivierungsschwelle für die L1 weiter ansteigt und diese dadurch schwieriger zugänglich ist. Bei erschwertem Zugang zu bestimmten L1-Strukturen wächst die Wahrscheinlichkeit für den Einfluss entsprechender Strukturen aus der L2, die für den Sprecher inzwischen schneller und leichter verfügbar sind (vgl. Gürel 2007: 104). Hierdurch werden Strukturen produziert, die in der L1-Umgebung nicht auftreten.

Laut der Aktivierungsschwellen-Hypothese sind es die nicht frequenten, komplexen und somit markierten Strukturen, zu denen ein Sprecher in einer Sprachkontaktsituation am schnellsten den Zugang verliert (vgl. Gürel 2007: 101). Für diese Elemente ist die Aktivierungsschwelle sogar in einer L1-Umgebung ohnehin hoch gesetzt. Verfügt die L2 jedoch über konkurrierende Formen, für die die Aktivierungsschwelle aufgrund des häufigeren Gebrauchs niedriger liegt, werden die schwer zugänglichen L1-Strukturen durch diese substituiert (vgl. ebd.: 104; Köpke 2007: 11f.). Damit einhergehend lässt sich schlussfolgern, dass funktionale, regelhafte Elemente wie Flexionsmorpheme oder die Kernsyntax aufgrund ihrer Auftretensfrequenz weitaus seltener von Attrition betroffen sind als einzelne Lexeme, die wesentlich häufiger nicht mehr zugänglich sind und deren Abhandenkommen als erstes Anzeichen von Attrition gilt (vgl. Keijzer 2007: 14f.; Schmid 2011: 48). Eine ähnliche Vorhersage über die für Attrition anfälligen sprachlichen Bereiche macht die Regressionshypothese. Sie besagt, dass diejenigen Einheiten als erstes verlorengehen, die als letztes erworben wurden, und umgekehrt (vgl. Jakobson 1941; zitiert nach Keijzer 2010: 9f.). Da markierte Strukturen später erworben werden als unmarkierte, kommen diese eher in einer Sprachkontaktsituation abhanden.

Was bereits in der oben zitierten Definition von Pavlenko sichtbar wird, ist die Uneinigkeit darüber, ob der Begriff „Attrition“ sich nur auf Erscheinungen im Kompetenzbereich oder bereits auf solche im Performanzbereich beziehen könne bzw. ob Attrition beide Bereiche betreffen kann. Werden Abweichungen auf Performanzebene erfasst, ist strittig, ob bestimmte L1-Strukturen tatsächlich nicht mehr vorliegen oder ob vielmehr der Zugang zu diesen aufgrund einer äußerst hoch gesetzten Aktivierungsschwelle versperrt ist (vgl. Keijzer 2007: 13; Köpke 2007: 25; Sharwood Smith & van Buren 1991: 18). Da die Produktion sprachlicher Einheiten im Allgemeinen schwieriger ist als deren Verständnis (vgl. Paradis 2004: 29), greifen entsprechend auch Attritionsprozesse auf der Performanzebene schneller als auf der Ebene der Kompetenz.

Sind Erwachsene von strukturellen Veränderungen ihrer L1 betroffen, kann laut Montrul (2008: 65) Attrition nur auf der Performanz-, nicht aber auf der Kompetenzebene auftreten. Diese Ansicht wird gleichermaßen von Seliger gestützt: Er betrachtet Attrition ausschließlich als Erosion der Performanz, da bereits erworbenes Wissen nicht vollständig verlorengehen kann (vgl. Seliger 1985: 4; auch Ecke 2004: 334). Paradis hingegen bestätigt zwar die Feststellung, dass bei erwachsenen Migranten Abweichungen in der L1 primär im Performanzbereich zu beobachten sind, betrachtet diese jedoch nicht als Attritionserscheinungen, sondern vielmehr als Hinweise auf Unzugänglichkeit zu noch immer gespeicherter Information (vgl. Paradis 2007: 130).

Die Aktivierungsschwellen-Hypothese hebt nicht nur die Bedeutung von Input für Spracherhalt hervor, sie formuliert zudem Annahmen bezüglich des Sprecheralters als einen relevanten Faktor für Attrition. So lässt sich nur dann von Attrition sprechen, wenn ein vollständiger Erwerb einer entsprechenden Struktur vorausgegangen ist. Dieser Behauptung ist der Altersaspekt auf mehreren Ebenen immanent: Zum einen werden markierte sprachliche Formen später erworben als unmarkierte, was einer kognitiven Maturation bedarf, die erst nach einem bestimmten Alter erreicht ist (vgl. Bylund 2009: 696). Beispielsweise wird das Erwerbsalter für komplexe syntaktische Strukturen wie Passivsätze auf 9 bis 11 Jahre gesetzt, während der Aufbau einfacher Sätze bereits in einem Alter von 2;0 bis 2;6 möglich ist (vgl. Klann-Delius 2008: 43).

Zusätzlich hängt diese Altersgrenze stark von den Strukturen der zu erwerbenden Sprache ab. Klann-Delius berichtet beispielsweise, dass der Erwerb des deutschen Kasussystems im Durchschnitt mit 3;6 Jahren abgeschlossen ist, während das russische aufgrund seiner Irregularitäten erst im Alter von 6 bis 7 Jahren sicher beherrscht wird (vgl. ebd.: 50). Nach Schmid lässt sich aber grundsätzlich davon ausgehen, dass die Erstsprache eines Sprechers ungefähr ab der Pubertät stabil ist und als erworben gilt: „[…] only speakers who emigrated when they were older than 12 years can be called ‘L1 attriters’“ (Schmid 2011: 73f.).

Zum anderen zeigt sich der Faktor „Alter“ darin, dass der Verlust von L1-Strukturen bei Auswanderung erst nach dieser kritischen Phase keine gravierenden Erosionserscheinungen zur Folge hat, sondern sich höchstens in den bereits oben diskutierten Performanzabweichungen äußert. Dies bestätigen Studien mit Sprechern, deren Auswanderung bereits Jahrzehnte zurücklag und deren Input in der L1 seitdem teilweise stark eingeschränkt war (vgl. Di Venanzio et al. 2012; Gürel 2007; Schmid 2002). Hier konnten bei den Probanden weder Alterseffekte noch Effekte der Aufenthaltsdauer auf die L1 nachgewiesen werden, was die Schlussfolgerung zulässt, dass die Erstsprache – wurde ihr Erwerb einst erfolgreich abgeschlossen – auch unter den ungünstigsten Bedingungen nicht abhandenkommt. Im Gegensatz dazu können bei Bilingualen, die schon vor einem vollständigen L1-Erwerb Kontakt zur L2 hatten, Attritionserscheinungen selbst im Bereich der Kompetenz auftreten und somit massivere Abweichungen und Sprachkontakteffekte auslösen (vgl. Schmid 2011: 73). Laut Paradis lässt sich erst bei dieser Sprechergruppe überhaupt von Attrition sprechen: „Is L1 ever lost? In very young immigrants, possibly, if the language is not yet well-established at the time of immigration and is never used thereafter“ (Paradis 2007: 130).

Spracherhalt und Sprachverlust bei Jugendlichen

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