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1 Einleitung 1.1 Zielsetzung der Arbeit

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Der Erhalt von Heritage Languages (HL), also von allochthonen, intergenerational im Sinne eines sprachlichen Erbes weitergegebenen Minderheitensprachen, ist ein in der Mehrsprachigkeitsforschung aktuell vielfach diskutiertes Thema. Die Beschäftigung mit diesem Gegenstand rückt migrationsbedingte Mehrsprachigkeit und Minderheitensprachen mit geringem Prestige in den Fokus der Forschung und stellt nicht nur das gängige Verständnis von „muttersprachlicher“ Kompetenz infrage, sondern erweitert auch eine idealisierte Vorstellung von balanciert Mehrsprachigen um Sprecher mit weitaus vielfältigeren Sprachprofilen. Dieser Blick in die Peripherie von Sprachkompetenz- und -dominanzgraden Mehrsprachiger entspricht ungleich häufiger der tatsächlich beschriebenen sprachlichen Realität von HL-Sprechern, die auch ausschließlich über passive Kenntnisse ihrer HL verfügen können. Zudem gibt dieses Untersuchungsfeld Aufschluss über die Auswirkungen von außersprachlichen Merkmalen ganzer Sprechergruppen oder einzelner Individuen auf den Sprachkompetenzgrad in der HL. Dieser spiegelt als Ergebnis des Spracherwerbsprozesses die Bedeutsamkeit externer Kontextbedingungen für den Erhalt von Minderheitensprachen in der Migrationssituation wider. Die vorliegende Arbeit widmet sich diesem letztgenannten Aspekt und untersucht den Einfluss unterschiedlicher außersprachlicher Faktoren auf den Erhalt bzw. den Verlust der HL bei Jugendlichen der zweiten Migrantengeneration.

Ziel dieser Arbeit ist es, zur Beschreibung der Sprachverlust- bzw. Spracherhaltprozesse ein integratives Regressionsmodell der Einflussfaktoren für Spracherhalt in der Migration zu schaffen, das bereits vorhandene Ansätze aus der Attritions- und der Sprachtodforschung auf den jugendlichen HL-Sprecher überträgt und so mit bestehenden Erkenntnissen der HL-Forschung vereint. Das Modell soll dabei sowohl sprachbiographische als auch sozio-emotionale Faktoren sowie Kontexte des Sprachgebrauchs im Sinne des Registerbegriffs berücksichtigen. Auf diese Weise können zum einen die in der Sprachtodforschung aufgestellten Hypothesen über Wirkungszusammenhänge externer Faktoren auf das Aussterben autochthoner Minderheitensprachen (vgl. Sasse 1992) in einem allochthonen Kontext überprüft werden. Zum anderen können die in der Attritionsforschung bestehenden Annahmen über die Bedeutung einzelner außersprachlicher Faktoren für den Erhalt einer Sprache in der Migrationssituation (vgl. Schmid 2011) durch deren Transfer auf Sprecher eines anderen Spracherwerbstyps validiert werden. Diese sollen zudem an einer größeren Teilnehmerzahl und an unterschiedlichen HLs getestet werden.

Zu der grundsätzlichen Frage des Erhalts oder Verlusts von allochthonen Sprachen liegt eine Vielzahl von Studien vor, die zumindest einige außersprachliche Einflussfaktoren in die Analyse einbeziehen und hierdurch wichtige Hinweise auf bedeutende Wirkungszusammenhänge liefern. Die meisten dieser Studien, die bereits Bezüge zwischen externen Faktoren und dem Erhalt bzw. Verlust von allochthonen Minderheitensprachen in der Migrationssituation nachzeichnen, sind der Attritionsforschung zu erwachsenen Sprechern der ersten Einwanderergeneration zuzurechnen (vgl. Beiträge in Köpke et al. 2007; Schmid et al. 2004; Schmid & Köpke 2013). Allerdings berücksichtigen sie meist aufgrund einer geringen Probandenanzahl nur einige der Einflussmerkmale und widmen sich der Erforschung einer spezifischen Sprechergruppe in einem bestimmten sprachlichen Kontext, was teilweise zu sich widersprechenden Ergebnissen in der Einschätzung der einflussrelevanten Faktoren führte. Da sich die Sprecher in diesen Studien zudem von HL-Sprechern durch eine anders gelagerte Spracherwerbssituation unterscheiden, wird die grundsätzliche Übertragbarkeit der gemäß der Attritionsforschung für Spracherhalt förderlichen Faktoren auf den Kontext der HL-Sprecher in dieser Forschungsarbeit überprüft.

Des Weiteren wird eingehend erörtert, ob Ergebnisse aus Studien, die Attrition zum Gegenstand haben, ebenfalls für andere Altersgruppen als für Erwachsene Gültigkeit beanspruchen können. Dabei ist insbesondere die Überprüfung der Annahmen für den Kontext der Jugendlichen als gewinnbringend einzuschätzen: Diese Altersspanne ist nicht nur selten Gegenstand von Untersuchungen zum Spracherhalt, sie zeichnet sich ebenso durch eine spezifische Konstellation an externen Faktoren aus. Beispielsweise tritt die Familie als Sozialisationsinstanz in den Hintergrund, während Gleichaltrige eine zunehmend wichtigere Rolle spielen (vgl. Ecarius 2010). Diese Tatsache gepaart mit einer für dieses Alter oftmals beschriebenen Identitätssuche könnte einen bedeutsamen Einfluss auf die Entwicklung und die Stabilität der HL ausüben.

Ein weiterer Aspekt, der für die hier vorgestellte Studie von zentraler Bedeutung ist, ist die Aufspaltung sprachlicher Fähigkeiten nach Registern (vgl. Biber 1995; Maas 2010). Register als Domänen sozialen Handelns bestimmen nicht nur die hierfür benötigten sprachlichen Mittel, sie entscheiden ferner über deren Adäquatheit und positionieren den Sprecher somit zusätzlich in einem gesetzten Kontext als ein kompetent agierendes Subjekt. Im Sinne sprachlichen Ausbaus ist der Erwerb literater, schriftsprachlicher Strukturen für ein angemessenes Handeln auch im formellen Register unabdingbar. Literate Strukturen können jedoch nur erworben werden, wenn diese von oraten Strukturen aus initialisiert werden können und wenn ihre Aneignung gleichzeitig durch die sozialen Gegebenheiten gefordert ist. Für die Mehrheitssprache stellen Bildungsinstitutionen solch eine soziale Gegebenheit dar. Hier werden die für eine gelungene Kommunikation erforderlichen sprachlichen Fertigkeiten im formellen Register von den Sprechern nicht nur abverlangt, sondern im Idealfall auch vermittelt. HL-Sprecher erhalten hingegen weitaus weniger Möglichkeiten, die literaten Strukturen ihrer HL zu erwerben und zu nutzen, da diese Sprache zumeist ausschließlich die Domäne der Familie einnimmt, die dem intimen Register zuzurechnen ist. Das formelle Register bleibt für sie häufig allein durch die Mehrheitssprache besetzt. Nur wenige Studien der Sprachtod-, Spracherhalt- und -revitalisierungsforschung thematisieren diesen Aspekt und berücksichtigen in ihren Modellen gleichermaßen Standardisierung, Normierung und Schriftsprachlichkeit als auf Gruppenebene relevante Faktoren für den Erhalt einer Sprache (vgl. Grenoble & Whaley 2006). In der HL-Forschung wird der Erwerb schriftsprachlicher Strukturen allem voran im Rahmen von herkunftssprachlichem Unterricht beforscht und stellt eine Hürde beim Erstellen geeigneter Testformate und -instrumente dar (vgl. Montrul 2008; Polinsky 2015a). Untersuchungen zu Bedingungen, die speziell den Erwerb literater Strukturen fördern, sind hier ebenso selten.

Während die Sozialpsychologie auf mehrere Jahrzehnte der Erforschung von Einstellungen und sozialer Identität zurückblicken kann (vgl. Fishbein & Ajzen 1977; Tajfel 1982) und für die Erhebung dieser Konzepte geeignete Instrumente zur Verfügung stellt, werden die Begriffe „Einstellung“ und „Identität“ in der Mehrsprachigkeitsforschung meist noch recht alltagsnah interpretiert. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit Erkenntnissen der Sozialpsychologie oder eine daran angelehnte Erhebung von kultureller Identität und von Spracheinstellungen bilden die Ausnahme. Da diese Faktoren jedoch – wie Ergebnisse der Attritionsforschung es nahelegen – eine zentrale Rolle für den Erhalt der HL spielen können, ist ihre sorgsame Erhebung für die Erstellung eines theoretischen Einflussmodells für Spracherhalt von größter Bedeutung. Daher ist ein weiteres Ziel dieser Forschungsarbeit, in der Sozialpsychologie erarbeitete Instrumente zur Messung von Einstellung und kultureller Identität zu nutzen, um auf diese Weise das aufgestellte Modell zu externen Einflussgrößen auf den Erhalt der HL auch interdisziplinär stärker zu verorten.

Spracherhalt und Sprachverlust bei Jugendlichen

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