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3.2.1 Spezifische Bedingungen des Heritage-Language-Erwerbs

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(1) Der Erwerb findet unter anderen Bedingungen statt als bei einem monolingualen Kind. Im Elternhaus ist der HL-Sprecher mit einer allochthonen Minderheitensprache in Kontakt gekommen, die im Einwanderungsland nicht von der Mehrheitsgesellschaft gesprochen, für gewöhnlich nicht in Bildungsinstitutionen gelehrt wird und nur über wenig gesellschaftliches Prestige verfügt. Der Spracherwerb geschieht also von Anfang an in einer Sprachkontaktsituation als Aushandlung zwischen Mehrheits- und Minderheitensprache (vgl. Pauwels 2004: 719f.). Der Input in der HL erfolgt dabei durch bilinguale Personen, die zwar in der Minderheitensprache stark dominant sein können, aber auch zumindest über geringe Kenntnisse in der Mehrheitssprache verfügen, sodass sich bei HL-Sprechern vom Erwerb einer Kontaktvarietät sprechen lässt (vgl. ebd.; Montrul 2016: 24; Schroeder 2003: 33). Dieser Aspekt wird bei frühem Einreisealter und mit zunehmender Aufenthaltsdauer der Eltern von HL-Sprechern im Einwanderungsland prominenter.

(2) Der Spracherwerb wie der Sprachgebrauch des HL-Sprechers sind affektiven Einflüssen unterworfen. Da die Familie die vorrangige Domäne der HL bildet, ist sie nicht nur der Ort des Spracherwerbs, sondern hier werden für den HL-Sprecher gleichsam emotionale Bezüge zu der Sprache als familiär „ererbte“ Sprache hergestellt. Polinsky (2015a: 7) spricht gar davon, dass der HL-Sprecher sich in erster Linie über eine affektive oder kulturelle Verbindung zu der Minderheitensprache auszeichnet, seine Sprachkompetenz indes stärker in der Mehrheitssprache ausgeprägt ist. Spätestens ab dem Schuleintritt findet eine erste emotionale Auseinandersetzung mit der HL statt, da hier dem HL-Sprecher bewusst wird, dass er sich von der Mehrheitsgesellschaft in Bezug auf seine HL-Kenntnisse unterscheidet und zu einer sprachlichen Minderheit gehört (vgl. Polinsky 2015a: 9). Eine vertiefte Verarbeitung dieses „sprachlichen Erbes“ erfolgt häufig in der Pubertät, da zu diesem Zeitpunkt ohnehin identitätsbezogene Aspekte hinterfragt werden (vgl. Tse 2000: 188f.). Sie kann sowohl in eine verstärkte Beschäftigung mit der HL-Kultur und -Sprache als Erwachsener münden, als auch in einer kompletten Ablehnung dieser resultieren (vgl. Montrul 2016: 121). Negative Gefühle in Verbindung mit der HL erfahren HL-Sprecher ferner, wenn sie von anderen, kompetenteren Sprechern für ihre Kenntnisse verurteilt werden, falls sie nicht der im Herkunftsland gesprochenen Norm entsprechen und als defizitär angesehen werden. Dieses Phänomen wird in der HL-Forschung unter der Bezeichnung „Sprachscham“ (vgl. ebd.) untersucht.

(3) Die Sprachdominanz eines HL-Sprechers kann sich im Laufe seines Lebens ändern. Während der Kindheit ist die HL häufig seine dominante, also die weiter entwickelte Sprache (vgl. Müller et al. 2011: 65), was sich hingegen mit dem Eintritt in die Schule ändert. Spätestens ab diesem Zeitpunkt wird die Umgebungssprache stark dominant, da in ihr die gesamte institutionelle Kommunikation verläuft (vgl. Montrul 2016: 42). Die Alphabetisierung eines HL-Sprechers erfolgt ebenfalls ausschließlich oder vorwiegend in der Mehrheitssprache, was diese zusätzlich relativ zur Minderheitensprache stärkt (vgl. Polinsky 2015a: 12). Als Jugendliche oder Erwachsene wenden sich HL-Sprecher nicht selten wieder der HL zu und verspüren den Wunsch, ihre Kenntnisse weiter auszubauen und zu verfestigen.

(4) Der Gebrauch einer HL ist nicht in allen Domänen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zulässig, sodass die Familie nicht nur die primäre sprachliche Sozialisationsinstanz, sondern auch den vorwiegenden Kontext des HL-Gebrauchs darstellt. Dies hat zur Folge, dass der HL-Sprecher in erster Linie orate Strukturen, die für dieses intime Register1 bezeichnend sind, erwirbt (vgl. Maas 2008: 111; 2009: 146). Für das formelle Register sind sie nicht lizensiert. Soll ein Ausbau literater Strukturen stattfinden, so kann dieser nur durch Kontakt mit Sprechern außerhalb des intimen Registers oder in Bildungsinstitutionen geschehen (vgl. Schroeder & Şimşek 2010: 57). Wie bereits erwähnt, finden HLs jedoch nur ansatzweise Eingang in schulische Curricula. Das Ausmaß des Kontaktes zur HL außerhalb der Familie kann zudem von Sprecher zu Sprecher variieren und bedingt durch äußere Kontextmerkmale einer bestimmten Einwanderergruppe stark eingeschränkt sein, sodass die Familie oftmals die einzige Inputquelle und die alleinige Möglichkeit zum Sprachgebrauch bietet. Diese Tatsache fällt umso mehr ins Gewicht, je kleiner die betreffende Sprachcommunity ist, sowie bei Sprachen ohne schriftsprachlichen Ausbau. Für die Letztgenannten existiert meist keine angemessene Möglichkeit, andere Register zu erwerben, da sie an streng ritualisierte Handlungen und Sprachmuster geknüpft sind (vgl. Palmer 1997), die in der Migration nicht ohne Weiteres hergestellt werden können.

(5) Zusätzlich zu den oben angeführten Merkmalen des Spracherwerbs und Sprachgebrauchs von HL-Sprechern wird in der HL-Literatur als weiteres für diese Studie zentrales Unterscheidungsmerkmal das Kriterium der Generation zu seiner Abgrenzung von anderen Typen des mehrsprachigen Erwerbs hinzugezogen. So bezieht sich der Begriff „HL-Sprecher“ vorwiegend auf Personen der zweiten Einwanderergeneration. Ein Grund hierfür ist in den typischen Sprachdominanzverläufen in der Minderheiten- und Mehrheitssprache entlang den Generationenlinien zu finden und wurde bereits vor 50 Jahren in der Soziolinguistik als Drei-Generationen-Modell der Sprachaufgabe beschrieben (vgl. Fishman 1991: 88ff.). Für die HL-Forschung erlangt es jedoch mit der Betrachtung der zweiten Generation eine neue Bedeutung und unterstreicht abermals ihre Relevanz für den Prozess des Spracherhalts im Migrationskontext, da hier entscheidende Weichen gestellt werden, die die Weitergabe einer HL an die nachfolgende Generation entweder ermöglichen oder aber versperren (vgl. ebd.):

Generation Kenntnisse in der Mehrheitssprache Kenntnisse in der Minderheitensprache
erste eingeschränkt dominant
zweite dominant eingeschränkt
dritte monolingual nicht vorhanden

Tab. 3:

Formen der Sprachdominanz in der Mehrheits- und Minderheitensprache nach Generationenzugehörigkeit (Darstellung nach Montrul 2016: 24)

Die einzelnen Generationen können wie folgt beschrieben werden: Die erste Generation ist selbst zugewandert. Häufig wurden diese Sprecher in der Minderheitensprache vollständig sozialisiert und beschult, insbesondere wenn die Einwanderung im Erwachsenenalter erfolgte. Die Kenntnisse in der Mehrheitssprache des Einwanderungslandes sind bei dieser Generation nur eingeschränkt vorhanden und richten sich stark nach den alltäglichen und beruflichen Bedürfnissen der Sprecher. Dieses Dominanzverhältnis kehrt sich in der zweiten Generation, also bei den HL-Sprechern in der vorliegenden Studie, um. Ihre dominante Sprache ist die Mehrheitssprache. Die Minderheitensprache bzw. eine gewisse Kompetenz in dieser bleibt als HL erhalten, obwohl meist nicht derselbe Grad an Flüssigkeit wie bei den Eltern erreicht wird (vgl. Polinsky 2015a: 7).

Der Kompetenzaspekt ist an dieser Stelle insofern von kritischer Bedeutung, als er über die (Nicht-) Weitergabe der HL an die dritte Generation entscheidet, die infolgedessen monolingual in der Mehrheitssprache sozialisiert wird: „[…] heritage languages often do not survive intergenerational transmission“ (Montrul 2011a: 158). Hierbei spielt nicht primär der erreichte und messbare Kompetenzgrad im Vergleich zur monolingualen Norm eine Rolle, sondern vielmehr die subjektive Einschätzung des Sprechers selbst. Sie bestimmt darüber, ob ein Sprecher sich in seiner HL kompetent genug fühlt, um sie an seine Kinder weiterzugeben.

Der auch in der vorliegenden Studie vorgenommene Rückgriff auf die zweite Einwanderergeneration eines Sprechers umschreibt demzufolge nicht ausschließlich familiär bedingte sprachbiographische Gegebenheiten, sondern reflektiert ebenso relative Spracherwerbs- und -dominanzverhältnisse und ist für die definitorische Abgrenzung eines HL-Sprechers unerlässlich: „[…] second generation bilinguals, who were born to families speaking a language different from that of the environment, are heritage speakers“ (Schmid 2011: 73f.; Hervorhebung i.O.). Der Terminus „HL-Sprecher“ lässt sich bei entsprechender Spracherwerbsbiographie und bei ähnlich gelagerten Sprachdominanzrelationen auch auf die dritte oder weitere Generation ausweiten, was insbesondere für die größeren Einwanderersprachgruppen nicht unwahrscheinlich ist. Er kann sich wiederum nur dann auf die erste Generation beziehen, wenn die Einwanderung in einem frühen Alter erfolgte. In diesem Fall zählen Benmamoun und Kollegen zusätzlich diejenigen Personen zur Gruppe der HL-Sprecher, die vor dem Alter von 8 Jahren eingewandert sind (vgl. Benmamoun et al. 2012: 9).

Diese willkürlich gesetzte Grenze wird in der hier durchgeführten Studie jedoch nicht übernommen (s. Abschnitt 6.3). Stattdessen soll in dieser Arbeit die Zuwanderung vor Schuleintritt über die Eingruppierung als HL-Sprecher entscheiden, denn durch den Eintritt in eine Bildungsinstitution erfolgt ein entscheidender Wendepunkt im HL-Erwerb, der sich stark auf die Sprachkompetenz der Sprecher auswirkt. Der typische HL-Sprecher ist demzufolge entweder selbst vor dem Schuleintritt mit seiner Familie eingewandert oder er ist im Einwanderungsland geboren und das Kind von Migranten. Entsprechend werden in der vorliegenden Arbeit die Teilnehmer primär durch ihre generationale Zuordnung nach diesem Kriterium eingegrenzt, aus dem sich anschließend die in (1) bis (4) diskutierten Merkmale des HL-Erwerbs ergeben.

Spracherhalt und Sprachverlust bei Jugendlichen

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