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1.4 Probleme bewältigen durch aktive Mitarbeit mit individuellen Strategien

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An sich zu arbeiten, damit kann jeder sofort beginnen, auch wenn er (noch) kein diagnostiziertes AD(H)S, aber ähnliche Probleme hat – vielleicht bei einer entsprechenden Veranlagung oder wenn die Diagnostik noch aussteht, um die Zeit sofort für sich positiv zu nutzen. Die Anwendung gezielter Lern- und Verhaltensstrategien ist für alle – Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen – hilfreich, sie wird von vielen schon täglich erfolgreich praktiziert und ist gar nicht so schwer, wie es anfangs scheinen mag. Haben sich diese Vorgehensweisen nach mehrfachem Üben erst einmal automatisiert, d. h. verselbständigt, sind sie viel weniger anstrengend.

Im Folgenden gebe ich einen Überblick über in der Praxis bewährte Erziehungsstrategien, die Schwierigkeiten in allen Leistungs- und Verhaltensbereichen wirkungsvoll reduzieren.

Strategie Nr. 1: Tages- und Wochenstruktur und Tages-/Wochenplan einführen

• Beginnen mit einer Aufgliederung des Tagesablaufs und der Zuordnung von Tätigkeiten

• Eine Liste anfertigen von den Aufgaben bzw. Arbeiten, die heute unbedingt erledigt werden müssen

• Einen Wochenplan für alle wichtigen Aufgaben machen und diesen möglichst einhalten

• Klare Ziele definieren, die in dieser Woche auch erreichbar sind und wenn erledigt, dann abhaken

• Täglich schriftlich seine Erfolge kurz notieren

• Positive Abendreflexion im Familienkreis, wo jeder kurz über das spricht, was er heute gut gemacht und erledigt hat und was unbedingt noch morgen zu erledigen ist

• Mit Disziplin, Selbstvertrauen und viel Lob sich immer wieder motivieren, den Tagesplan auch einzuhalten

• Sein Verhalten und seine Leistungen versuchen, realistisch zu beurteilen

• Bei Konflikten nach Lösungswegen und Vermeidungsstrategien suchen

• Sich in der Familie um eine warmherzige und vertrauensvolle Atmosphäre bemühen

• Keine Vorwürfe dulden, keine Beschuldigungen, aber Kritik annehmen und Selbstkritik üben

• Seine Vorsätze ständig aktualisieren und schriftlich formulieren

• Den Terminkalender in der Familie miteinander abgleichen

Strategie Nr. 2: Konzentration verbessern

• Für Ruhe sorgen, Reizüberflutung vermeiden

• Eine Aufgabe möglichst mit konkreter Zeitvorgabe angehen

• Keine Störung zulassen, Handy und Medien ausschalten

• Sich innerlich auf diese Aufgabe einstellen

• Sich befehlen: »Ich muss mich jetzt konzentrieren« (wichtigste Selbstinstruktion!), keine anderen Gedanken zulassen

• Keine überflüssigen Dinge auf dem Arbeitstisch, die ablenken

• Nach Erledigung sich loben und eine zeitlich festgelegte Pause machen

Diese Strategien aufgabenbezogen mehrmals täglich wiederholen, Schwierigkeitsgrad und Dauer der Aufgabe allmählich erhöhen.

Strategie Nr. 3: Umgang mit unruhigen und verhaltensauffälligen Kindern

• Als Eltern selbst immer Ruhe bewahren

• Eindeutige Regeln von Anfang an schriftlich festlegen und einhalten, keine Ausnahme dulden! Einmal Ausnahme ist immer Ausnahme!

• Alle unnötigen Reize aus der Umgebung vermeiden, sonst kann sich das Kind nicht konzentrieren und wird ständig abgelenkt

• Das Kind konsequent, aber liebevoll ohne emotional spürbare Erregung führen

• Wer sich aufregt provoziert das Kind, es reagiert mit Stress, was die Situation verschärft und endlose Diskussionen auslösen kann, auf die man sich nicht einlassen sollte

• Zuwendung durch Blick- und Körperkontakt signalisieren

• Viel Bewegung zulassen, Bewegungsspiele kurz einbauen

• Abwarten und Beenden einer Tätigkeit zuerst mit Hilfe von Spielen üben

• Abwarten und eine Belohnung aufschieben können, sollte zeitig gelernt werden

• Rituale einführen, sie erleichtern den Umgang

• Selbständigkeit fördern und auch einfordern, nur Anleitungen dazu geben

• Kurze Spiel- und Arbeitszeiten mit Steigerung von Dauer und Schweregrad

• Bei Verweigerung Steuerungshilfen einsetzen, werden sie nicht angenommen, Tätigkeit unterbrechen und sich abwenden. Warten bis das Kind von selber kommt, dann ganz ruhig und freundlich das eben Verweigerte einfordern. Keine andere Tätigkeit mit ihm beginnen, sture Konsequenz zeigen! Die braucht das Kind, denn es prüft ständig, wie weit es gehen kann und ob die gestellten Grenzen auch wirklich eingefordert werden

• AD(H)S-Kinder brauchen Grenzen, wer nachgibt, ist der Verlierer und das nicht nur für den Augenblick!

• Aggressives Verhalten oder Verhalten allgemein, was nicht erwünscht ist, nicht beachten! Es wird dadurch aufgewertet. Oft will das Kind damit nur provozieren, auf sich aufmerksam machen oder sein Gefühl der langen Weile unterbrechen. Das Kind sich erst beruhigen lassen, zeitversetzt und entspannt das Geschehen besprechen und kurze, klare Verhaltensregeln als Schlussfolgerungen benennen

• Niemals viel reden, kein Polemisieren oder Vergangenes wieder hervorholen!

• Ein Stoppsignal vereinbaren und dessen Einhaltung verlangen und üben

Strategie Nr. 4: Wie verhalte ich mich, wenn mein Kind trotzt?

• Möglichst Anlässe zu trotzigem Verhalten vermeiden, Absprachen treffen

• Konsequenz in der Erziehung! Bei inkonsequenter Erziehung lernt das Kind seinen Willen über die Trotzreaktion durchzusetzen

• Nichtbeachten der Reaktion, sich abwenden, Blickkontakt meiden, Stimme senken, Ruhe bewahren, sich räumlich trennen für kurze Zeit

• Gleichgültiges Begegnen des Kindes nach dem Trotzanfall

• Aber weiterhin auf das Erledigen der gestellten Forderung bestehen

• Bewusste Förderung des kindlichen Willens, indem man versucht, seinen eigenen Willen zu dem des Kindes zu machen. Das kostet Überzeugungsarbeit, die dem Kind aber das Gefühl der freien Entscheidung gibt, damit es sich nicht eingeengt fühlt

Strategie Nr. 5: Ordnung im Kinderzimmer herstellen

• Anleitung zur Selbständigkeit, Kind nur anlernen, wie man am effektivsten aufräumt und Ordnung hält, nur dran bleiben und kontrollieren. Das Kind muss selbst aufräumen, nicht seine Mutter oder seine Geschwister!

• Termin zum Aufräumen vereinbaren, am besten täglich vor dem Abendessen oder vor der vereinbarten Fernsehzeit

• Keinen Stress erzeugen, keine Vorwürfe machen, aber selbst auch Ordnung halten!

• Aufräumstrategie in drei Etappen:

− 1. Etappe: Alles vom Fußboden aufheben, was dort nicht hingehört

• Das Aufgehobene gleich an Ort und Stelle legen

• Alles möglichst nur einmal in die Hand nehmen, damit es nicht von einer Ecke in die andere gestapelt wird

− 2. Etappe: Sortieren, was sich im Zimmer auf den Möbeln befindet und dort nicht hingehört:

• Schmutzwäsche in die Wäschetruhe

• Saubere Wäsche in den Schrank

• Bücher in das Regal

• Schreibsachen in die Schreibtischfächer oder in die Schulmappe

• Benutztes Geschirr in die Küche

• Leere Flaschen in die dafür vorgesehene Kiste

− 3. Etappe: Die Schreibtischplatte völlig leer räumen, damit beim Arbeiten nichts ablenkt oder stört und ausreichend Platz vorhanden ist

• Auf den Schreibtisch soll nur das liegen, was aktuell unbedingt zum Arbeiten oder Lernen gebraucht wird!

Solche und/oder ähnliche Strategien können Eltern mit ihren Kindern oder auch für sich selbst aufschreiben und an die Tür oder anderswo gut sichtbar aufhängen. Anfangs etappenweise aufräumen und die erledigten Tätigkeiten abhaken, denn der Arbeitsablauf soll sich automatisieren, damit er ohne Anleitung, ständiges Ermahnungen oder Strafandrohungen erfolgt. Dabei jeden Stress oder Streit vermeiden, beides blockiert die Motivation.

Diese Strategien zeigen zumeist rasch einen therapeutischen Erfolg, sie können alle nutzen, ob mit oder ohne AD(H)S. Werden sie schon praktiziert, ist schon ein Meilenstein auf dem Weg zum Therapieerfolg geschafft.

Weitere wichtige Strategien für ein Selbstmanagement bei der AD(H)S-Behandlung sind:

• Eine AD(H)S-Diagnose sollte mit umfassender Information über Ursachen, deren mögliche Vor- und Nachteile und den therapeutischen Möglichkeiten rechtzeitig erfolgen

• Die neurobiologischen Ursachen des AD(H)S akzeptieren und verstehen, um sich nicht durch unwissenschaftliche Polemik verunsichern zu lassen

• Eine autoritative Erziehung praktizieren mit guter Vorbildwirkung, Grenzen setzen und Strukturen vorgeben und deren Einhaltung konsequent einfordern

• Gemeinsam mit den Betroffenen nach vorherigen Problemanalysen wie z. B. »Was stört mich?«, »Wie kann ich das ändern?« »Warum musste das so kommen?« Problemlösungsstrategien entwickeln

• Sich selbst motivieren können, um gestellte Therapieziele zu erreichen

• Eine gute soziale Einbindung mit Verständnis und Vertrauen als wichtige Basis schaffen

• Selbst gemachte positive Erfahrungen im Umgang mit Stress und zur Konfliktvermeidung immer wieder erfolgreich anwenden

• Seine Lernbahnen durch ständiges Wiederholen und Üben festigen

• Lernen mit aktiver Pausengestaltung nach Plan

• Regelmäßig Sport und Entspannungsübungen betreiben, um Stress abzubauen und sich zu konditionieren

• Medikamentöse Therapie, sofern notwendig, als eine wichtige Hilfe akzeptieren und bei Bedarf rechtzeitig, regelmäßig und lange genug anwenden

• Routinemäßig Selbstinstruktion und Kontrolltechniken praktizieren

• Seine Fähigkeiten kennen und lernen, sie erfolgreich einzusetzen

• Misserfolge und Kritik tolerieren können, um negativen Dauerstress und Selbstwertkrisen zu vermeiden

• Mit Hilfe der AD(H)S-Therapie nicht nur die Konzentration, sondern auch gezielt Selbstwertgefühl und Sozialverhalten verbessern

AD(H)S - Hilfe zur Selbsthilfe

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