Читать книгу AD(H)S - Hilfe zur Selbsthilfe - Helga Simchen - Страница 23
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Sport und Bewegung – wichtige Bestandteile jeder AD(H)S-Therapie
3.1 Warum Bewegung und Sport so wichtig sind
Schon Säuglinge und Kleinkinder sollten gezielt spielerisch motorisch ihrem Alter entsprechend üben, was ihrer gesamten Entwicklung zugute kommt. Die dabei geförderten motorischen Nervenbahnen bilden eine Basis für die Entwicklung der kognitiven Bahnen, also der Denk- und Lernbahnen. Diese aus der Entwicklungsneurologie gewonnene Erkenntnis ist für beide Haupttypen des AD(H)S sehr wichtig. So können hyperaktive Kinder aufgrund ihres großen Bewegungsdranges, verbunden mit ihrer kreativen Neugierde, ein stabiles Netzwerk von motorischen Nervenbahnen aufbauen, das ihnen schon früh Sicherheit und Selbstvertrauen gibt. Sie klettern beispielsweise sehr geschickt und sicher hoch hinauf und genießen den Erfolg. Ihre motorischen Bahnen bilden so ein dichtes und festes Nervengeflecht, das von den kognitiven Bahnen genutzt wird, so dass diese Kinder später häufig viel schneller als ihre nicht vom AD(H)S betroffenen Altersgenossen denken und reagieren können.
Die Motorik der Kinder mit einer Anlage zum ADS ohne Hyperaktivität entwickelt sich dagegen viel langsamer und schwächer. Sie sind von Anfang an weniger bewegungsaktiv, stehen mehr herum und beobachten. Sie sind viel zu ängstlich, um wie die Hyperaktiven auf Schränke und Bäume zu klettern. Ihre motorischen Nervenbahnen entwickeln sich dadurch weniger dicht und fest, Bewegungsmuster können sich weniger schnell und gut automatisieren. Jede ihrer Bewegungen müssen sie planen und die vorhandene Unsicherheit überwinden. Die kognitiven Bahnen dieser hypoaktiven Kinder haben eine viel geringere Basis, so dass ihr Denken und Handeln später in aller Regel langsamer sein wird. Neurobiologisch gesehen ist somit der Begriff der »Hypoaktivität« für Betroffene mit einem ADS ohne Hyperaktivität aus meiner Sicht durchaus gerechtfertigt, denn sie sind nicht nur unaufmerksam, sondern eben auch überdurchschnittlich weniger bewegungsfreudig und flexibel.
Eine gezielte spielerische motorische Frühförderung beeinflusst positiv die gesamte Entwicklung der Kinder mit einem AD(H)S ohne Hyperaktivität. Leider wird dies in der Praxis bisher noch viel zu wenig berücksichtigt.
Schon den älteren Säuglingen sollte z. B. das Krabbeln gezeigt werden: Immer wieder schauen mich viele Eltern ganz entsetzt an, wenn ich sie frage, ob sie ihrem Kind auch gezeigt haben, wie es krabbeln soll. Dabei ist die Fähigkeit zu krabbeln, die ein Kind um den 8. Lebensmonat entwickeln sollte, für die Ausbildung seiner Koordination so wichtig. Begeben Sie sich als Mutter oder Vater zu Ihren Kleinsten auf den Fußboden und machen Sie ihm oder ihr die Krabbelbewegungen vor.
Spielen Sie mit Ihren Kindern so früh wie möglich mit (Soft)Bällen, schießen Sie Tore, üben Sie Fangen und Werfen, Balancieren Sie mit Ihren Kindern – natürlich alles bitte altersentsprechend und ohne Ihre Tochter oder Ihren Sohn zu überfordern. Ihr gemeinsames Spielen muss Spaß machen, denn Ihre Kinder wollen sich bewegen und dabei immer etwas Neues lernen.
3.2 Praktische Anleitung zum Bewegungstraining
Viele Schulkinder mit AD(H)S können, wenn Sie zu mir zum ersten Mal in die Praxis kommen, weder den Ball fangen, den sie vorher an die Wand geworfen haben, noch einen Hampelmannsprung, einen Seiltänzergang rückwärts, eine Standwaage oder für kurze Zeit auf einem Bein stehen. Sie bringen in aller Regel stattdessen weitreichende motorische Defizite mit, die ihre Koordinationsfähigkeit grundlegend beeinträchtigt. Diese Bewegungsabläufe in der Praxis gemeinsam zu üben, macht den Kindern jedoch sichtlich Spaß und sie sind danach beim Lösen von kognitiven Aufgaben stets deutlich motivierter und konzentrierter.
Manche Eltern und Kindergartenerzieherinnen berichten stolz, dass ihre vier- bis fünfjährigen Kinder schon mit dem Computer umgehen können. Das Erlangen von motorischen Fähigkeiten und die Freude an spielerischer kreativer Bewegung haben sie dagegen bisher für zweitrangig gehalten. Dies stellt leider einen fatalen Trugschluss dar, der die Entwicklung ihrer Kinder dauerhaft beeinträchtigen kann. Meiner Meinung nach gehören Computer und Fernsehgeräte nicht in den Kindergarten und in diesem Alter ebenso wenig in das Kinderzimmer. Tatsächlich schadet es einem AD(H)S-Kind sehr, wenn zu Hause den ganzen Tag über das Fernsehgerät läuft – für die betroffenen Kinder bedeutet das Reizüberflutung und damit Stress pur.
Das Vorbild der Eltern ist maßgebend, damit Kinder Freude an der Bewegung und am Sport entwickeln. Aus meiner Praxis als Therapeutin könnte ich hierfür viele Beispiele benennen:
Sitzen beide Elternteile in ihrer Freizeit viel vor dem Fernsehgerät, wird ihr hypoaktives Kind von sich aus kaum Lust verspüren, sich sportlich zu betätigen. So bemühe ich mich immer wieder, Eltern zu überzeugen, mit ihren oft übergewichtigen hypoaktiven Kindern Spaziergänge und kleine Wanderungen zu machen, Schwimmen zu gehen oder Fahrrad zu fahren. Natürlich kostet es Überwindung, wenn man als Vater und/oder Mutter ebenfalls eine AD(H)S-Veranlagung hat und nach der Arbeit besonders geschafft ist, weil man sich unbewusst mehr anstrengen muss als die anderen, um im Job die gleichen Leistungen zu erbringen. Diese Eltern kommen dann erschöpft nach Hause, setzen sich verständlicherweise gern an den Kaffeetisch oder vor den Fernseher. Zugegeben, das wirkt entspannend, wenn da nur nicht die Tochter oder der Sohn wäre, die bzw. der schon wieder genüsslich essend sich zu den Eltern setzt und sich bis zum Schlafengehen keinen Schritt mehr vom Fernsehgerät entfernt. Dabei sollte sich das Kind doch sportlich betätigen oder zumindest ein wenig bewegen! Aber ohne ein prägendes Vorbildverhalten der Eltern wird alles Reden und Ermahnen nur Schall und Rauch bleiben.
AD(H)S-Kinder haben dann wenig Ausdauer, wenn es unbequem oder für sie belastend wird, weshalb sie die Sportart häufig wechseln. Das gilt es möglichst zu vermeiden, sofern es dafür keine schwerwiegenden Gründe gibt. Meist sind es nur aktuelle subjektive Unannehmlichkeiten, die einer anderen Lösung bedürfen. Auf genaueres Befragen hin erfährt man zumeist rasch die eigentlichen Ursachen: Entweder wird der Sport zu »anstrengend«, der Trainer zu fordernd oder es sind Konflikte mit den Sportkameraden, die Kinder veranlassen, den Weg des geringsten Widerstands zu suchen. Stets werden sodann weniger anstrengende Beschäftigungen vorgezogen. Für Sie als Eltern wichtig: Erforschen Sie immer die wahren Gründe für das angestrebte Aufhören, um Ihrem Kind zu helfen, die Schwierigkeiten zu meistern und nicht einfach den (zumeist vermeintlichen oder zuweilen auch tatsächlichen) Konflikten aus dem Weg zu gehen.
Nach einer Testphase sollte sich Ihr Kind für eine Sportart entscheiden, die dann auch eine Zeit lang betrieben wird. In meiner Praxis erlebe ich nicht wenige Kinder und Jugendliche, die fünf bis sechs Sportarten nacheinander ausprobierten, um dann für sich zu entscheiden: »Sport ist nichts für mich, ich vertreibe mir die Zeit lieber mit Computerspielen«. Lassen Sie sich als Eltern hierauf nicht ein!
Hypoaktive Kinder haben nicht selten über viele Jahre Krankengymnastik, bedingt durch ihre funktionellen Beschwerden infolge der Schwäche einzelner oder mehrerer Muskelgruppen. Die meisten Mütter geben ihre Kinder einmal pro Woche an der Tür der Krankengymnastik ab, ohne zu erfahren, was dort geübt wird. Die Krankengymnastik – und selbiges gilt für alle weiteren wichtigen professionellen therapeutischen Maßnahmen – wäre viel wirkungsvoller, wenn Mutter und Kind die entsprechenden Übungen gut angeleitet mehrmals in der Woche zu Hause wiederholen würden. Dafür, sowie zur Dokumentation des ausgeführten Trainings, sollte den Eltern ein Übungsplan ausgehändigt werden. Das würde den Erfolg der Krankengymnastik als eine wichtige therapeutische Strategie wesentlich optimieren. Leider wird dies noch viel zu wenig beachtet, obwohl jeder weiß, dass Muskeln sich umso besser aufbauen, je öfter sie beansprucht werden.
3.3 Welche Sportart ist bei AD(H)S zu empfehlen?
Hyperaktive Kinder sollten sich auspowern können. Sie haben von Natur aus viel mehr Freude an der Bewegung und Energie im Überfluss. Ihre Probleme betreffen mehr das soziale Miteinander. Um das zu üben und Erfahrungen zu sammeln, bieten alle Gruppensportarten beste Gelegenheiten. Aber auch Einzelsportarten sind zu empfehlen, da sie den Kindern eine Möglichkeit bieten, Anerkennung und Erfolge zu genießen und ihr Selbstvertrauen zu stärken. Ballsportarten eignen sich besonders, denn sie formen das Sozialverhalten und helfen, soziale Kompetenzen spielerisch zu erwerben.
Ein Tipp aus der Praxis: Jonglieren mit zwei oder drei Bällen in den Lernpausen, das ist besonders effektiv und verbessert die Konzentration.
Sehr viele hyperaktive Kinder sind in den unterschiedlichsten Sportarten sehr erfolgreich. Werden sie im Hinblick auf ihr AD(H)S medikamentös behandelt, können sie dabei auch gut beobachten, was ihnen mit Medikament besser gelingt als ohne. Die meisten Kinder bestätigen: »Mit Medikament kann ich mich beim Sport besser konzentrieren, ich bin innerlich ruhiger, handele überlegter, rege mich nicht so schnell auf und habe mich besser unter Kontrolle«. Einige Kinder meinen dagegen, sie könnten sich mit Medikament nicht so auspowern, so dass sie zum Sport lieber darauf verzichten. Wir haben dies in solchen Fällen dann in meiner Praxis besprochen und entsprechend gemeinsam vereinbart.
Sehr viele Jugendliche mit AD(H)S haben Freude am Joggen und werden später zu Marathonläufern, andere werden dank ihres schnellen Reaktionsvermögens und ihrer hohen Einsatzbereitschaft zu besonders guten Torhütern von Ballsportarten.
Meiner Beobachtung nach gibt es viele Profisportler und sogar Weltmeister mit deutlicher AD(H)S-Symptomatik. Der Sport verhilft ihnen zu einer hohen Lebensqualität mit einem guten Selbstwertgefühl und einem angemessenen Sozialverhalten.
Exkurs: Leistungssport und Medikamenteneinnahme, geht das überhaupt?
Leistungssportler, die wegen ihrer AD(H)S-Problematik auf Methylphenidat eingestellt sind, müssen durch ihren behandelnden Arzt eine medizinische Ausnahmegenehmigung für die therapeutische Anwendung verbotener Substanzen bei der international für sie zuständigen Anti-Doping-Organisation beantragen. Obgleich strenge Kriterien bestehen, ist es nicht mehr unmöglich, auch mit medikamentös behandeltem AD(H)S Leistungssport zu treiben und an Wettkämpfen teilzunehmen.
Die Frage nach der richtigen Sportart stellt sich besonders bei Kindern und Jugendlichen mit einem ADS ohne Hyperaktivität, denn Sport ist gerade für sie von großer therapeutischer Bedeutung. Diese Kinder benötigen eine Sportart, die ihnen hilft, schneller und besser zu reagieren, um ihr Denken und Handeln zu beschleunigen. Dafür eignen sich am ehesten Tischtennis, Tischfußball, Tennis, Klettern, Reiten, alle Kampfsportarten, Schwimmen, Federball und Fechten. Über die Art und den Erfolg beim Sport entscheiden auch hier das individuelle Interesse, die Veranlagung, die Dauer und die Häufigkeit des Trainings.
Auch Schachspielen ist als Training nicht der motorischen, sondern der kognitiven Bahnen unbedingt zu empfehlen. Hier ist zudem ein Ausgleichssport erforderlich.
Kinder mit AD(H)S sollten von ihren Eltern oder Lehrern auf keinem Fall damit bestraft werden, dass sie am Nachmittag nicht zum Sport gehen dürfen oder, noch schlimmer, vom Schulsport ausgeschlossen werden. Solche Verbote nutzen in aller Regel niemandem, im Gegenteil, sie verschlimmern mittel- und langfristig letztendlich nur die Problematik. Hier sollten alle Beteiligten eine andere Lösung finden.
Sport ist ein wichtiger Bestandteil der AD(H)S-Therapie, weil er innere und äußere Unruhe reduziert, die Konzentration verbessert und hilft, Aggressivität abzureagieren.