Читать книгу Essstörungen und Persönlichkeit - Helga Simchen - Страница 10
1.4 Ein neuer biologisch fundierter Ansatz
ОглавлениеDie bisherigen Theorien zur vermeintlichen Ursache restriktiver Essstörungen sollten hinterfragt werden, da sie die jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse der neurobiologischen Forschung nicht berücksichtigen. Magersüchtige junge Frauen lehnen weder ihre Rolle als Frau noch Sexualität als solche ab und sie sind in den seltensten Fällen wirklich sexuell missbraucht worden. Vieles deutet darauf hin, dass sexueller Missbrauch und Essstörungen eine Folge der gleichen bio-psycho-sozial geprägten Grundstörung sind, die mit einer inneren Verunsicherung der Betroffenen und ihrer Unfähigkeit verbunden ist, sich anderen gegenüber energisch und erfolgreich wehren zu können. Beides geht häufig mit einer schwachen Persönlichkeit einher.
Menschen mit ausgeprägten Essstörungen haben in ihrer Entwicklung und Persönlichkeitsstruktur viele Gemeinsamkeiten. Das kann kein Zufall sein! Die neuesten Ergebnisse der bildgebenden Hirnforschung (Braus 2004, Spitzer 2002) liefern Erklärungen für diese Gemeinsamkeiten, die unter ganz bestimmten Voraussetzungen die Ausbildung einer Essstörung begünstigen können.
Als unbekannte Größe für die Entstehung von Essstörungen wurde bisher immer wieder eine genetisch bedingte Persönlichkeitsvariante benannt, die man sich aber nicht erklären konnte. Wichtig ist es, frühzeitig nach entsprechenden Symptomen dieser Persönlichkeitsvariante, die zur AD(H)S-bedingten Spektrumsstörung gehört, zu suchen. Dadurch wird ein rechtzeitiges Eingreifen in deren Psychodynamik möglich, schon lange bevor die Betroffenen sich mit ihrer Problematik allein gelassen fühlen und zur »Selbsthilfe« greifen. Denn Magersucht und Bulimie, teilweise auch Adipositas, sind nur der Gipfel eines Eisbergs, dessen Entstehung eine über viele Jahre bestehende andere Art der Informationsverarbeitung vorausgeht. Diese wird durch die Überangepasstheit der Betroffenen und deren Bemühen, nur nicht negativ aufzufallen, lange kompensiert. Deshalb werden für eine möglichst frühzeitige Diagnose in erster Linie Kinderärzte, Eltern, Lehrer, Ergotherapeuten sowie Kindergärtnerinnen und Freunde der Betroffenen benötigt, die oft als Erste länger bestehende Auffälligkeiten im Verhalten der Betroffenen bemerken.
Schon lange, bevor es zu einer Essstörung mit suchtartigen Charakter kommt, läuft ein psychodynamischer Prozess ab, der erkannt und unterbrochen werden muss. Hierfür erforderlich sind jedoch Kenntnisse und ein genaues Beachten von Besonderheiten im Entwicklungsverlauf der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Ein solcher vorbeugender Ansatz ermöglicht eine frühzeitige Intervention und Behandlung zur Vermeidung von Essstörungen als Spätfolge einer langen Leidensgeschichte, die so von der Umwelt bisher nicht wahrgenommen wird.
Aufgrund der großen körperlichen und seelischen Nöte, unter denen die betroffenen Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Essstörungen leiden, und wegen der mit ihnen verbundenen hohen Sterblichkeitsrate, die bei einer ausgeprägten Anorexie (Pubertätsmagersucht) etwa 23 % beträgt, besteht dringender Handlungsbedarf. Jeder Therapeut weiß, dass eine über längere Zeit bestehende Anorexie sich kaum mehr erfolgreich behandeln lässt. Infolge der anhaltenden Unterernährung kommt es zu bedrohlichen körperlichen und psychischen Schäden. Nerven- und Köperzellen leiden, ein rationales Denken ist nicht mehr möglich und wird durch irrationale Zwänge mit verzerrter Wahrnehmung ersetzt. Das anfängliche Vorhaben, an Gewicht abzunehmen und kalorienbewusst zu essen, wird zur zwanghaften Sucht, die Denken und Handeln bestimmt.
Veranlagung und Umwelt, innere und äußere Faktoren, Persönlichkeit und Belastbarkeit prägen im Wesentlichen die Entwicklung eines jeden Menschen. Das soziale Umfeld, die Umgangs- und Kommunikationsformen, das Schulsystem und die Freizeitbeschäftigung haben sich in den letzten Jahrzehnten so schnell und zum Teil grundlegend verändert, dass für viele die Anpassung an die neuen Strukturen und Lebensverhältnisse zum Problem wurde. Besonders bei Menschen mit anlagebedingten Besonderheiten in der Informationsverarbeitung können diese neuen Bedingungen psychische und physische Überforderungen auslösen. Bleibt die Überforderung aus, können sie von ihren besonderen Eigenschaften durchaus profitieren. Deshalb ist es für Kinder und Jugendliche, die sich noch in der Entwicklung befinden, wichtig, die dafür notwendigen optimalen Bedingungen zu kennen und zu schaffen, um deren seelische und körperliche Überforderung weitgehend zu vermeiden.