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1.3 Essstörungen und Persönlichkeit

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Die starke Zunahme von Essstörungen, die unter Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aller Gesellschaftsschichten auftreten, stellt für die Betroffenen und die Gesellschaft insgesamt ein großes Problem dar. So haben sich die Essstörungen in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt und sie gehören zu den am schwierigsten zu behandelnden psychischen Störungen mit oft schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen.

Die Häufigkeit der Übergewichtigkeit in der europäischen Bevölkerung liegt inzwischen bei etwa 30 % und die der Fettleibigkeit bei circa 10 %. Südliche Länder weisen hierbei höhere Zahlen auf als die nördlichen. Die Folge ist eine Zunahme des Metabolischen Syndroms und der Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus Typ II). Gleichzeitig nehmen aber auch Magersucht und Bulimie in den westlichen Ländern ständig zu.

Das Robert-Koch-Institut in Berlin veröffentlichte 2007 eine erste umfassende Studie über die Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen (KiGGS-Studie, vgl. Hölling und Schlack 2007, Hölling et al. 2007, Schlack et al. 2007). Von den 18.000 befragten Kindern und Jugendlichen bestand bei 21,9 % der Verdacht auf Vorliegen einer Essstörung. Dabei waren Mädchen 50 % mehr betroffen. Diese Studie wurde vom Robert Koch-Institut weitergeführt bis zum Jahr 2017, die aktuellen Ergebnisse werden in Kapitel 5.1 ausführlich beschrieben. Vom Institut der Klinischen Psychologie der Universität Jena wurden 369 Gymnasiasten der Klassenstufe 9–11 untersucht und befragt: Bei 15 % von ihnen, so ein Ergebnis der Studie, lag ein hohes Risiko vor, eine Essstörung zu entwickeln. Besonders häufig sind Essstörungen bei weiblichen Spitzensportlern in den sog. ästhetischen Sportarten und bekanntermaßen bei Models (Herpertz-Dahlmann und Müller 2000). So leiden etwa 30 % der weiblichen übergewichtigen jungen Erwachsenen an einer Essstörung mit Essattacken (Binge-Eating-Störung). Meist begannen diese Essattacken im Alter von 9–12 Jahren (Herpertz-Dahlmann 2003b). Von den Jugendlichen und Frauen mit Untergewicht leiden 1–3 % und 0,1 % aller Männer in der Altersgruppe zwischen 15 und 35 Jahren an Magersucht. An der sog. Bulimie, der Ess-Brech-Sucht, leiden etwa 2–4 % aller Mädchen und Frauen und 0,5 % aller männlichen Erwachsenen (Herpertz-Dahlmann 2003b, Holtkamp und Herpertz-Dahlmann 2005, Meermann und Borgart 2006). Essstörungen mit Untergewichtigkeit bestehen bei ca. 15 % aller weiblichen Jugendlichen und Frauen, auch Kinder vor der Pubertät sind zunehmend davon betroffen. Diese Gruppe ist besonders gefährdet, eine Bulimie oder Anorexie zu entwickeln. Die Dunkelziffer der Häufigkeit von Essstörungen ist sehr groß, weil sie bei vielen mit Scham besetzt sind und von den meisten nicht als Krankheit gesehen werden.

Die mit den Essstörungen verbundenen Folgeschäden bedeuten für die Gesellschaft eine große finanzielle Belastung, für den Einzelnen und seine Familie ein Risiko, das für den Betroffenen tödlich enden kann. Bei jungen Frauen ist Magersucht die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterberate von 10–20 %. Die Betroffenen sterben an den körperlichen Folgen ihrer Unterernährung oder sie begehen einen Suizid. Über zwei Drittel aller Magersüchtigen werden trotz meist jahrelanger Behandlung nie mehr psychisch stabil und körperlich voll leistungsfähig.

Vor dem oben beschriebenen Hintergrund kann kein Zweifel an der Notwendigkeit bestehen, wirksame Konzepte und praktikable Wege zu finden, Essstörungen erfolgreich zu behandeln und damit dauerhaft zu überwinden. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür liegt darin, die tiefer liegenden Ursachen der Essstörungen zu erkennen. Denn Magersucht, Bulimie und Adipositas sind »Selbstbehandlungsversuche« zum Abbau eines emotional unerträglichen Spannungszustandes, der über Essen oder dessen Verweigerung abgebaut wird.

Somit dienen Essstörungen der Bewältigung massiver psychischer Schwierigkeiten, die als solche vom sozialen Umfeld oft nicht wahrgenommen werden. Betroffen sind vor allem sensible leistungsorientierte, überangepasste und junge Menschen, die infolge einer genetisch bedingten anderen Art der Verarbeitung von Informationen ihr inneres Selbstkonzept nicht verwirklichen können. Trotz intensiver Anstrengungen erleben sie in ihrem Alltag immer wieder Enttäuschungen, weil sie über ihr intellektuelles Potenzial nicht jederzeit und erfolgreich verfügen können und sich vom sozialen Umfeld unverstanden fühlen.

Dadurch gerät ihr Selbstvertrauen in eine Negativspirale, die zu emotionalem Dauerstress führt. Die Essstörung wird so zu einer stressassoziierten psychischen Störung, die frühzeitig professioneller Hilfe bedarf – viel früher als diese bisher zumeist erfolgt. Für Angehörige, Freunde und das nähere soziale Umfeld ist es deshalb von großer Bedeutung, nicht abzuwarten, bis die betroffenen Kinder und Jugendlichen – angetrieben durch ein schlechtes Selbstwertwertgefühl, innere Hilflosigkeit und Verzweiflung – eigene Wege der »Selbsthilfe« gehen. Dabei handelt es sich um eine Selbsthilfe, bei der die Betroffenen ihre Auseinandersetzung mit der Familie, mit Freunden oder auch mit der Schule auf ihren eigenen Körper verlagern, was rasch zu Ängsten, Zwängen oder auch depressiven Verstimmungen führt und schließlich in einem Suchtverhalten enden kann. Eine Sucht, die nichts mit Drogen zu tun hat, sondern die die Folge ständiger Versagensängste ist, verbunden mit einem quälenden Gefühl, nicht verstanden oder abgelehnt zu werden. Magersucht müssen wir in diesem Zusammenhang als eine Folge verdrängter Sehnsüchte, verschluckter Tränen, erlittener Kränkungen und fehlender sozialer Anerkennung verstehen. Eine Sucht, die hilft, durch Abnehmen die Anerkennung der Gleichaltrigen zu erlangen, ein Verhalten, das den betroffenen Kindern und Jugendlichen endlich einmal Macht über den eigenen Körper verspüren lässt und damit ihre psychische Befindlichkeit scheinbar verbessert.

Im Umgang mit ihrem eigenen Körper gelingt es essgestörten Kindern und Jugendlichen erstmalig, vermeintliche Probleme scheinbar erfolgreich zu lösen, und zwar hundertprozentig und damit besser als allen anderen. Mit ihrem Nahrungsentzug erleben sie das erste Mal Erfolge durch selbstbestimmtes Handeln. In Bezug auf ihren Körper setzen sie ihren Willen durch, das zu erreichen, was sie unbedingt wollen und was anderen nicht so gut gelingt. Das haben sie sich für ihr Leistungs- und Sozialverhalten schon immer gewünscht, nur zufrieden waren sie mit den Ergebnissen bisher nie.

Alles in ihrem Leben verlief bisher schlechter als erwartet, eine Enttäuschung folgte der nächsten, auch wenn sie sich noch so bemühten. Das machte sie frustriert und hilflos. Dabei wollten und konnten sie von ihrem hohen Selbstanspruch nicht lassen und so begann für sie ein stiller Leidensweg, den niemand bemerken sollte. Denn das soziale Umfeld reagierte nur mit tröstenden Worten, die ihnen nicht halfen. Sie spürten immer wieder, dass sie nicht verstanden, ihre Fähigkeiten nicht bemerkt und sie von anderen eher gemieden wurden. Warum das so war, darauf fanden sie keine Antwort.

Essstörungen und Persönlichkeit

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