Читать книгу Essstörungen und Persönlichkeit - Helga Simchen - Страница 19
2 Die Bedeutung von Veranlagung, Erziehung und sozialem Umfeld für das Essverhalten 2.1 Der »schlechte Esser« – eine frühkindliche Entwicklung 2.1.1 Im Säuglingsalter
ОглавлениеSchon im frühen Säuglingsalter kann eine angeborene Regulationsstörung zur Ursache scheinbar unüberwindbarer und die Mutter sehr belastender Fütterungsschwierigkeiten werden. Eine noch nicht gut funktionierende Koordination von Atmung, Mundmotorik und Schluckreflex erschwert bei den betroffenen, meist sehr jungen Säuglingen das Trinken an der Brust oder aus der Flasche, wobei die Flaschenfütterung meist besser gelingt, wenn der Sauger die richtige Lochgröße hat.
Trotzdem unterbricht der Säugling das Trinken immer wieder durch Weinen, Verschlucken oder fahrige Abwehrbewegungen. Nach anfänglich gierigem Trinken folgt bald eine Schreiphase, die nur dann beendet wird, wenn Schlaf die Erschöpfung ablöst. Der Schlaf ist kurz und schreckhaft, wird er unterbrochen, ist der Säugling hellwach und schreit. Nur in den kurzen Phasen der Ruhe besteht ein schmales Zeitfenster für die Bereitschaft zur Nahrungsaufnahme (Neuhaus 2003; Simchen 2015).
Wissenschaftler haben anhaltendes und unstillbares Schreien eines Babys bisher ausschließlich als Symptom einer Dreimonatskolik gedeutet. Tatsächlich kann es sich aber dabei bereits um das erste Symptom eines sich entwickelnden Aufmerksamkeitsdefizit-Syndroms handeln. In diesem Fall ist es die Folge einer angeborenen Reizfilterschwäche, die zur Reizüberflutung führt.
Wichtig ist es, bei einem sog. »Schreibaby« stets zunächst eine organische Erkrankung und eine Nahrungsmittelunverträglichkeit auszuschließen. Danach sollte man mit der Mutter beraten, wie das Reizpotenzial für das Kind reduziert werden kann, besonders im akustischen, visuellen und taktilen Bereich. Auch sollte die Anzahl der Kontaktpersonen klein gehalten werden – diese sollten mit gleichförmiger Ansprache und sich wiederholenden Bewegungsmustern betont ruhig mit dem Säugling umgehen.
Eine hektische, überreizte, verunsicherte und genervte Mutter verstärkt dagegen die Symptomatik des Säuglings, da ihr Verhalten diesen irritiert. Mütter mit affektiven Störungen oder emotionaler Steuerungsschwäche können beim regulationsgestörten Säugling Fütterungsschwierigkeiten ungewollt verursachen oder verstärken. Manchmal gelingt dann die Fütterung durch eine andere Person vorübergehend besser. Der Säugling braucht von Anfang an einen Rhythmus bei der Nahrungsaufnahme, der zunächst von ihm bestimmt wird, später aber zeitlich strukturiert sein sollte.