Читать книгу Berichte von der Reichstagstribüne - Helmut H. Schulz - Страница 10
30. Januar 1921
ОглавлениеDas deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt, verkündete Scheidemann von der Freitreppe des Reichstages aus. Nun hat er die Rechnung in Händen. Das Pariser Diktat ist da! Die Summe in dem von uns gegebenen Blankowechsel ist ausgefüllt! Unser Schuldbetrag ist heraus! Wir sollen insgesamt, die Ausfuhrabgabe dazu gerechnet, 270 Milliarden Goldmark an Besitztümern und, weil das ganze Volksvermögen dazu nicht ausreicht, in Waren - also Fronarbeit - hergeben. Das sind in heutigem republikanischen Papiergeld über 3.500 Milliarden Mark. Das bedeutet, daß jedes neugeborene Kind in Deutschland mit 60 Tsd. Mark Schulden an die Entente zur Welt kommt. Ob dieses Ungeheuerlichen stockt selbst unseren Reichstagsabgeordneten der Atem. Als der Außenminister Simons den Eingang der Pariser Forderung, die auch von den italienischen und japanischen »Freunden« unterschrieben ist, im Reichstag kurz erwähnt und ohne auf den Inhalt einzugehen, um Aufhebung der Sitzung bittet, macht der Unabhängige Lebedour einige Schritte auf die Tribüne zu, will wohl reden, fühlt offenbar aber die Glieder bleischwer werden. Er schweigt. Das ganze Parlament schweigt. Wenn man endlich vor seinem Ziel steht, vor dem frisch geschaufelten Grabe, da hört der Rededrang auf. Stille. Totenstille.
NB: Die Pariser Festlegungen vom 24. Januar 1921 - die Konferenz der Siegerstaaten dauerte bis zum 29. 01. - wurden also umgehend der Regierung zugestellt und im Reichstag bekannt gemacht. Die Entente war nicht bereit, das Entgegenkommen der Revolutionäre vom November 1918 zu honorieren, der Bitte, in ihren Forderungen maßzuhalten. Die Alliierten mögen es überhaupt bald bereut haben, den angebotenen Waffenstillstand, die Kapitulation, vorschnell angenommen und sich des Vorteils der totalen Kontrolle in einem von ihnen militärisch besetzten Deutschland entschlagen zu haben. Dies sollte ihnen nicht noch einmal passieren, wie die totale Kapitulation 1945 lehrt. Zweitens verrät der Begriff Freunde, zumindest auf einige der ehemaligen Gegner und Verbündete angewendet, wie er als Unterwerfungsgeste durch die Koalition in Gebrauch kam, dass sich diese Freunde keineswegs in Sachen Liebesdienste gegenüber ihren Konkurrenten für zuständig hielten. Sicherheitshalber galt 1945 die militärische Kapitulation nicht nur für Wehrmacht und Regierung, sondern für das Deutsche Volk als Ganzes, mit entsprechenden Rechtsfolgen. Es hatte das Deutsche Volk kapituliert, nicht die Regierung und die Streitkräfte.