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24. Januar 1921
ОглавлениеJeder tüchtige Kreissekretär würde, wenn man ihm das Stenogramm des ersten Tages der Russeninterpellation zur Entscheidung vorlegte, nach genauer Durchsicht am Schlusse vermerken: »Zu den Akten!« Und damit wäre die Angelegenheit weggelegt und erledigt.
Was soll noch der heutige zweite Tag? Wir sind ja alle von Neuhaus bis Zetkin, der einmütigen Ansicht, daß Handelsverkehr mit Rußland eine schöne Sache wäre. Nur darüber regen sich Zweifel, ob unsere Kontrahenten in Moskau überhaupt etwas zum Handeltreiben besitzen. Der unabhängige Sozialist Dr. Breitscheid macht am Rednerpult des Reichstages eine großartige Armbewegung und sagt: »Jawohl: Gold und Platin!« Man kann ihm einige intime Kenntnis schon zutrauen, denn die einzigen Leute in Deutschland, die russisches Gold gesehen haben, waren doch schließlich unsere Unabhängigen. Aber es diente nicht dem legitimen Handel; nach dem frohlockenden Bekenntnis des Abgeordneten Cohn im Dezember 1918 wurden davon die Kosten der unterirdischen Agitation im deutschen Heere an der Westfront und die Anschaffung von Waffen für den Umsturz bestritten. Der Abgeordnete von Kemnitz von der Deutschen Volkspartei, der in verschiedener Herren Länder von Lissabon bis Peking das Diplomatenhandwerk betrieben hat und auch die östlichen Pappenheimer kennt, sagt es gerade heraus:
»Der einzige Ausfuhrartikel Rußlands ist heute der Bolschewismus!«
Mithin kann man an dem heutigen zweiten Tag der Interpellationsdebatte etwas Neues kaum erfahren. Sie ist völlig überflüssig. Trotzdem finden wir es von den demokratischen Abgeordneten nicht nett, daß sie Gotheim vor fast leerem Hause reden lassen. Simons geht Mittag essen, und Dernburg rückt sich im Wandelgang zwei Klubsessel zum Schlafen zurecht. Die Öffentlichkeit braucht es doch nicht zu wissen, wie sich die Herren gegenseitig einschätzen. Auch Gotheim sieht heute, wie einst Eugen Richter, in Bismarck die Wurzel allen Übels, insbesondere in seinem Börsenverbot russischer Papiere 1888, den Anfang unseres russischen Unglücks... Keines solchen Antreibens aber bedarf die dreiundsechzigjährige Klara Zetkin, geborene Eißner, denn sie hat im Busen den Vesuv. Sie speit bildlich gesprochen, Feuer und Flammen, die alte kommunistische Lehrerin; wenn sie zuletzt auch nur keucht - sie hält durch, bis das letzte Wort für Sowjetrußland hinausgestoßen ist und Adolf Hoffmann herzuspringt, um sorglich an seinem Arm die Erschöpfte herunterzugeleiten... Diese Zetkin - oder Zundel, wie sie in Wirklichkeit heißt - hat ergreifende Töne für das entsetzliche Grauen, das sie bei dem Besuch des zerstörten Kriegsgebietes in Frankreich überfallen habe, aber gleichgültig empfiehlt sie mit lohender Begeisterung die Aufrichtung eines Sowjet-Deutschlands, obwohl sie wissen müßte, daß der Versuch bei uns mehr Menschenleben und Menschenwerk zerstören würde, als der Krieg in Frankreich getan ...