Читать книгу Berichte von der Reichstagstribüne - Helmut H. Schulz - Страница 4
ОглавлениеDer Krieg hatte mir, solange er dauerte, selbst die Erinnerung an frühe Beobachtungen im Reichstage gelöscht, und während der Revolution stand ich weit in Feindesland an der Front. Ich geriet erst in der Weimarer Episode unserer neuen Geschichte wieder in die Heimat, machte die Tage der Nationalversammlung mit ihren ersten großen Redekämpfen über Monarchie oder Republik, über Annehmen oder Ablehnen der Versailler Ketten, mit der Auseinandersetzung zwischen Rot und Schwarzrotgelb, der Präsidentenwahl, der Verfassungsarbeit, mit. Es waren manchmal wirklich »große« Tage. Inzwischen haben die Kämpfe über Grundsätzliches ihr Ende gefunden, man glaubt nicht mehr recht daran, daß demokratische Republik und sozialistische Republik miteinander noch auf Tod und Leben ringen werden, alles ist in einen gewissen Beharrungszustand geraten und er heißt: Parlamentarismus. Auch das ist freilich, mit Jahrhundertmaß gemessen, wohl nur Episode, und ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß einst alle Völker - auch das deutsche - sich aufatmend von diesem System befreien werden... Es täuscht uns vor, daß das Volk regiere. Es regiert aber nicht einmal das Parlament, das vielmehr eine hin und her flutende Masse ist, die heute ja sagt und morgen nein, immer auf das Kommando einiger Weniger, denn in Wahrheit leben wir unter einer Oligarchie... Inzwischen ist das Parlamentariertum zu einer ganz nahrhaften Sache geworden. Man bekommt 10.000,- Mark monatlich, ferner eine durch Reichszuschüsse sehr verbilligte Verpflegung, darf überall im Reiche umsonst erster Klasse fahren, während früher der Kaiser jeden Kilometer auf Heller und Pfennig bezahlen mußte, und hat auch sonst gewichtige Vorteile. Oft genug ist man auch Parteisekretär oder Vertreter irgendeines Verbandes und bezieht sein Hauptgehalt von den Auftraggebern gerade für die Arbeit im Parlament. Und schließlich: unter dem parlamentarischen System ist man ohne Rücksicht auf Vorbildung doch Ministeranwärter und hat Aussicht auf einen Lohn von mehreren hunderttausend Mark jährlich nebst Teuerungs- und Kinderzulagen sowie entsprechende Pension ...
NB. ... bezieht sein Hauptgehalt von den Auftraggebern gerade für die Arbeit im Parlament; offenbar eine dem Parlamentarismus innewohnende Geschäftspraxis. Bis heute ist es keiner deutschen Regierung gelungen, den Missbrauch des Mandats zur persönlichen Bereicherung zu unterbinden. Groteskerweise werden kalt gestellte Minister Drahtzieher und Berater in gerade den Branchen, für die sie in der Regierung als verkappte Lobbyisten standen. Wie jüngst A. D. 2008 publik gemacht wurde, erstellten diese Berater sogar Referentenentwürfe für Minister, die diese nur noch als Gesetzentwürfe ins Parlament zur Lesung brachten. Immerhin aber wurde im Parlament von 1921 wenigstens das reale Einkommen des Abgeordneten offen gelegt, während sich die heutigen Abgeordneten mit Händen und Füßen sträuben, das Volk die Höhe ihrer Nebeneinkünfte wissen zu lassen. Und es sind Juristen wie Otto Schily, die sich auf den Schutz der Persönlichkeit berufen, wenn sie ihre Einkünfte verschleiern.
Im Preußischen Abgeordnetenhaus wird einem greisen Zentrumsabgeordneten ein Glas Wasser ins Gesicht geschüttet, dem Präsidenten die Glocke entrissen; eine bolschewistische Abgeordnete, Frau Wollstein, bläst aus Leibeskräften auf einer Trillerpfeife und stäubt in den Atempausen Nießpulver gegen die Reihen der nicht ganz knallroten Kollegen ...
Das sind doch nicht etwa Verlorene aus dem Abgrund, nicht etwa nur Ausbrecher aus dem Irrenhause oder - obwohl auch solche da sind - Mitglieder des Reichsbundes der Vorbestraften, sondern im großen und ganzen die Heldensöhne großer Vorfahren. Einer von diesen thront auf dem präsidialen Hochsitz, Herr Leinert aus Hannover an der Leine, der Mehrheitssozialdemokrat, der vor neun Jahren, als er noch nicht die Entwicklung zu Bratenrock und Oberbürgermeisterkette durchgemacht hatte, ebenso gegen das Präsidium tobte wie heute die Katz und Genossen. Damals - das war der erste große Skandal unserer diätengesegneten Zeit - mußte Herr Leinert samt zwei Genossen von Polizei über die Bänke gezogen und aus dem Saale geschafft werden; entsetzt sprang ein Westenknopf ab und flüchtete mit einem mächtigen Satz zu der Rechten. Das ist der große Schmerz des Brilliantenhoffmann, daß Leinert sich so verändert hat ...
Die ganze Revolution ist nur eine Lohnbewegung der Demagogen gewesen. Es ging nicht um Freiheit oder andere schöne Dinge, denn Freiheit haben wir heute weniger denn je. Ein ganzes Volk ist in Not und Verzweiflung gejagt worden, und die Maulaufreißer haben gut bezahlte Rollen bekommen. Das verdanken wir unserem Parlamentarismus. Nun ist, laut Verfassung, das Parlament unser Souverän. Statt des einen, schmählich verratenen und verbannten, haben wir jetzt ihrer 400 und mehr. Sie benehmen sich nicht gerade königlich, jedenfalls aber ganz nett parlamentarisch, was man so im Jahre 1921 parlamentarisch nennen muß ...