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15. März 1921

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Es gibt im Reichtag feine stille Seelen, deren tiefsten Grund das Senkblei des Kritikers nicht erreicht. Weil sie so fein und still sind, fallen sie nicht auf, und überdies sind sie selbstverständlich eine kleine Minderheit. Es gibt auch herrische, kluge Köpfe voll blendender Einfälle im Parlament, die erst recht von größtem Seltenheitswert sind. Die Mehrheit der Abgeordneten aber ist, wie es der Beruf so mit sich bringt, eine Art Lautsprecher-Telephon. Sie schreien grob heraus, was in sie hineingesprochen worden ist. Meist ist dies ein Leitartikel der Parteipresse, sehr verschieden von der Deutschen Zeitung bis zur Roten Fahne; bisweilen ist es auch nur ein Wahlplakat. Es ist eine Qual, wenn in dieser Versammlung der übereinandergepappten grellen Plakate von Kultur gesprochen wird. Beim Etat des Inneren kommt man leider nicht darum herum, denn die Weimarer Verfassung hat dieses Reichsamt noch mehr mit Kulturaufgaben bepackt, als es früher schon der Fall war, denn auch die Reglementierung des Schulwesens ist nun Reichssache geworden. Was das bedeutet, erkennt man jetzt mit Grausen; die Herrschaft des Leitartikels und des Wahlplakates auch im Wundergarten der Kinderwelt, ein Zertreten alles Zarten und Feinen durch die Vorkämpfer der Wählermassen. Gelegentlich hört man ein gutes Wort. Wenn der Schulrat Abgeordneter Beuermann von der Deutschen Volkspartei erklärt, ehe man die Völkerversöhnung in den Schulen propagiere, soll man die Völkerversöhnung herbeiführen, so tut das einem unendlich wohl.

Der Abgeordnete Löwenstein ist kein uninteressanter Geselle. Wenn ein Wirrkopf zu Wirrköpfen spricht, ist die Begeisterung gemeiniglich groß, und Löwenstein spricht wie ein Kulturbringer hoher Grade ...Wir haben nun mal eine deutsche und eine christliche Kultur. Er haßt sie infernalisch, weil sie ihm wesensfremd ist. Der deutschnationale Abgeordnete Wulle tritt während dieser Kulturdebatte für eine Gesundung unserer Theater in die Schranken, geißelt die Urheber und Dulder von Vorstellungen wie »Reigen« und »Haremsnächte«, und sofort springt Löwenstein ihn an. Hier ist nichts Gemeinsames mehr. Eine Löwenstein-Wulle-Kultur ist undenkbar ... Wulle sagt, daß die Zentrumsredner den Religionsunterricht nicht zum Wahlfach in den Schulen herabsinken lassen wollen, und sagt: »Naja, schon recht.« Er hört zu, wie seine eigenen demokratischen Parteigenossen die Einheitsschule als die Löserin aller Kulturprobleme bezeichnen, und nickt gelangweilt. Er vernimmt das Toben der äußersten Linken gegen alles, was deutsch ist und christlich, und hütet sich dagegen aufzutreten. Er war einmal nationalliberal und hat als Oberbürgermeister von Kassel, oft genug in Wilhelmshöhe in Bekundungen monarchischer Loyalität geschwelgt, hat sich dann im berüchtigten November zur Demokratie geschlagen, später, während der Kapp-Tage den Generalstreik geschürt und verteidigt, er hat also eine gehörige politische Rutschbahn hinter sich und sitzt nun am Ende und findet: »Alles war eitel« ... Man spricht und zankt bis in die Nacht hinein, die gesprochenen Wahlplakate werden immer expressionistischer, und die kulturelle Lähmung ist gar nicht mehr aufzuhalten.

Berichte von der Reichstagstribüne

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