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26. Januar 1921
ОглавлениеFür die Moral stehen die Aussichten im Reichstage gut. Das dreieckige Verhältnis der Koalition, mit der Deutschen Volkspartei als dem legitimen und der Sozialdemokratie als zahlendem Hausfreund, steht vor der Auflösung. Die Sozialdemokratie findet nämlich, sie sei eigentlich vor die Tür gesetzt. Immer häufiger gibt es eine kompakte bürgerliche Mehrheit gegen sie im Plenum und in den Ausschüssen. Die Steuerreform und die Wehrvorlage, um nur einiges wenige herauszugreifen, können nur so Gesetz werden; die Sozialdemokratie hält die Hand aufs Scheckbuch, steuert keine Regierungsstimmen mehr bei und richtet sich von Tag zu Tag mehr auf den Wahlkampf wider die gesamte Reaktion ein, Recht so. Hie Welf, hie Waibling. Es liegt eine Krone im tiefen Rhein, und um sie wird letzten Grades der Hauptstreit entbrennen. Mit verhaltener Erregung treten die Kämpfer wider den Popanz Klassenjustiz an diesem Tage an. Der Renommierprofessor der Sozialdemokratie, Dr. Radbruch, muß sich vom Heidelberger Rechtslehrer, dem Abgeordneten Dr. Graf zu Dohna, sagen lassen, daß das Mißtrauen des Volkes gegen den Richterstand überhaupt erst durch die sozialistischen Zeitungsartikel und Reichstagsreden künstlich hervorgerufen werde. Langsam schwillt die Erregung. Selbst der milde versöhnliche Justizminister Dr. Heinze strafft sich, fühlt heißes Blut die kühle Stirn emporsteigen. Fast eine Erholung ist es da, auf einmal eine Frauenstimme zu hören. Die demokratische Abgeordnete Fräulein Dr. Lüders zaubert sogar ein Lächeln in den haßverhärteten Männergesichtern hervor, wenn sie von den Ansprüchen unserer weiblichen Mitbürger auf Amt und Würden in der Justiz erzählt. In der Hauptsache ist es der Abgeordneten Dr. Lüders aber um das Familienrecht zu tun. Man soll im Hause des Gehenkten nicht vom Strick reden. Trotzdem redet sie von der Ehescheidung, die um der allgemeinen Moral willen noch erleichtert werden müsse. Schon wird das Zentrum unruhig und ruft Oho, wird aber gleich darauf noch mehr brüskiert, denn die Rednerin verlangt nichts mehr und nichts weniger als Ehescheidung - schon bei einseitiger Abneigung nur eines Ehegatten ...
NB: Die Reform des Scheidungsparagraphen, der zuvor nur das schuldig als Scheidungsgrund anerkannte, mit beträchtlichen sozialen und wirtschaftlichen Nachteilen für den schuldig gesprochenen, wurde schließlich doch eingeleitet. Allerdings musste Abneigung von beiden Parteien erklärt werden, um die juristische Trennung der Ehe zu ermöglichen. Nota bene: Eine bayrische christ-katholische Landrätin und Abgeordnete unserer Tage wünscht nun die Ehen nach Lust eingehen zu lassen und nach Laune wieder aufzugeben. Aber sehen wir, wie diese Debatte um das Familienrecht der Weimarer Republik 1921 weiter geführt wurde.
Wie immer überbieten sich auch diesmal die Radikalen der äußersten Linken in der Rüdigkeit des Tones. Daß der Abgeordnete Bock-Gotha erklärt, unsere juristischen Professoren prostituieren sich für Geld, ist noch feines Benehmen. Weit ärger treiben es die Levi und Rosenfeld und Koenen, deren Worte bisweilen in dem Tumult, den sie erregen untergehen, und zwar Tumult weniger von der Rechten her, als von den sozialdemokratischen Nachbarn. Man bekommt ein lebendiges Bild davon, was aus der deutschen Justiz würde, wenn sie diesen Händen anvertraut wäre. Während die meisten Bürgerlichen, von dem Treiben angeekelt, den Saal verlassen haben, solange gerade Koenen geifert, schreit der mehrheitssozialistische Abgeordnete Hörsing plötzlich mit Stentorstimme: Lausejunge! Den auf ihn eindringenden Adolf Hoffmann stößt er mit der Faust vor die Brust: Herr Präsident, hier ist ein total Besoffner!, ruft der Zehn-Gebote-Hoffmann hinauf. In der Tat, Exzellenz, der Herr Oberpräsident Hörsing haben ein bißchen stark gefrühstückt; Exzellenz werden von den Genossen Hoch und Stücklen hinausgeleitet. Die Zurückbleibenden nehmen den Reichsjustizetat gegen die äußerste Linke an. Zwischen den Unabhängigen und den Sozialdemokraten aber scheint nach diesen Szenen eine Wiederherstellung der Ehe auf Zeit zurzeit nicht denkbar zu sein. Ihr Leimen soll das Lebenswerk des großen Scheidemann krönen.