Читать книгу Berichte von der Reichstagstribüne - Helmut H. Schulz - Страница 5
20. Januar 1921
ОглавлениеRudolf Virchow hat auf allen Anthropologenkongressen stets erklärt, der Proanthropos, das Zwischenglied zwischen Affe und Mensch sei noch nicht gefunden. Vielleicht wäre er schwankend geworden, wenn er noch die Revolution erlebt hätte. Daß er den Erich Mühsam nicht gekannt hat, bleibt ewig schade. Aber es laufen noch in Freiheit genug Hanswurste der Revolution herum, die als Studienmaterial sich trefflich eignen, ehe eine nüchtern gewordene Nachwelt ihr Andenken in Gelächter erstickt, Leute von ältestem, äffischem Uradel, für die es uns heutigen Proleten nur an Verständnis fehlt. Bayern räumt jetzt durch Volksgerichte - Bauer bleibt halt Bauer - gründlich unter diesen Exoten auf, diesen Edelsten aller Verkannten. Aber nicht alle sind faßbar. Erich Mühsam, das Pumpgenie aus dem Berliner Café Größenwahn, Erich Mühsam, der Dichter, der den Schnaps besang und Monarchie und Deutschtum fast so haßte, wie Kamm und Seife, sitzt allerdings auf Festung. Aber die Genossen von ihm sind als Abgeordnete immun; und sie reden nun in unserem Reichsparlament gegen den bayrischen Ausnahmezustand, der, weil er den Normalzustand wieder herbeiführen soll, diesen Ausnahmemenschen zuwider ist ...
Wie eine Heulboje bei schwerer See legt der kommunistische Abgeordnete Thomas los. Er ist sicher kein Proanthropos, an dessen Existenz ich überhaupt nicht glaube; er ist während des Krieges nicht etwa im Urwald auf Bäume geklettert, aber er ist die fünf Jahre hindurch in einer Irrenanstalt in Würzburg gewesen. Es scheint, daß er den Reichstag für eine Gummizelle hält ... Von der Konkurrenzfirma kommt der Unabhängige Abgeordnete Unterleitner zu Wort, der Schwiegersohn Eisners, der während des Krieges als reklamierter Schlossergeselle nach München ging und mit Eisner zusammen den Generalstreik vorbereitete, um Deutschlands Waffenniederlegung zu erzwingen. In Bayern erzählt man sich, das einzige Legimitationspapier, das er nach Ausbruch der Revolution bei seiner Ernennung zum Minister vorweisen konnte, sei der Entlassungsschein des Zuchthauses gewesen. Das ist nicht wahr; er kam nur aus dem Untersuchungsgefängnis ...
Nun richten im Reichstage die Unabhängigen auch an unsere Regierung die Frage, wie sie über Rußland denke; und warum wir keine normalen Beziehungen zu der Sowjetrepublik hätten. In bemerkenswert schlechtem Deutsch poltert der Abgeordnete Crispin, dem man mehr zugetraut hätte, seine Begründung herunter. Man könnte wohl eine deutsche Reichsmark von 1914 gegen einen Sowjetrubel von 1921 verwetten daß die Rede, die Crispin hält, von Krassin stammt, und da wollen wir über ihre Stilistik weiter nicht rechten. Wie Sauerbier bietet er russische Lebensmittel, russisches Kupfer, ja, sogar russische industrielle Konzessionen aus (Konzessionen? Das ist ja ganz kapitalistisch, ruft Helfferich), lockt und tobt, denn wenn wir mit dem Dorado drüben noch nicht einig seien, so sei daran nur die deutsche Regierungsangst vor dem Sozialismus schuld ...
Obwohl unsere Parlamentarier in dem ganzen Betriebe, das Tag für Tag aus Wahlvorbereitungen und übereilter Gesetzesmacherei besteht, kaum die Muße finden, überhaupt Zeitungen zu lesen, geschweige denn ernsthaft in Probleme der auswärtigen Politik sich zu versenken, so fühlen sie doch alle, daß die Frage: Wie denken Sie über Rußland? über kurz oder lang die Lebensfrage für uns sein wird. Um so dankbarer hören sie den Erklärungen des Außenministers Simons zu, der die Interpellation der Unabhängigen Sozialdemokratie beantwortet - denn er redet nicht nur, was ja alle in diesem Hause der Wiederholungen tun, sondern er hat auch etwas zu sagen. Ein seltenes, in seiner breiten Ruhe erquickendes Bild, das der Reichstag hier bietet; nicht mehr das Gequirle wie sonst, nicht mehr die hysterischen Zwischenrufe der vielen alten Weiber männlichen Geschlechts, sondern Stille und Aufmerksamkeit. Simons, die verkörperte Leidenschaftslosigkeit und Sachlichkeit, doziert. Man weiß, daß dieser Mann seine fixen Ideen hat, ein Ideologe des Völkerbundgedankens ist, voll väterlichen Stolzes die Arbeiten seines Sohnes, der übrigens Sozialdemokrat ist, im Sekretariat der Völkerbundliga verfolgt, und man weiß, daß unserem Außenminister nicht die Gabe verliehen ist, schöpferisch und herrisch zu sein, eigene Wege zu gehen und fremde Flegeleien abzuwehren. Es ist niederdrückend, wenn man so hört, was wir uns von der Sowjetregierung alles gefallen lassen, die unsere amtlichen Schreiben überhaupt nicht beantwortet und unsere Regierung en canaille behandelt. Simons stellte fest ... und was er feststellt, das geschieht mit der peinlichen und unwiderleglichen Genauigkeit des Beamten alter Schule, und mit der Gewissenhaftigkeit des ehemaligen juristischen Beirats im Auswärtigen Amt.