Читать книгу Berichte von der Reichstagstribüne - Helmut H. Schulz - Страница 12
2. Februar 1921
ОглавлениеIm letzten Kriegsmonat erklärte Friedrich Ebert namens der Sozialdemokratie im Reichstage: Gelingt es, uns einen bedingungslosen Frieden aufzuzwingen, dann wird die deutsche Arbeiterklasse schwer getroffen; ihr Kampf um den sozialen Aufstieg würde um Jahrhunderte zurückgeworfen... Ein Jahr zuvor hatte Philipp Scheidemann als Redner der Sozialdemokratie in einer Versammlung in Dresden gesagt: Wenn jemand unseren Feldgrauen in den Rücken fiele, den Frieden um jeden Preis zu erkaufen, so würde aus der deutschen Arbeiterklasse ein Haufen von Bettlern werden, und unter den Trümmern Deutschlands läge am tiefsten die Arbeiterklasse begraben... Trotzdem fielen wir unseren Feldgrauen in den Rücken. Trotzdem wurde der bedingungslose Friede angenommen. Trotzdem unterschrieben die Novemberleute sogar das Bekenntnis der deutschen Schuld ... Auf drei Tage ist in unserem Parlament die Aktion, die gegen das Urteil von Paris sich richtet, verteilt worden, um ihren Eindruck zu steigern und ihre Kraft zu vertiefen. Wie Sodom um auch nur eines Gerechten willen, vielleicht hätte gerettet werden können, so versucht man auch hier, das Entsetzliche dadurch abzuwenden, daß Sünder und Schuldlose gemeinsam Berufung einlegen. Bis in die letzte Stunde hinein wurde fieberhaft an einer Einheitsfront gearbeitet, aber nicht nur deshalb, um auf die Nation von Tigern und Affen, wie Voltaire die Seinen nennt, Eindruck zu machen, sondern auch, um die Verantwortung auf mehr Schultern zu verteilen. Auch das ist Sünde: Mangel an Mut, Angst vor der eigenen Courage...
Die Koalition, die Sozialdemokraten, die Deutschnationalen, vertreten durch Schiffer, Müller-Franken, Hergt, kommen, da sich auch keine Einheitsfront finden ließ, mit je einer besonderen Erklärung. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb ist die Wirkung im Reichstage stark, denn aus allen drei Erklärungen dringt doch derselbe Aufschrei zum Himmel. Wir wollen als Volk leben, Herrgott, und nicht sterben! Aber es sollte noch schlimmer kommen. Schon zwei lange Reden, Alltags-, Agitationsreden Lebedours und Levis mit ihrem theatralischen Gespreize in diesem Augenblick der Not, wo kurzes Wort und schnelle Tat vonnöten ist, haben den Reichstag gereizt. Jetzt, nach Löbes Spruch, kommt Hoffmann mit seiner Quetschstimme, kommen noch andere seines Gelichters aus der linken Ecke hervorgekrochen und protestieren - nicht etwa gegen das hereinbrechende Weltgericht über Deutschland, sondern gegen das nach der Geschäftsordnung nicht zulässige Dreinreden des Präsidenten.
NB: Reichstagspräsident Löbe hatte sich das Recht zu einer kurzen Ansprache außerhalb der Tagesordnung genommen, war gegen das Diktat aus Paris scharf ins Gericht gegangen und hatte im Parlament breite Zustimmung erhalten. Der Waffenstillstand, die Kapitulationsurkunde wurde von Matthias Erzberger unterzeichnet, der vor Kriegsbeginn das Erzbecken von Briey, einen Teil der Bretagne und die englischen Kanalinseln und einiges mehr hatte annektieren wollen. Das Reich schickte ihn als Staatssekretär nach Compiègne. Ludwig Reiners, der ein viel gerühmtes Buch über die Entstehung des Krieges geschrieben hat - In Europa gehen die Lichter aus ... - charakterisiert ihn so: Matthias Erzberger, Führer der Zentrumsfraktion, war ein intelligenter Volksschullehrer aus Buttenhausen, der durch Fleiß und Kulissenintrigen in den Ruf großer Etatkenntnisse und zweifelhafter Redlichkeit gekommen war. Dass er weder die Welt kannte, noch politischen Instinkt besaß, belastete sein Selbstbewusstsein nicht, da er es nicht bemerkte. Sein Fleiß beschämte die Biene, seine Dickfelligkeit den Elefanten. Er beanspruchte für sich die Generalkompetenz in allen irdischen und zahlreichen himmlischen Angelegenheiten ... Während des Krieges rückte er von seinen früheren Forderungen ab und forderte, der Reichstag möge sich feierlich für einen Frieden ohne Abtretungen und Entschädigungen, also auf der Grundlage des Vorkriegsstandes, aussprechen. Erzberger übersah das wichtigste, daß die feindlichen Regierungen einen status-quo-Frieden rundum ablehnten (was sich 1944/1945 wiederholen sollte, als die Frondeure in der hohen Generalität sich der Illusion hingaben, mit ihnen könnte die Anti-Hitler-Koalition einen Vertragsfrieden schließen ... HHS) Eine interessante Episode ist weiter von Erzberger zu berichten. Der Außenminister Wiens, Czermin bot den Deutschen in einem Geheimdokument an, Elsaß-Lothringen an Frankreich abzutreten und sich im Osten durch die Annektion Galiziens für den Verlust im Westen zu entschädigen. Von Galizien sagte man in Wien, Galizien bekomme, wer den Krieg verliere. Wie es heißt, übermittelte die Kaiserin Zita Czernins Denkschrift Erzberger, der in einer Versammlung daraus zitierte und kurz danach in die Schweiz abreiste. Die Schrift gelangte weiter an Lloyd George ... Die verschiedenen Versuche, in letzter Stunde noch einen Vertragsfrieden zu erreichen, bekamen einen neuen Höhepunkt, als der Kanzler Prinz Max von Baden einigen Gebietsabtrennungen des Reiches zustimmte; der Reichskanzler hatte in seiner Rede auf die 14 Punkte des amerikanischen Präsidenten Wilson eingehen sollen, unter denen die Entente bereit war, das Waffenstillstandsangebot des Reiches zu diskutieren, anstatt eigene Vorschläge zu machen. Max konnte sich gegen das Kabinett nicht durchsetzen; diesem gehörten an: Erzberger, Payer und Scheidemann. Aber es half nichts, ein Waffenstillstand musste 1918 irgendwie zustande gebracht werden. Am 5. November 1918 erlaubte Wilson der deutschen Delegation endlich den Grenzübertritt, die Reise nach Versailles; die deutsche Vertretung wurde wie gesagt von Staatssekretär Erzberger geleitet und von Marschall Foch nach schikanösem Hin und Her empfangen. In der Nacht vom 10. zum 11. November wurde das Dokument des Waffenstillstandes schließlich unterzeichnet. Die nun im Frühjahr 1921 dem Parlament vor gelegte Note qualifizierte nur die Bedingungen der Entente, die schon angenommen waren.