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6. Kapitel

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Wenn wir bislang in Müllhaeusen vom Krieg nicht viel gemerkt hatten, so lag es daran, dass unsere kleinstädtischen Reserven kriegswirtschaftlich offenbar nicht ins Gewicht gefallen waren, anders als die Städte an der Ruhr oder die des süddeutschen Raumes. Unsere keramische Werkstatt, die Eisengießerei, unsere Maschinenfabrik und die kleineren Betriebe waren noch nicht vollständig in die Rüstungsproduktion einbezogen. Das Jahr 1942 hindurch, meinem Siebenten in dieser Welt der Realitäten und des Scheines, hatten wir friedlich und sogar beschaulich gelebt, ohne Sorgen, als Zaungäste der raschen Siege.

Endlich aber ging Großvaters alter Traum in Erfüllung; er konnte sich der Aufsicht seiner Frau mit dem Hinweis auf höhere Gewalt und seiner politische Arbeit für die Partei der Mühsal entziehen, ja, es gelang ihm, dank des größer werdenden Anfalls von Uhren aus den eroberten Ländern, einen Gehilfen bei ihr durchzusetzen. Unser Geschäft florierte daher gut und immer besser. Aus diesem Grunde hatte sich Großmutter auch nicht länger gegen den Gehilfen gesträubt, der neben Großvater saß, falls sich der Alte in der Werkstatt aufhielt, und unter ihrer und seiner Leitung den Wohlstand der Pontes mehren sollte. Großvater ließ sich fortan mit Meister anreden, las seinem Gehilfen die Leitartikel aus dem Völkischen Beobachter vor und hängte eine Landkarte Europas im Laden auf. Mit kleinen Hakenkreuzfähnchen steckte er den Frontverlauf ab und zeichnete Pfeile in die Karte, denen die Wehrmacht zu folgen hatte. Großvater schritt unter den beobachtenden Blicken seiner Frau durch Werkstatt und Laden, rückte das Abzeichen der Partei am Rock zurecht, strich sich den weichen Bauch und erläuterte der Kundschaft die Weltlage.

»Hier wird hart und ordentlich gearbeitet, wie im deutschen Handwerk üblich«, belehrte er seinen Untergebenen. »Jawohl«, sprach der ergeben, »selbstverständlich, Meister Ponte«. Obschon in unserem Städtchen bisher keine Fliegerbombe gefallen war, übernahm es Großvater, den hiesigen Luftschutz zu organisieren. Die Provinzler mussten ihre Hausböden vom Gerümpel räumen und wenn vorhanden, die Lattenverschläge abreißen, was Großvater persönlich überwachte. Niemand glaubte im Übrigen an den Sinn dieser Maßnahmen; dass feindliche Flugzeuge bis nach Thüringen vordringen könnten, hielten wir alle für schlechterdings unmöglich. Außer diesen passiven Maßnahmen des Luftschutzes leitete der Alte auch praktische Übungen, zog einen Drillichanzug an, band ein ledernes Koppel mit Beil, Karabinerhaken und Seilen um seinen Bauch und setzte einen Stahlhelm auf. Als ich ihn in diesem Anzug sah, musste ich an die Bilder Friedrichs des Weisen denken, jenes Regenten, der meine frühe Kindheit begleitet hatte, dank Großvaters Vorliebe für diesen Kur- und Reichsfürsten. So geschah es denn, dass Großvater die Müllhaeusener zusammenrief, um sie in praktischer Brandbekämpfung zu unterrichten. Sein Gehilfe schleppte einen Eimer Wasser herbei. Großmutter hielt die Handpumpe bereit, eine sogenannte Spritze und alle sahen zu, was der Brandbekämpfer unternahm, vorerst nur das Aufstellen eines Holzschildes auf dem Kopfsteinpflaster. Nun entnahm Großvater einer Kiste den länglichen Stab, eine englische Brandbombe, vielleicht einem Blindgänger, und erläuterte der Menge dies harmlos aussehende Ding sei die heimtückische Waffe Albions. Mit Wucht schlug er sie auf, sie entzündete sich und zersprengte ihre Hülle, sodass sich zahlreiche kleine Brandherde bildeten, die entweder mit Wasser aus dem Eimer oder vermittels einer Feuerpatsche gelöscht werden sollten. Was auch geschah. Zusätzlich kam Sand auf die erloschenen Brandherde.

Eine weitere versteckte Tücke dieser Bombe bestand darin, dass manche, nicht alle, aber wer konnte schon zuerst nach dem Fabrikat sehen, ehe er ans Löschen ging, neben mehreren Brandsätzen mit einem Sprengsatz ausgerüstet waren. Einmal sprang Großvater ein brennendes Partikelchen auf die Hand und hinterließ eine Brandwunde. Sofort stellte er die Vorführung ein, ließ sich nach Puffenrode bringen, legte sich zu Bett und überließ die Behandlung seiner Hand Doktor Wilhelmi. Mit dem Begriff Krieg brachte ich, wie auch alle anderen, diese Vorführungen kaum in einen Zusammenhang. Zwar hatte Großmutter die Verletzung ihres Mannes nicht ernst genommen und mit hinterhältigem Lächeln, als Großvater ungeschickt die Suppe löffelte, bemerkt: »Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um, Alter, oder, wer das Schwert zieht, wird durch das Schwert umkommen, nicht wahr, so steht es doch geschrieben, lieber Herr Großneffe?«

»Das ist einerseits völlig richtig, glücklicherweise handelt es sich nicht um den Tod Großvaters, sondern bloß um eine Schramme«, sagte der Geistliche lächelnd. Hier nun musste Großvater darlegen, wie sehr sie beide irrten. Die Brandsätze der tückischen Briten enthielten seiner Meinung nach ein Gift, das sich langsam im Körper ausbreitete. Auch wenn es nur in kleinen Mengen auf die Haut komme, verursache es langwierige und kaum zu behandelnde Verätzungen.

Großvater stand eine weitaus härtere Prüfung bevor. Alle Honoratioren unserer Stadt waren anwesend, vom Gebietsführer der Jugend bis zum Stellvertreter des Kreisleiters, den Stadträten, den Lehrern und zahlreichen gewöhnlichen Luftschutzwarten, als Großvater, der die Leitung der Übung wieder übernommen hatte, kaum, dass er wiederhergestellt war, seine Geräte aufstellte, zur Sicherheit wie ein Indianer hinter seinem Holzschild hockend und durch den Sehschlitz nach einem kleinen Holzhaufen spähend, den sein Gehilfe, um ein größeres Feuer zu erzielen, vermittels Petroleum am Brennen hielt. Es geschah, was alle schon kannten, die Bombe explodierte, der Holzstoß loderte hoch auf, indessen Großvater hinter dem Holzschild hervorsprang und barsch befahl, das Wasser nunmehr anzulassen. Es kam aber keines. Großvater, in Ermangelung des Wassers, schwang die Patsche. Seiner Sache völlig sicher, schlug er auf die kleinen Brandhäufchen ein. Regelwidrig explodierte es plötzlich erheblich stärker, als zuvor; die Briten hatten Großvater überlistet und ihn zu Fall gebracht. Hingestreckt lag er am Boden, und wir hielten ihn für tot. Aber er lebte, und bald war die Ursache seiner Niederlage geklärt; es handelte sich um eine neuartige Waffe, die erst seit Kurzem im Luftkrieg gegen uns eingesetzt wurde. Löschen ließ sich dieser sogenannte Phosphor nicht ...

»Großvater«, sagte ich wohl, wie es im Tagebuch Mamas vermerkt ist, »wir Kinder sind klein, wir kennen nicht Kampf noch Sorgen. Wirst du nun weiterkämpfen?«

»Ich weiß es wahrhaftig nicht, mein Kind«, sprach er nachdenklich. »Ich bin nicht einmal sicher, ob ich nicht eines meiner Augen bereits für Deutschland hingegeben habe.« Sein linkes Auge blieb lange Zeit verbunden, aber er bekam eine Luftschutzmedaille und Großmutter bemerkte unfreundlich: »Hoffentlich hat Er jetzt genug. Er soll sich in der Werkstatt betätigen, mehr wird von Ihm nicht verlangt.«

Bald wurde er wieder gesund, behielt auch das Auge, vermied es aber, sich bei Vorführungen des Luftschutzes hervorzutun. Allerdings besprach er mit der Kundschaft gern seine pyrotechnischen Abenteuer. Bomben fielen bei uns auch weiterhin nicht, das Leben ging mit einigen erträglichen Einschränkungen weiter. Aus dem Reich aber wurden die durch den Luftkrieg gefährdeten Betriebe zu uns verlegt. Lebensmittel wurden zwar strenger rationiert, aber meine Großeltern hatten eine zahlreiche bäuerliche Verwandtschaft im Bayrischen wie in Thüringen und horteten und hamsterten, was das Zeug hielt, obschon schwere Strafen auf den Schwarzhandel standen. So entwickelte sich ein reger Tauschhandel, der alten Frau war ein wucherischer Zug eigen, der unstillbare Drang nach Erwerb und Besitz. Essen war bei uns also nicht knapp, wir konnten sogar noch davon abgeben, nicht verschenken, aber abgeben, im Tausch gegen Dinge, die wir nicht besaßen. Überdies florierte der Laden, verglichen mit den Friedenszeiten, sogar besser. Es kamen immer mehr Uhren fremden Fabrikates herein; wie immer sie erstanden waren, sie gingen entzwei, wie alle Uhren dieser Welt.

Großvater machte schließlich ausgedehnte Reisen zu seinen Grossisten, um Ersatzteile heranzuschaffen, und ich lernte dabei, dass die Innung vorausschauend zentrale Lager für Ersatzteile eingerichtet hatte und somit jedem Engpass gewachsen war. Wiederum stand die Werkstatt ohne Meister da, alles ruhte auf dem Gehilfen, einem älteren Mann. Schließlich legte Großvater selbst ein Lager an, er kaufte jede ihm angebotene Uhr auch dann, wenn sie nicht zu reparieren war, und zerlegte sie in Einzelteile. Ferner erstand er einen Posten goldener Herrenringe mit jeweils einem Diamantsplitter; sie gingen reißend ab und mir oblag die Verwaltung dieses Nibelungenschatzes. Nichts war so billig wie Gold. Ich empfand den Umgang mit wertvollen oder kostbaren Dingen als eine höchst angenehme Tätigkeit. Jeder der Ringe kostete achthundert Mark, Käufer fanden sich bei Offizieren und ihren Frauen, bei Amtsträgern und Funktionären oder bei denen, die einfach etwas auf die sichere Seite bringen wollten. Zuletzt goss Großvater im Keller zu nächtlicher Stunde kleine Goldbarren im Unzengewicht und versteckte sie für Notzeiten, vor Angst schwitzend.

Verwundete Soldaten verbrachten die Zeit ihrer Genesung oder einen Urlaub im Städtchen; auch hatten sich einige Dienststellen aus dem Reich in Müllhaeusen angesiedelt, wie erwähnt, und die bürgerliche Idylle unmerklich gelockert. Kurz, wir verkauften ihnen Ringe und Uhren, silberne Schüsseln, Schalen, Besteckkästen und Samoware, alles Beutegut aus Europa sammelte sich unter unserem Dach.

Selbstverständlich war der Handel mit Edelmetallen staatlich beaufsichtigt, aber Großvater stellte sich gut mit den Aufsehern, ließ verdienen, wobei er selber auf seine Rechnung kam. Sein Geschäftserfolg verhalf ihm zu einem größeren Ansehen bei Großmutter. Der Gehilfe wurde bald darauf eingezogen. Großvater stellte den Reparaturbetrieb ganz ein, behielt nur noch den zwar gefährlichen aber lukrativen Schwarzhandel bei und vermittelte gegen Provisionen die Uhrenreparaturen an Kollegen, die weniger umsichtig gewesen waren. Nicht dass er im Gold schwamm, aber er prahlte mit seinem neuen Wohlstand, wollte nach dem Krieg das Geschäft ganz aufgeben, um von den Zinsen seines angehäuften Vermögens zu leben, was durchaus nicht unmöglich; denn in seinem Köfferchen aus Metall bewahrte er viele der kleinen von ihm selbst gegossenen handelsüblichen Barren auf. Nach dem Wechsel des Jahres 1943 zu 1944 verließ uns Mama, nicht, wie sie immer gedroht hatte, mit mir und nicht nach Paris oder Eisenach, sondern zog von Weimar nach Berlin. Zuerst kam sie selten, bald gar nicht mehr; selbst Großvater missbilligte ihren Schritt. Da wir die Welt immer in ihrem Bilde erleben - sehen - es hat sich ein Foto aus jener Zeit erhalten, das sie als eine nicht mehr junge, aber noch recht hübsche Frau in Waffenrock und Käppi darstellt, unter dem blondes Wellenhaar hervorquillt, eitel lächelnd.

Sie hatte uns in der ersten Februarwoche verlassen, als überall Schnee lag. Neugierig und auch etwas misstrauisch sah ich zu, wie sie ins Dienstauto Doktor Wilhelmis stieg, der sich erboten hatte, sie nach Berlin zu bringen, weil er dort zu tun habe. Zuvor hatte es einen Abschied gegeben, an den ich mich deshalb lebhaft erinnern kann, weil Großmutter aus der Rolle fiel und ihre Verdächtigungen herausschrie. Schnippisch hatte Mama ihr geantwortet; die Gängelei sei nun endgültig vorbei. Großvater hatte hinzugesetzt, es sei ja überhaupt vielleicht bald alles vorüber, der Russe so gut wie besiegt und der Krieg gehe somit zu Ende, ihre Flucht sei eigentlich schon überflüssig. Mama strich mir zum Abschied mit dem Ratschlag über den Kopf: »Werde schnell erwachsen, mein Sohn!« Was ich gern versprach, freute mich schließlich doch über den Trubel, den der Krieg bei uns auslöste, auch wenn wir Mama an ihn verloren. Denn endlich trugen wir alle Uniformen; Großvater ging im Rock des Luftschutzwartes, obschon er als Verwundeter keine Übungen mehr abhielt, und Doktor Wilhelmi war berechtigt, die Rangabzeichen eines Stabsarztes an seine Uniform zu heften; nebenbei bemerkt, gehörte statistisch jeder vierte Arzt der SS an, nun, und ich selber gehörte zur Kampfreserve junger Nationalsozialisten. Allein Großmutter blieb zivil, und wenn man den geistlichen Rock nicht auch als eine Art Uniform betrachten will, so war mein Meister und Wahlvater Fabian ebenfalls ein Zivilist. Das Haus hatte sich geleert.

Ich entsinne mich noch eines Vorfalles, der mich länger beschäftigte. Karl, Jan und ich schlenderten einmal am Stadtwall entlang, als uns eine Kolonne Menschen entgegenkam, fünfzig oder sechzig Gefangene, ehemals Soldaten der bolschewistischen Armee, wie wir sogleich an ihrem Aussehen erkannten, unsere Urfeinde und Untermenschen. Aber was für ein Bild boten sie! Die Mäntel verdreckt, ohne Schuhe, an den Füßen Lappen und Holzpantoffel. Auf den Köpfen trugen sie Mützen oder Wäschefetzen, einige zeigten kahle verschorfte Schädel. Langsam schleppte sich der Gefangenenzug am Wall entlang. Begleitet wurde die verzweifelte Truppe von älteren Leuten mit Gewehren über der Schulter, zu nichts anderem mehr nützlich als zur Bewachung dieser Siechen. Wir sahen der Kolonne sprachlos nach, bis sie unserem Blick entschwunden war ...

Der Ordnung halber müsste ich wohl nachtragen, was in meinem Inneren zur Zeit der Kapitulation der 6. Armee von Stalingrad vor sich ging. Allein ich könnte mich hierzu nur verhalten äußern wie die gewöhnlichen Historiker, die nicht dabei waren, aber genau wissen, was dort geschah und vor allem weshalb. Nicht auszudenken, was sie täten, wäre die verlorene Armee von den Mannsteinpanzern wirklich herausgehauen worden; auch Leningrad überstand schließlich die Belagerung und ist heute deshalb Heldenstadt. So erklärt es sich vielleicht, dass mein Inneres mit anderem beschäftigt, der Niederlage dort nicht die Bedeutung zusprach, die sie tatsächlich im Nachhinein verdient.

Fleißig besuchten wir jungen Menschen nunmehr das Stadtcafé und studierten angeregt die wippenden Hintern der Serviermädchen. War ihre Schar auch kleiner geworden, so blieb sie doch immer noch groß genug, um Fronturlaubern Erholung und Freude zu versprechen. Herr Links besaß genug Beziehungen, um diese und jene unter irgendeinem Vorwand von der Dienstverpflichtung reklamieren zu lassen. Jedenfalls aber sahen wir, wie gut etwa das dunkle Tuch den jugendlichen Marinefähnrichs stand, wie gefällig sich die goldenen Streifen und Sterne, die blitzenden und blinkenden Orden an der Herzseite und die Ritterkreuze an den jungen Hälsen ausnahmen. Blutjunge Flieger, Majore im Lichtblau mit den Silberschwingen, mit Lederhandschuhen, die lässig baumelnden Wehrgehänge; wahrlich im Stadtcafé residierte nunmehr die leicht blessierte Blüte der deutschen Jugend zwischen ihren Einsätzen. Mit fröhlicher Arroganz spreizten sich die jungen Männer auf den Jugendstilmöbeln, tranken, rauchten und hielten Ausschau nach Frauen oder Mädchen. Gespannt hörten wir denen zu, die von Nachtflügen und U-Bootangriffen erzählten, von kalter Todesnähe und heißer sinnlicher Liebe. Die Serviermädchen setzten sich auf ihre Knie und liebkosten sie offen; unsere Kleinstadt war zu einer Oase des Ausruhens vom Krieg worden, einem Bordell nicht unähnlich. Elegante Frauen aus den Zentren des Reiches, Berlin, Hamburg, Stettin, Danzig bewohnten die Hotels und kleinen Pensionen, um sich mit ihren Männern und Liebhabern zu treffen, die in Lazaretten und Erholungsheimen wiederhergestellt wurden. Damen mit Hüten von unaussprechlicher Dimension, nach oben gekämmtem Haar und halblangen Handschuhen saßen im Foyer des Hotels Zum Löwen und legten die schlanken seidenbestrumpften Beine übereinander. Man gab sich allen Freuden des Lebens und auf seine Weise hin, und wenn auch etwas von einer sentimentalen Stimmung dabei gewesen ist, so fühlten wir die Lebensfreude der jungen Herren, der Serviermädchen und der reifen Frauen, die sich hier mit ihren Gatten und Freunden kurzzeitig amüsierten, immerhin deutlich genug, um neidisch zu werden und nach einem ähnlichen Glück Ausschau zu halten. Eilfertig und gefällig bückten wir uns, wenn eine der von uns bewunderten fremden Damen etwas verlor, eine Handtasche, ein Feuerzeug oder eine der Phiolen mit duftendem Stoff, der von ihrem Körper ausging. Wir dankten für das Lächeln oder Streicheln der Hand mit hektischem Erröten oder rascher Blässe, nicht ahnend, wie viel Verführung von unserer Unschuld für jene Erfahrenen von uns ausging.

Wir wurden geradezu kinosüchtig. Vielleicht war unser Städtchen in dieser Beziehung nicht einmal am verruchtesten, herrschte in den Zentren doch kaum mehr Gelassenheit und Skepsis gegenüber der emotionellen Aufrüstung. Und jeder Tag und jeder einlaufende Eisenbahnzug brachte andere Männer und Frauen her. Ob wir es wollten oder nicht, wir hatten an dem gesellschaftlichen Leben dieser Jahre teil. Es ist leicht gesagt, da es sich um eine mit Euphorie gemischte Untergangsstimmung gehandelt habe. Wir, die Jungen, fühlten uns durch die Nebenerscheinungen des Krieges angelockt, wie von einer Ödnis erlöst; jeder konnte etwas durch sich selbst werden, durch verwegenen Mut, und ging alsbald doch verloren in diesem Meer an Heldentum, Liebe, Tod und Tränen. In keiner anderen Armee als der Wehrmacht des Zweiten Weltkrieges hat es so viele blutjunge Offiziere gegeben, vielleicht ausgenommen die Grenadiere Napoleons. Ohne Zweifel verstanden alle, dass sie immer schneller in die Tiefe glitten, aber es war eine Fahrt von eigenem Reiz, ein glanzvoller Rausch. Anders erklärt sich der Drang zu den tödlichen Unternehmungen nicht, der bis zum Ende des Reiches anhielt. Und selbst wenn der Untergang nahe bevorstehen sollte, so war die junge Kriegerelite nicht geneigt, diesen Zustand zugunsten eines ruhigeren Geschichts- und Geschäftsganges aufzugeben, bis auf Weiteres zumindest.

Leser! Ich komme vorgreifend auf ein Gebiet des menschlichen Herzens zu sprechen, wo Verstand nur wenig ausrichtet, wo wir uns den Gefühlen überlassen müssen, um zu verstehen. Wir suchen gleich dem Insekt die Strahlen des Lichtes, um darin zu versengen, was die Heutigen als Grenzerfahrung bezeichnen. Um jene Zeit sah ich wohl mit Kniri und Jan einen Film, dessen Titel mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist. Kadetten hieß er nach einem Ereignis aus dem Siebenjährigen Krieg. Kosaken verschleppten eine Gruppe Kadetten aus der Berliner Anstalt ins Ungewisse. Ein preußischer Offizier in russischen Diensten befreit sie, es kommt zum dramatischen Gefecht zwischen russischen Soldaten und den jungen Soldaten unter Führung eben jenes Mannes, der aus plärrenden Kindern kämpfende, edelmütige Männer macht. Am Ende siegen die Kinder, die Hundertschaft von acht- bis zwölfjährigen Knaben, geführt vom Rittmeister von Tzülow, aber ihr Führer opfert sich zuletzt selbst. Wir fühlten mit den in friderizianischen Uniformen steckenden jungen Nationalsozialisten, den Filmern gelang die vollständige Identifikation zwischen uns und diesen historischen Hosenmätzen. Nicht wir sind an unserem Irrtum schuld gewesen, wenn es denn überhaupt einer gewesen ist. Wenn sich in den letzten Filmsequenzen die Knaben mit rauchgeschwärzten Gesichtern unter den Soldatenperücken und ihren Vorderladern und Degen erheben, bereit, bis zum äußersten für ihre Existenz wie für das Vaterland zu streiten, nicht bloß um ihr Leben - das lag abgetan hinter ihnen, und so lag es auch hinter uns -, so waren wir und sie bis an die Grenze unserer ethischen Möglichkeiten gelangt.

Sicherlich ist es dem Regisseur Karl Ritter tief zu danken, sich derart um uns gekümmert zu haben, und jedenfalls verstand er eine Menge von unseren jugendlichen Idealen und Seelen. Es muss wohl doch für Jung und Alt süß und ehrenvoll sein, fürs Vaterland zu sterben, eine Tradition, die bis auf das römische Staatsvolk zurückgeht, und eine Praxis, die sich über zwei Jahrtausende gehalten hat und auch weiterhin Bestand haben wird, solange es Vaterländer oder damit Vergleichbares gibt. Was mich betraf, in jener Zeit trat ich in eine Beziehung zum Töten und damit auch zum Sterben. Hochwürden Fabian hatte gesagt, dass der Tod nicht bloß ein uns durch die Natur auferlegtes Ende sei, sondern dass wir durch die enge Pforte des Todes zum Licht gelangen würden. Der in Kadetten so sichtbar vorgeführte andere Zweck des Lebens, des Sterbens und des Tötens trat mit meinem Glauben an die Erlösung in Konkurrenz. Einen Vaterlandsbegriff hatten wir im Grunde gar nicht, wohl aber ein starkes Heimatgefühl, neben der personalen Bindung an den Führer, den Führer schlechthin. Wir starben eben, wenn es dazu kam, und wir sehnten den Augenblick herbei, wo wir unter das Gewehr gerufen wurden, für das Vaterland, das heißt, für uns selbst, für unsere Ehre. Und just um diese Zeit hörten wir auch im Deutschunterricht vom Lehrer Caskorbi das Schillerwort vom Leben, welches der Güter Höchstes nicht sei, hingegen dürfte als der Übel Größtes die Schuld gelten, wiewohl der Nationaldichter der Deutschen die Schuld im Folgenden nicht näher bezeichnete. Somit entstand ein unsichtbares Geflecht zu Schiller, zum Schauspieler Wiemann, zu Karl Ritter, zu den Hosenmätzen und zu uns, der leibhaftigen Verkörperung des Gedankens von Liebe und Tod.

Obwohl im Film keineswegs von Liebe die Rede ist, so war uns die körperliche Nähe von Frauen oder des Erotischen bewusst. Wir erkannten, dass dies alles vom weiblichen Geschlecht beobachtet, beurteilt, belohnt oder verworfen wurde, im Film wie im Leben. Was machte uns nun eigentlich diese Nähe von Liebe und Tod so anziehend? Die Einmaligkeit, das Nichtwiederholbare der Liebeserfüllung. War es so, dass Menschen in der Spanne zwischen Liebe und Sterben ihre letzte Bestimmung fanden? Oder hatten nur wir, die reine Jugend, dieses Todesgefühl in der Lustverbindung gespürt? Und wie stand es mit den Mädchen? Waren sie nicht auf das Rad der Liebe und des Todes geflochten wie wir Jungen, wie die Kadetten des Ritter-Films mit ihrem Protagonisten Wiemann, der für uns alle das anständige Sterben vorexerzierte? Und wieso neigen gerade Soldaten dazu, sich bis zur Lächerlichkeit zu schmücken und dekorieren zu lassen? Wir übersahen keineswegs das Effektvolle der Kadettenuniformen, den eleganten Schnitt der realen Offiziersröcke. Weshalb übertrieben Römer und Griechen, Germanen und Indianer alles Äußerliche, falls sie Soldaten und im Kriege waren? Der Bote wusste dem Perserfürsten zu melden, dass sich die griechischen Verteidiger bei den Thermophylen salbten und schmückten, was dieser nicht verstand und verächtlich abtun wollte, bis ihm der kluge Grieche bedeutete, auf ihre Weise rüsteten sich die Spartaner zum Sterben.

Genug der nachgereichten heilkräftigen Medizin; mit diesen Dingen stand unsere frühe körperliche Reife in einem innigen Zusammenhang und nur deshalb erlaubte ich mir eine über das biografische hinausgehende Betrachtung. Sicherlich gibt es auch den Rotzblasen heulenden Bengel, der sich bloß fürchtet, ein elender Tropf, um den niemand trauert.

Film war unsere geistige Kost, er entsprach dem ästhetischen Gefühl der Zeit, seine Suggestivkraft war ungeheuer. Für fünfzig Pfennige konnten wir jede Art von Film konsumieren. Ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr ich den ersten Film mit der Schauspielerin Marika Rökk sah, und ich weiß nicht einmal, wie oft ich sie überhaupt im Film gesehen habe, aber ich kann noch heute die lebhafteste Erinnerung an diese Frau in mir wachrufen. Sie bot dem gewöhnlichen Mann wie dem Exhibitionisten, was er suchte, spendete dem Knaben mit erwachenden Sehnsüchten Lust, die nicht von den kleinen schwitzenden Pfoten gleichaltriger Mitschülerinnen befriedigt werden kann, wie dem senilen Greis die Erinnerung an vergangenes Glück.

Ich war ein Sohn meiner Mutter, aber ich war auch ein Kind meiner Zeit und wenigstens in diesem Punkt nicht gerade skeptisch, obschon ich zur Skepsis neigte. Mein lieber Vater, der treue Chronist meiner Sünden und Verfehlungen, baute einen Wall des Glaubens um mich, von dem er meinte, er werde mich schützen. Ich war ein kleiner Katholik und ein großer Nationalsozialist, ich verehrte den Führer und den lieben Gott, und beide thronten gleich fern von mir. Meister Fabian hielt es nicht für nötig, mich dem Kino zu entziehen. Da er selbst nicht vom Kino verführt werden konnte, hatte er keinen Begriff von der Verführung, die vom Kino ausging. Er kannte die Regeln katholischer Ethik und Kasuistik, aber er entzog sich aus Bequemlichkeit den Kämpfen seiner Zeit und hielt das Kino für einen läppischen Jahrmarktsspaß, den Volksmassen zu gönnen, solange sie bei den sicheren Regeln der christlichen Gebote blieben. Natürlich besuchte er gelegentlich mit mir ein Kino, stellte Vergleiche mit der Welt seiner Bücher und Bilder an, der entwickelten Kultur seit dem Mittelalter. Im Ritus, in den A-cappella-Chören reiner Knaben- und Männerstimmen, den Orgelvorspielen und rauschhaften Tonteppichen kühler vernunftgeladener Musik, äußerte sich ihm Kultur, der er Maß und Macht zubilligte. So verstand er nur das Triviale eines Schlagers, in dem es hieß: In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine, / denn die Liebe im hellen Mondenscheine / ist das Schönste / Sie wissen, was ich meine ... nachsichtig ließ er uns diese leicht geschürzten Freuden genießen, sicher, uns jederzeit zügeln zu können, und es gelang ihm auch tatsächlich. Auf die Länge der Zeit blieb er der Sieger.

Im Winter gab Jan Links sein erstes Konzert im Stadttheater. Wir alle gingen hin, um unseren Freund zu sehen, Großvater, Großmutter und Hochwürden. Ich hatte meinen ersten Anzug mit langen Hosen bekommen, durfte ein reinweißes Hemd anziehen, das sich angenehm trug, und eine Schleife um den Hals binden. Großmutter hatte ein langes schwarzes Kleid an und trug ein Gebilde aus schwarzem Tüll auf dem Kopf, eine sogenannte Schnebbe und zahlreichen Schmuck, auch ein Lorgnon, und sie sah sehr würdig und altmodisch aus. Großvater hatte einen feierlichen Rock angezogen, mit langen Schwänzen. Meister Fabian brauchte sich nicht zu verkleiden; sein Anzug mit dem schmalen weißen Bündchen am Halse passte für alle Gelegenheiten. Wir bildeten eine hübsche altmodische Gruppe, mitten im Krieg, nein, an der Wende des Krieges. Der Vorhang hob sich, auf den Theaterbrettern stand ein Flügel, von weichem Licht erhellt. Unser Kreisleiter kam heraus, wartete geduldig den Beifall ab und sprach ein paar Worte zu den Debüts der jungen Künstler, talentierten Geigern und Flötisten; selbst im Kriege zieme es sich für ein Kulturvolk, für das germanische zumal, sein Erbe zu pflegen und an die Zukunft zu denken. Viele würden ihn schon kennen, den jungen Mann, nämlich alle, die im Café am Markt verkehrten und Gelegenheit gehabt hätten, ihn zu hören.

Jan, der junge Künstler, war in einen atlasartigen glänzenden Anzug gesteckt worden, aus den Ärmeln fielen weiße Manschetten, er wirkte erwachsen; ein mir fremder Mensch verneigte sich gegen das freundlich applaudierende Publikum und setzte sich mutig an den Flügel. Neben ihm nahm sein Lehrer Platz, der Kapellmeister und Korrepetitor unseres Stadttheaters; langsam gingen die Deckenleuchten aus, zugleich fielen zwei Lichtkegel auf die Bühne, richteten sich auf Jan und seinen Begleiter. Jan spielte einige kleinere Mozartstücke; meine Bewunderung stieg, ich war stolz darauf, ihn zum Freund zu haben. Höhepunkt dieses Debüts aber war der langsame Satz der cis-Moll Sonate, den zu interpretieren sich der jugendliche Meister unterfing, und der, wie ich heute hoffe und damals geglaubt habe, die Probe seines Könnens recht gut bestand. Dieser gefeierte erste Auftritt hatte Folgen, eine Verbindung zum Stadttheater kam zustande. Das Haus inszenierte damals Rheingold und es war ein zeitbedingter Einfall des Regisseurs, einige der Szenen durch angeworbenes Personal bereichern zu wollen, weil die durch den Krieg zusammengeschmolzene Komparserie, die bei dieser Oper eigentlich nicht gebraucht wird, nicht ausreichte, um die Mitwirkung des Germanenvolkes zu sichern. Zwar gelang es, aus der Puffenroder Heilanstalt ein Dutzend Genesende in das Nibelungenheer einzureihen; es machte sich zuletzt nicht übel, dass einige von ihnen an Krücken auf die Bühne hinkten, allein den Kern lichtscheuen Gesindels, das dem Albe dienen muss, konnten sie nicht hinreichend auffüllen.

Welch ein Tag, als ich mit anderen Jungen und Halbwüchsigen in der Maskenbildnerei für die Wagneroper hergerichtet wurde, mich mit geschminktem Gesicht und in stilisierter Uniform, mit einem Papphelm auf der zottigen Perücke, nach Leim riechendem Schild am Arm, gestützt auf meinen Speer, den Kampf der Götterfamilie mit den Riesen Fasold und Fafner um das Gold der Rheintöchter unterstützte. Vom Schnürboden hingen lange schwarze Schals mit großen silbernen SS-Runen bis auf die Bühne herunter, die mächtigen Gestalten der beiden Riesen, ihr Handel mit Allvater, der Freya bekanntlich mit dem Nibelungengold loskaufen muss, bis zum Letzten, dem verfluchten Nibelungenring, das alles nahm mich stark gefangen. Im Zusammenhang mit den Trauerfeiern um die verlorene Schlacht bei Stalingrad wurde die Oper Rheingold allerdings bald abgesetzt. Das Stadttheater schloss ganz, aber nicht für uns. Dank der Beziehungen meines Freundes zum Kapellmeister und Korrepetitor blieb uns das Haus zugänglich. Jan, Kniri und ich durchforschten es gründlich. Gierig sogen wir den Geruch von Leim, Staub und Schminke ein; diesen typischen Brodem der Bühne sollte ich nicht vergessen. Aus den zufälligen Berührungen heraus wurde später ein von mir angesteuertes Ziel, in dieser künstlichen Welt heimisch zu werden. Jedenfalls hätte ich ohne meine Statistenrolle bei der Oper kaum ein, wenn auch nur mäßiges Interesse für das Drum und Dran der Bühne aufzubringen vermocht und mich mit dem genießenden Part begnügt.

Eine weitere Folge war übrigens, dass sich unsere musikalischen Bemühungen belebten. Jan und ich musizierten miteinander, und es gelang uns sogar, Kniri dahin zu bringen, den Kampf mit dem Violincello aufzunehmen. Großvater war als Lehrer nicht mehr recht zu gebrauchen, aus Zeitmangel gab er es auf, mir weiter Violinunterricht zu erteilen. Ich partizipierte nunmehr vom Können des Korrepetitors, der nicht eingezogen worden war, ging regelmäßig zum Violinunterricht und machte auch Fortschritte in Harmonielehre, wagte mich unter Anleitung des Fachmannes an Violinkonzerte Beethovens, spielte die eine der beiden Romanzen recht gut, und ließ auf Anraten des Lehrers die schwierige Kadenz weg; cosi van tutte ...

Um mir als Erzähler eines wahren Lebensberichtes treu zu bleiben, am Abend des 1. Februar 1943 war ich abermals erkrankt, allerdings nur leicht und vorübergehend. Waren früher alle an mein Schmerzenslager gekommen, so war jetzt nur noch mein Wahlvater Fabian bei mir, steckte mir das Thermometer unter die Zunge, und las eine fromme Epistel aus der Bibel. Großmutter brachte heißen Tee, den ich willig schluckte, denn es ging mir schlecht. Großmutter sagte beiläufig zu ihrem Großneffen: »Eben ist die Nachricht durch das Radio gekommen; sie haben kapituliert.« Sie setzte sich aufs Bett und blickte mir ins Gesicht. Ihre Vogelaugen waren ernst, ihre Haltung feierlich. Ob er eine Erklärung dafür habe, fragte sie; er fragte zurück, wofür. »Für diesen Wahn, mein lieber Herr, oder glauben Sie, dass der Krieg zu Ende ist?« Ich horchte auf, sie sprach sozusagen privat mit ihm, aber was für Sorgen könnte sie haben? »Hören Sie! Unser Geschäft ist ein Warenhaus geworden. Wir werden immer reicher, und das Geld ist immer weniger wert«. Mein Wahlvater schwieg. »Verstehen wir uns richtig, nicht dass ich Angst vor der Zukunft habe, alles hat seinen Preis, mir passt nur das Ungewisse bei der Sache nicht. Vielleicht haben wir zur Stunde unseren Sturz schon hinter uns, ohne es zu wissen. Ich will mir das Geschäft übertragen lassen, was halten Sie davon?«

»Weshalb? Ihnen fehlt doch der Meisterbrief? Und wie wollen Sie das schaffen«, fragte er verblüfft. »Oh, mit der Innung stehe ich gut, Meisterbrief hin, Meisterbrief her!« Er schlug vor: »Lassen Sie uns in Ruhe darüber sprechen.«

Jakob Ponte

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