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8. Kapitel
ОглавлениеDie Wende begann unmerklich für uns Beteiligte im vorletzten Kriegsjahr, als uns Mama schon verlassen hatte und als sich Großmutter mit der Innung herumschlug, die ihr die Schließung des Geschäftes nahe gelegt hatte, weil der totale Krieg jede Hand brauche, auch die ihre. Am Ende siegte sie natürlich doch und galt weiterhin als Inhaberin unseres Geschäftes.
Mit dem Beginn des Jahres 1944, meinem Neunten auf dieser Welt, mehrten sich die Zeichen einer Wende unserer bürgerlichen und politischen Existenz. Was mich angeht, so sollten sich bis zum Jahresende Dinge ereignen, die mir meine Zukunft in keinem sehr günstigen Licht erscheinen ließen, allerdings, wo Gefahr, wächst das Rettende auch! Es begann recht harmlos. Mama zeigte in einem Brief an, dass man ihr trotz der Kriegslage einen Urlaub gewährt hatte, um ihrem zukünftigen Gatten in unserem Rathaus das Jawort zu geben. Diesen Brief, einem kostbaren Beweis, darf ich dem günstigen Leser nicht vorenthalten; im Wortlaut hieß es also: Lieber Sohn, ich schreibe Dir ein letztes Mal aus dem wunderbaren Paris, in das mich das Schicksal und der Krieg zu meinem und Deinem Glück geführt hat, das ich nun wieder und vielleicht für lange oder gar für immer verlassen muss. Du weißt wohl, vielleicht aus Deiner rätselhaften hellseherischen Fähigkeit heraus, dass die Amerikaner zusammen mit den Briten in der Normandie eingefallen sind; dort toben schreckliche Kämpfe, aber Deine arme Mama hat den Mann ihres Lebens gefunden, was unsere Lage verändern wird. Er ist Offizier bei der Luftwaffe, und ich lege Dir ein Bild von ihm bei, auf dem er freilich nicht sehr gut getroffen ist. Er freut sich sehr auf Dich, als einen Sohn, da seine erste Ehe kinderlos blieb. Nun hoffe ich, dass wir alle nach dem Kriege vergnügt miteinander leben werden; an Deine Großeltern schreibe ich gesondert; es grüßt und küsst Dich, Deine Mama.
In der Tat, dies war eine denkwürdige Neuigkeit; ich unterzog das Foto meines künftigen Stiefvaters einer Prüfung, um ein Zeichen zu entdecken, das ihn mir näher bringen würde. Allein Mama hatte entschieden Pech, soweit es ihre Männer betraf. Nicht sehr gut getroffen, war geschmeichelt; jener Herr Rochus Friedrich von Oe, wie er sein Bild, das ihn in der Uniform seiner Waffengattung zeigte, signiert hatte, schien bereits in einem bedenklich vorgeschrittenen Alter zu stehen. Was Mama wohl als eine hohe Stirn bezeichnete, konnte ich nur eine ausgeprägte Glatze nennen, eine Glatze, zu der die welken Hängebäckchen des Herrn Stiefvaters recht gut passten. So blieb als einziges günstiges Merkmal sein Titel; verglichen mit dem Bild des geflüchteten Argentiniers, schnitt er nicht eben vorteilhaft ab. Was Mama in dem Brief an mich nicht geschrieben hatte, wusste meine Großmutter, die den Fall mit Hochwürden bei Kaffee und Gebäck erörterte; alles war hinreichend sensationell, sollte doch die Trauung gewissermaßen einseitig vorgenommen werden, also ohne Anwesenheit des Bräutigams, ein sogenannte Kriegs- oder Ferntrauung. Hochwürden sagte: »Sie können es nicht leugnen, Frau Großtante, Ihre Tochter bleibt ihrem Stil treu und lässt sich womöglich ein zweites Mal ohne einen Mann verheiraten, was zwar als ein lächerlicher Einfall zu missbilligen, aber noch immer kein Beinbruch ist.«
»Falls nicht alles nur Erfindung«, erklärte Großmutter, »diese Göre war schon als Kind verlogen; sie log sogar, wenn sie keinen Nutzen daraus zog, einfach nur um zu lügen. In diesem Kind steckt eine große Sehnsucht nach Abenteuer, und sie selbst dürfte an den Schwindel glauben, den sie sich hier wieder ausgedacht hat. Vielleicht ist diese Veranlagung auf Jakob übergegangen, nun, was meinen Sie?«
Mein wahrer Vater, um dessen Verlust ich zu fürchten anfing, schwieg und sah mich nachdenklich an. Was diese merkwürdige Art betrifft, sich zu verheiraten, so hatten wir davon in einer der Rundfunksendungen gehört, aber für einen Jux gehalten, was vielleicht in den städtischen Zentren Brauch war. Und wie denn mag entweder Großmutter oder Meister Fabian gefragt haben, sollte daraus eine Ehe werden, und wenn ja, dann wohl eine für das Himmelreich, obschon das Ehesakrament ja abwesend. Es liefe parallel zum ersten Fall, übrigens gehe ihn dieser Vorgang nichts an, sprach Hochwürden. Großmutter sagte stirnrunzelnd, sie habe längst einen ganz anderen Verdacht, und er nickte, mit ihr im Einverständnis, aber um welchen Verdacht es sich handelte, sprach sie nicht aus; wohl aber fiel der Name Wilhelmi, worauf ich mir keinen Reim zu machen wusste. Es war still geworden um meinen Hausarzt. Was mir diese Ankündigung außer Missbehagen weiter einbrachte, war der Spott meiner Schulkameraden, denen ich in einem Anfall von Hochmut anvertraut hatte, einen Stand heraufzukommen, nämlich in den des Adels, zwar nur per Adoption, aber wer hatte etwas Ähnliches aufzuweisen? Ich hieß der Graf Ponte, und ich musste es hinnehmen, dass dieses Wortpaar abfällig gebraucht wurde und neidisch klang. Diese Beleidigungen hörten erst auf, als ich den einen oder anderen verprügelt hatte zwischen Mamas Ankündigung und dem Hochzeitstag verging dann so viel Zeit, dass ich schon beinahe vergessen hatte, was auf mich zukam.
Das Stadtcafé musste seinen Betrieb einschränken, einmal fehlte es an hübschen jungen Mädchen, die einen Hauptteil der Attraktion des Cafés gebildet hatten, zweitens konnte selbst Herr Links kaum noch die Spezialitäten herbeischaffen, die das Haus berühmt gemacht hatten, die Sachertorten und Sahnebaisers, die hohen Stücke Schwarzwälder Kirsch, die in Schmalz gebackenen Pfannkuchen und die Platten mit Petits Fours, die Eiscremeberge und Liköre, den Schinken und die Würste. Selbstverständlich verfügte der Hausherr noch über genügend Rohstoffe, um alle diese Herrlichkeiten für seine Stammkunden herzustellen. Es blühte der Schwarzhandel; allein die Kontrollen waren verschärft worden, die Strafen bei Übertretung der Gesetze drakonisch, sodass sich Herr Links nicht mehr auf diesem Felde zu betätigen wagte. Die Gefahr, in das nahe Konzentrationslager Buchenwald zu wandern, um der Besserung zugeführt zu werden, schreckte ihn ab. Er hätte Großmutters Verwegenheit besitzen müssen, um sich geschäftlich zu behaupten. Jan allerdings durfte dank der Förderung durch den Kreisleiter weiterhin öffentlich Klavier spielen; nur der Tanz war wegen der Kriegslage untersagt. Das junge Genie spielte an zwei Tagen des Nachmittags; ich hielt mich in meiner Freizeit meist im Café auf, und musizierte mit ihm. So erreichte ich eine größere Fertigkeit auf der Violine, sogar Kniri konnte sein Spiel auf dem Violoncello leicht verbessern. Jan fühlte sich längst als professioneller Musiker, wartete ungeduldig darauf, das Gymnasium zu beziehen, um es rasch hinter sich zu lassen und nach Weimar auf das dortige Konservatorium zu gehen und seine Ausbildung als Konzertpianist zu vollenden. Was aus mir werden sollte, hing in der Luft, wenn auch aus anderen, oben angedeuteten Gründen. Einzig Karls Zukunft schien unangefochten sicher.
Die Gäste des Cafés waren noch dieselben; vom Wehrdienst befreite Bürger unseres Städtchens, Angestellte aus verlagerten Dienststellen und Kleinbetrieben, von denen die thüringischen Orte wegen ihrer vermeintlichen Sicherheit vor den Luftangriffen wimmelten, wundgeschossene Soldaten mit ihren Frauen, Freundinnen oder Bräuten bevölkerten die Stadt. Allein der Betrieb war lahm, es mangelte an wirklichen Frohsinn. Herr Links nannte die Frauen abfällig seine Huren, servierte ihnen klebrigen Obstsaft und Tee, Gerstenkaffee oder Brause und riss ungeduldig die Brotmarken von der Karte, falls einer der Gäste nach Kuchen verlangte, einem recht erbärmlichen Gebäck, von dem zu essen, wir uns hüteten. Seit der Caféhausbetrieb eingeschränkt war, hatte Herr Links das Interesse am Leben ganz verloren. Wir Knaben aber waren als die einzige Attraktion des Lokals geblieben, und es fehlte nicht an Ermunterungen durch die jungen Frauen und Mädchen, die uns nicht nur in musikalischer Hinsicht überschätzt haben mögen, obschon uns der Hafer stach, wenn wir errötend ihre mütterlichen Zärtlichkeiten hinnahmen; wir gaben unser Bestes, um ihren Wünschen entgegenzukommen, der Lage nach so gut wie nichts, ausgenommen die Hoffnung, dass aus uns alsbald Männer werden könnten. Sicherlich fielen wir auf mit dem Bartschatten auf der Oberlippe und unseren reifen Kindergesichtern über den dunklen Anzügen, langen Hosen und Zugstiefeln, einer Verkleidung, in die wir um so lieber schlüpften, als wir uns darin wie Erwachsene fühlen konnten.
Die städtischen Anstreicher hatten an das Schaufenster des Cafés den Umriss einer dunklen Figur gemalt, darunter stand in Schablonenschrift: Achtung, Feind hört mit! Im Lokal hingen Plakate mit der Aufforderung zu sparen; jetzt wird eisern gespart, später punktfrei Staat gemacht. Eine Punktkarte muss besitzen, wer ein Kleid, einen Anzug oder Wäsche kaufen wollte, die Punktkarte stand jedem Deutschen zu, aber sie reichte nicht, um ihn mit Kleidung zu versorgen. Daher sollte er sparen und auf die Zukunft hoffen. Eine überraschende Abwechslung hatte die Firmung gegen Ausklang des Frühlings geboten, wie schon vorgezogen berichtet, die Hochwürden sehr plötzlich und auf Wunsch Großmutters mit dem für diesen Akt zuständigen Bischof vereinbart hatte; der Bischof war zwar nicht selbst anwesend, Hochwürden Fabian stand die Sache durch. Mag ich mich wiederholen, niemand verliert dabei etwas; er gewinnt und nimmt zu an Glauben. Wie jede andere, so war auch diese Firmung vom Seelsorger vorbereitet worden; es war meine wie auch Jans erste ernste Beichte, und wir lernten, was an Vorbereitung dazu notwendig ist; komm, Heiliger Geist, erleuchte meinen Verstand, damit ich meine Sünden recht erkenne; rühre mein Herz, das ich sie gut bereue, und so weiter ... Damals machten die Dinge Eindruck auf uns, obschon was wir zu erzählen hatten, kaum der Rede wert gewesen sind, gemessen an den Sünden, die andere begingen, denen am Ende auch verziehen wurde.
Die Erstkommunion, der wir nun aktiv teilhaftig geworden waren, mag unsere Knabenseelen für einen Augenblick wohlgetan haben, jedenfalls verstand ich wohl die Absicht meines Wahlvaters, mich ganz allgemein auf eine Wende in meinem Dasein hinzuleiten, und einen Menschen aus mir zu machen, nämlich einen Geistlichen. So war ich bereits in mehreren Teilen vorhanden; Volksschüler und Nationalsozialist und Mitglied einer Gemeinschaft römischer Katholiken. Übrigens waren bei der mir zuteilgewordenen Erhebung nur meine Großeltern anwesend; wer als Firmpate auftrat, ging in meiner Erinnerung verloren. Allein ich spürte doch der Vorschrift nach die Hand des Paten auf meiner Schulter, just in dem Augenblick, als ich von der Hostie aß und die symbolische Züchtigung in Form eines Backenstreiches empfangen hatte. Am Nachmittag gab Großmutter ein Essen, zu dem auch Großvater, von seiner Dienststelle freigestellt, kam. Wir warteten auf den Besuch Mamas; stattdessen traf uns das aufwühlende Ereignis des Attentates auf den Führer in seinem Waldquartier. Sicherlich hörten wir erst am Abend davon, als wir die Rede des durch die Vorsehung bewahrten Mannes hörten.
Herr Links, Hochwürden, Großmutter und ich nahmen die Botschaft im Erker des Wohnzimmers auf. Eine Aussprache um das Für und Wider entwickelte sich hier vor Ort nicht, die Sache selbst vermochte auch keine reale Zustimmung bei uns auszulösen. Aber, und das mag hier noch eingeschoben werden, durch Mamas Ankündigung, in den Adel hinzuheiraten, sah ich mich plötzlich zur Erhöhung meines eigenen Ranges veranlasst, und zählte mich gewissermaßen der Kaste zu, die eines solchen Unternehmens fähig war. Schließlich war auch dieser Bombenleger ein Graf wie mein künftiger Stiefvater. Was die öffentliche Seite des Verbrechens betrifft, das im Laufe des Jahres mit harschen Urteilen geahndet wurde, war eine Verschärfung der Gesetze; auf der Straße sollten wir Knaben uns beispielsweise nur bis Einbruch der Dunkelheit aufhalten dürfen. Seit dem Jugendschutzgesetz vom August 1940 hätten uns Erwachsene auf abendlichen Wegen durch die verdunkelte Stadt begleiten müssen. Allerdings brauchte ich nur über die Straße zu gehen, um zu Hause zu sein, wenn ich mich im Café aufgehalten hatte. Kniri hingegen musste Müllhaeusen ganz durchlaufen, war aber auf seinen Wegen niemals angehalten und befragt worden, weder von der Polizei-, noch von der HJ-Streife, die übrigens bald eingestellt wurde, weil die jungen Männer an einer der Fronten Dienst taten. Nach zweiundzwanzig Uhr, wenn Herr Links das Café abschloss, sank Müllhaeusen ohnehin in den Tiefschlaf eines Provinznestes und lag in völliger Dunkelheit. Allerdings heulten hin und wieder die Luftschutzsirenen, wir gewöhnten uns an diese Misstöne.
Großvater hatte die Nachricht wie erwähnt aus der Reichshauptstadt mitgebracht, dass wir den totalen Krieg führten, aber hin und wieder vermochte unser Kreisleiter die strenge Ordnung zu lockern; dann durfte im Café am Markt getanzt werden. Allerdings spielten nicht wir, sondern eine der SA-Kapellen mit Sondererlaubnis, alte Knaben, die zu nichts mehr taugten. Nur in den Tanzpausen traten wir zur Unterhaltung der Leute und des Kreisleiters auf, der uns sein besonderes Wohlwollen schenkte; er galt als ein Musik- und Kunstliebhaber, rief uns an seinen Tisch, ließ uns mit Saft bewirten und erteilte ästhetische Belehrungen. Spezialgebiet unseres Kreisleiters als amtlichem Beauftragten der Reichsmusikkammer war die Bekämpfung der Niggermusik. Obgleich ihm die Kammer schrieb, wie er Großvater einmal erläutert hatte, der die Einhaltung des musikalischen Reinheitsgebotes aus freien Stücken und Verantwortung überwachte, und der Polizei pflichtgemäß entsprechend Meldung erstattete, wenn er ein Vergehen entdeckt hatte, dass sich die Kammer außerstande sehe, zwischen entartetem und nicht entartetem Swing zu unterscheiden. Immerhin hielt uns der Kreisleiter für befähigt, etwa die Musik des Filmkomponisten Michael Jary von der des Swing-Juden Goodman zu unterscheiden. Dass ich über diesen Goodman Bescheid wusste, war der Sammelleidenschaft Mamas und ihren Platteneinkäufen im Ausland zu danken, Platten, die ich außerhalb der Reichweite Großvaters in meiner Kammer gleichsam konspirativ abhörte.
Um diesen Kurzbericht eines zu Ende gehenden Zeitalters zu runden: Eines Tages kam ein Mensch ins Café, der mir durch seine Erscheinung auffiel, ein schmaler Mann mit dichtem Haar und düsterem Blick und schön proportionierten Händen. Der Mann trank Tee, rauchte eine Zigarette, trat schließlich an den Flügel und flüsterte mit Jan. Der blickte sich nach dem Vater um, und als dieser nickte, räumte er seinen Platz vor dem Instrument ...
Als der Fremde gegangen war, saßen wir wie betäubt an unserem Stammtisch und glotzten uns verstört an. Sicherlich war ich in dieser Stunde älter und reifer geworden. Niedergedrückt schlug Jan vor: »Na, schön, wir wollen einstweilen aufhören uns hier vor diesen Troglodyten zu produzieren und nur üben, üben, üben ...«
Ehe Mama zu ihrer Ferntrauung erschien, musste Großvater ganz einrücken. Er kam nur noch an den Wochenenden nach Hause, lebte in einer Kaserne und bekleidete einen Rang bei der Polizei; das Kasernenleben sagte ihm zu, es bekam ihm und das Koppelzeug strammte seinen Bauch. Fest trat er mit den harten Knobelbechern die Dielen unseres alten Hauses, bis sie knarrten, sodass ihm Großmutter streng verbieten musste, in ihrem Hause soldatisch aufzustampfen.
Sie führte seit einiger Zeit wirklich das Geschäft, nannte sich Inhaberin: Clara Katharina Ponte, aber Geschäfte ließen sich nicht mehr machen. Großvater verzichtete darauf, eingedenk seiner neuen Eigenschaften als Polizist, weiter auf dem Schwarzmarkt zu handeln. Freilich kam auch aus Europa nichts mehr herein, alle die Eroberungen waren wieder verloren gegangen. Großmutter wirtschaftete weiter mit einem zuverlässigen alten Gehilfen, der war fleißig und unterwürfig, weil sie ihn reklamierte, dank ihrer Beziehung zur Obrigkeit, die bei uns einkaufte und arbeiten ließ. Mein lieber Vater Hochwürden kam wie gewohnt regelmäßig zum Mittagessen. Er, Großmutter und ich bildeten nunmehr so etwas wie den Kern der Familie Ponte. Großmutter nahm keinen Flüchtling auf, es war ihr gelungen, alle Einquartierungen abzuwehren.
Eines Abends spielte ich mit Hochwürden Schach; dieses Spiel zählte zu seinen Leidenschaften und er hatte mir die Regeln leicht beibringen können. Es handelt sich um eines der sinnlichsten Spiele überhaupt. Man glaubt leicht, dass die Figuren die Gesellschaft verkörpern; Damen und Könige und Bauern sind ihrem Rang entsprechend zu behandeln. Großmutter strickte, zum Ärger meines Gegners, der das Geklapper der Nadeln für die ihm drohende Niederlage verantwortlich machte. »Ich glaube, Sie stricken, um mich am Denken zu hindern«, polterte er. Wenn ihre Stricknadeln ihn schon aus der Ruhe bringe, dann passe er nicht in diese Zeit, sagte Großmutter. »Ich habe übrigens das Gefühl«, fuhr sie fort, »es geht immer schneller abwärts. Was meinen Sie? Werden wir den Sturz einigermaßen überstehen?«
»Sie schon«, brummte er grimmig, »Sie bringen alles zustande. Mich beunruhigt der Gedanke, eines Tages könnten Frauen Ihres Schlages die Welt regieren«. Dieser Ton behagte Großmutter, sie liebte es, sich zu streiten; sie legte die Strickerei beiseite. »Wenn Sie meinen, ich behindere Sie regelwidrig, so will ich damit aufhören. Ich möchte Ihnen aber den Kopf zurechtsetzen. Sie sind ein Waschlappen, mein lieber Neffe, obschon Sie aussehen, als könnten Sie einen Ochsen mit der Schulter umstoßen. Sie trauen sich nicht heraus mit Ihrer Meinung. Da sind Ihre Amtsbrüder von anderem Schrot und Korn«.
»Einige«, gab er stirnrunzelnd zu, »Was wollen Sie eigentlich von mir? Was soll ich Ihrer Meinung nach tun? Sie übertreiben wie immer, liebe Frau Großtante. Ich erinnere Sie an das Konkordat, das uns die Hände bindet, und mit dem wir gar nicht schlecht gefahren sind, anders als die protestantische Ketzerkirche.«
»Ausflüchte«, sagte Großmutter, »und schlechte dazu. Übrigens wiederholen Sie sich. Nein, wir fühlen uns alle ganz wohl in unserer Haut, wäre da nicht diese verdammte ungewisse Zukunft. Von ihr ist nichts Gutes zu erhoffen; wie die Leute sagen, genieße den Krieg, der Friede wird furchtbar. Meine Gräfintochter lässt auch auf sich warten.«
»Es wird schon werden; endlich bekommt Jakob einen richtigen Papa«, sagte er. Das sei nicht so sicher, bemerkte Großmutter, ihre Tochter dürfte sich schon einige Male verlobt haben, ohne die Eltern davon zu unterrichten; und was sei schon ein Graf in diesen Zeiten.
»Immerhin«, sagte er spöttisch, »oder verlangen Sie gar einen Herzog?«
»Mir ist jetzt nicht zum Lachen. Da Sie nun einmal mein geistlicher Lenker sind, sie schreibt um Geld«, sagte Großmutter ärgerlich, »denn er ist natürlich ein armer Graf.«
»Ja, gewiss, das habe ich mir schon gedacht. Geben Sie ihr welches«, schlug er lachend vor, »sie sitzen doch darauf.«
Ich ging in meine Kammer und legte mich aufs Bett, um nachzudenken. Mama wollte heiraten, einen Grafen, viel mehr, er wollte sie heiraten, war freilich arm, und Großmutter sollte Mama und meinen Stiefvater hinreichend ausstatten. Wozu das alles? Und wozu das alles, frage ich auch den Leser, um ihn der Anstrengung des nicht sehr beliebten und wenig verbreiteten Denkens zu entheben. Brauchte ich einen Vater? Nicht unbedingt. Bald würde ich mein zehntes Lebensjahr erreicht haben und so gut wie ein Mann sein. Also, wozu brauchte ich einen Vater und noch dazu einen gräflichen mit einer Glatze und ohne alle Mittel, einer, der vielleicht auf mich herabsehen würde? Ich wollte auf der Hut sein und stolz meine Volljährigkeit erklären, falls es nötig werden sollte.
Endlich kam Mama, mit einigen Koffern und Taschen und erklärte sie komme direkt aus der Reichshauptstadt Berlin, von der alle so viel Aufhebens machten. Ihr Haar war blond aufgefärbt, und sie gab als Grund dafür an: »Goldbraun ist jetzt in der Reichshauptstadt Mode, nicht mehr das ganz helle blond. Wie steht es mir?« Grimmig sagte Großmutter: »Wie der Kuh die Schelle!« Mama trug ihre Fingernägel lang und mit einem glänzenden Lack darüber; ihre Augenränder, ihre Lippen und Wangen waren blau, schwarz und rot getüncht. So schön hatte ich Mama noch nie gesehen. Unzweifelhaft hatte sie der Aufenthalt in den fremden Städten verändert und sehr verbessert. Sie passte nicht mehr ganz in unser Erkerzimmer, obschon sie ihre Ansprachen mit Vorliebe vor Großmutters Büfett hielt. Übrigens rauchte sie Zigaretten mit Goldmundstück aus einer langen Spitze und ich überlegte, welcher Schauspielerin sie ähnlich sah, fand aber keine, und sie trug ein Kostüm, das sie schlank erscheinen ließ; in dem lichten Grau war mir Mama vornehm und fremd geworden.
»Diese Pumps«, sagte sie, auf ihre Schuhe zeigend, »sind aus Italien, Rochus hat sie mitgebracht. Ein ganz schlichtes Modell; es macht den Fuß klein, nicht?«
»Rochus also, da wir einmal bei den Verstiegenheiten sind, wie ist das nun eigentlich mit dieser Heirat, von der du geschrieben hast?« Mama zeigte sich endlich zu der Erklärung bereit, dass ihre Ferntrauung in den nächsten Tagen vor sich gehe. Wenn Paare, durch die Umstände gezwungen, sich nicht nach alter Art trauen lassen konnten, so dürften sie sich neuerdings jeder gesondert vor einem jeweils anderen Beamten ihr Jawort abgeben, Soldaten bei ihrer Einheit; die Ehe galt danach als geschlossen, wie gewöhnliche Ehen. »Ganz einfach und erstaunlich, nicht wahr?«
»Doch, doch«, sagte Großmutter mit Bosheit, »das hatten wir ja schon einmal.« Sie habe, fügte sie hinzu, nicht ahnen können, dass dem Grafen das Reisegeld nach Müllhaeusen fehle. Wortlos entnahm Mama ihrer Handtasche ein Foto und legte dieses Beweisstück auf den Tisch. Ohne einen Blick darauf zu werfen, bemerkte Großmutter, sie hoffe, ihre Tochter sei nicht in Umständen.
»Willst du nicht bitte zur Kenntnis nehmen, dass es ihn gibt«, sprach Mama in scharfem Ton, um gleich darauf zu versichern, sie werde augenblicklich wahnsinnig, woraus ich ersah, dass sie die alte geblieben war. Großmutter besah das Foto. »Er sieht darauf nicht besser aus, als auf dem anderen, das du geschickt hast. Ein bejahrter Glatzkopf, na, ich glaube kaum, dass du durch den in Umstände kommen wirst.«
»Er ist immerhin Major.« Aber Großmutter winkte ab. Eine Weile sprachen sie beide nicht, und ich dachte schon, das Thema wäre erledigt, als Großmutter den Streit erneut aufnahm. An eine kirchliche Trauung sei wohl nicht gedacht? Mama erklärte, später werde sie sich vielleicht auch kirchlich trauen lassen. Ihr Verlobter sei übrigens Protestant. Der Übertritt zu ihrem Glauben würde für ihn einen Bruch mit der Familientradition bedeuten, wie auch umgekehrt. Großmutter ging auf und ab, schließlich sagte sie: »Ich habe Jakob firmen lassen; dass ich jetzt Eigentümerin dieses Hauses bin, ist dir bekannt? Ganz nebenbei, ich habe vor, mein Testament zu ändern.«
»Ach ja«, sagte Mama spöttisch. »Lass es! Du überlebst uns alle.«
»Dazu bin ich wirklich entschlossen«, erwiderte Großmutter prompt, soweit es an mir liegt, will ich euch gern zu Grabe tragen. Nein, mein Kind, ich dachte an eine Änderung zu deinen Gunsten. Meine Tochter bleibst du ja, und mit deinem Erbe stehst nicht auf der Straße, wenn es schiefgeht.« Mama senkte den Kopf. Eine Bedingung müsse sie allerdings machen, sagte Großmutter; dass diese Ehe irgendwann einmal kirchlich geschlossen werde. Der geneigte Leser wird später, einige Hundert Seiten weiter merken, wie gut diese testamentarische Regelung in mein autobiografisches Konzept passt.
Übrigens kam dieser Herr von Oe in die zeitgenössische Literatur; sein Schicksal weckte die Aufmerksamkeit eines bekannten Schriftstellers. Offizier, Hochstapler, Heiratsschwindler und Doppelagent, damit sind die Stationen des literarischen Herrn von Oe genannt. Ob diese Charakteristik auf meinen Oe zutrifft, habe ich nicht nachgeprüft, sondern bin davon ausgegangen, dass er dem Dichter als Modell gedient hat; kennengelernt habe ich ihn natürlich nicht.
Nun fand Großmutter wie auch ich, um meinen Bericht wieder aufzunehmen, dass noch eine andere Frage geklärt werden müsste. Falls Mama in den Grafenstand erhoben werden sollte, war auch ihres unehelichen Sohnes zu gedenken. Mama zog mich an sich und versprach mir: »Sobald Rochus sich freimachen kann, will er dich sehen, mein Sohn.« Seit Jahrhunderten hätten seine Vorfahren im Baltikum ihren Grundbesitz bewirtschaftet, bis die Bolschewisten kamen und sie vertrieben. So erkläre sich übrigens die Armut der Familie. »Es ist also«, sagte sie mit ernster Stimme, »unangebracht, sich über meinen künftigen Gatten lustig zu machen. Jakob wird hierselbst die Schule beenden und die Offizierslaufbahn einschlagen, und später vielleicht in einem der von uns eroberten Gebiete eine hohe Stellung antreten. Wo und wie wir danach leben werden, hängt vom Frieden, viel mehr vom Ausgang des Krieges ab.«
Ehe wir mit Rochus getraut wurden, besuchte Mama mit mir Hochwürden Fabian, meinen lieben Vater, um ihn auf ihre Seite ziehen. Dieser zeigte sich aber wenig geneigt, einer Ferntrauung beizuwohnen; er bestand darauf, dass Braut und Bräutigam vor dem Altar zu erscheinen hätten, um das Ehesakrament aus den Händen des Priesters zu empfangen. Auf dem Nachhauseweg schlenderten wir am Stadtwall entlang. Mama wollte ausruhen, sie nahm auf einer Bank platz, zündete eine Zigarette an und blickte auf mich herunter, als sehe sie mich zum ersten Mal. Plötzlich dachte ich, dass ich ihr im Wege sei, vielleicht gab es gar keinen, der Rochus hieß, sich mit Mama trauen lassen und sie zu seiner Gattin machen wollte.
»Dieser Pfaffe hat mich wieder mal brüskiert, Jakob; soll er bleiben, wo der Pfeffer wächst. Geh nach Hause! Wir sehen uns heute Abend.« Als mich Großmutter fragte, was Mama von Hochwürden gewollt hatte, sagte ich: »Er will sie nicht verheiraten.«
»Das wollte ich ihm auch geraten haben; das heißt, er hat sich gedrückt und wird auch nicht im Standesamt erscheinen und den Zeugen spielen«, sagte Großmutter. Ich weiß allerdings nicht, weshalb sie nicht wollte, dass sich Mama so vorteilhaft verheiratete. Schließlich wäre so doch alles in Ordnung gekommen.
Mich beschäftigte die Frage, wie es bei einer Ferntrauung zugeht so stark, dass ich den Oberstudienrat Kniri aufsuchte, um mir darüber Aufklärung zu verschaffen. Zivilehen, also standesamtliche Trauungen waren nach seinen Erklärungen auch dann zu beurkunden, wenn der eine oder andere Partner nicht vor Ort weilte, keineswegs etwas Neues. Der Alte führte eine Reihe von historischen Fällen als Beispiele an, sodass ich mich über die Rechtmäßigkeit der Ferntrauung Mamas beruhigt zeigen durfte. Dann wollte der Alte wissen, ob es sich bei dem künftigen Ehegatten Mamas um einen Adelssprössling handele, was ich mit Ja beantwortete; die Sache schien so ungewöhnlich, dass mir selbst die Bejahung zweifelhaft vorkam. Indessen gab er sich damit zufrieden, fügte noch etwas über Geld- und Schwertadel hinzu und dem vom Reichsführer SS in Aussicht gestellten neuen Adel, der weder auf Geburtsrecht, noch auf Geldbesitz zurückgeführt werde, sondern nur auf das Verdienst des Betreffenden; er wolle hoffen, dass jener Herr von Oe wenigstens als Jagdflieger einige Verdienste aufzuweisen habe.
Der Tag unserer Trauung kam heran, irgendwann schritten wir alle hinüber ins gotische Rathaus, Mama, meine beiden Großeltern als Trauzeugen und ich und wurden ins Hochzeitzimmer geleitet. Der Standesbeamte erhob sich von seinem Schreibtisch und kam Mama respektvoll entgegen. Mama hatte ihr französisches Kostüm angelegt, aber zusätzlich einen weißen Schleier über ihren Hut gebreitet, sie trug einen Strauß Blumen - Nelken oder Rosen, eher Rosen, mit einem Flor umwickelt - in Händen. In der Frühe hatte es noch wegen des grünen Angebindes eine Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter gegeben, als diese den Schleier aus ihrem Gepäck holte, um ihn zusammen mit einem Grünzeug anzulegen. Soviel ich meiner geringen Erfahrung mit Trauungen nach begriff, stand nur reinen Jungfrauen das ungeschriebene Recht zu, Schleier und grünes Laub zu tragen. Immerhin hatten uns die Leute auch kopfschüttelnd nachgesehen, als wir über den Adolf-Hitler-Platz hinüber ins Rathaus schritten, bekannt, wie wir nun einmal waren, sie begriffen wohl nicht, weshalb sich die Pontes mit einem abwesenden Grafen versorgen wollten, unseren Schwiegersohn und Stiefvater, wenn nicht in persona, so doch bildlich, im Geiste. Meine Rolle beschränkte sich darauf, die kleine Schachtel mit den goldenen Ringen hinter Mama herzutragen, die allerdings aus unserem Vorrat genommen werden mussten, und die mir vom Standesbeamten sogleich abgefordert wurden, Ringe, die heute früh nach einem langen Streit um die Hinterlegung des Geldwertes aus unserem Safe in der Werkstatt kamen. Die Eingravierungen wollte Großvater später vornehmen, falls diese Hochzeit real werden und nicht nur Schauspiel bleiben sollte.
Es roch nach Blumen und auf dem Schreibtisch des Standesbeamten standen einigen kleinen Fähnchen zum Bild des Führers; außer uns als Familie war noch ein Mann anwesend, der an seinem Radio- oder Funkgerät hantierte, aus dem es schnarrte und röchelte. Schließlich riet der Radiomann dem Beamten einfach mit der Zeremonie zu beginnen, indessen er sich weiter mit seinem Gerät abmühen werde, um den Bräutigam ins Zimmer des Geschwaderkommandeurs oder wo auch immer, heranzubekommen und ihn zum Jawort zu veranlassen. Mit halbem Ohr hörte ich, was der Beamte vortrug, indessen Mama ihren Schleier lüftete und ihn strahlend ansah. Jener leierte den Text herunter und fragte, ob sie den hier anwesenden Herren ihr Jawort geben wolle, dann müsse sie in die Kapsel sprechen, was Mama sogleich tat. Lange warteten wir auf das Gegenzeichen, bis der Mann am Funkgerät seine Bemühungen aufgab, den Ehemann am anderen Ende der Leitung aufzuspüren; man verständigte sich, es später noch einmal zu versuchen. So blieb es denn bei der Regelung die Trauung später zu beurkunden, wenn nämlich die Gegenanzeige eingetroffen sei. Verlegen bat der Standesbeamte, nunmehr die Ringe zu wechseln, was ja unmöglich war. Mama aber zog resolut zu ihrem eigenen den Ring ihres Gatten auf, was aussah, als sei sie bereits Witwe, ein Zeichen übler Vorbedeutung.
Anschließend gingen wir ins Café Links, wo ein kleines Essen auf uns wartete. Herr Links brachte Blumen an unseren Tisch und bediente uns selbst. »Wenn Sie wüssten, was hier los ist, Fräulein Ponte, nämlich gar nichts mehr. Ich wünschte, mein Haus wäre in Berlin.«
»Wünschen Sie das lieber nicht«, sagte Mama huldvoll, »in Berlin wäre Ihr Café vielleicht längst Schutt und Asche.«
»Ist es wirklich so schlimm?« Sie tranken sich mit trüben Gesichtern Glück zu. »Übrigens,« sprach Mama liebenswürdig aber bestimmt, »ab heute Frau, Frau von Oe, Herr Links, wenn ich bitten darf!«
»Ach, ja natürlich«, der Mann schnitt ein beleidigtes Gesicht und trollte sich. Mama schickte ihm einen gemurmelten Gruß nach; so ein Affe ...
Sie durfte für einige Tage bei uns bleiben, um das Jawort, vielleicht die schriftliche Erklärung ihres Gatten abzuwarten, aber die Sache war offenbar im Standesamt oder anderswo vermasselt worden. Mein Stiefvater war unauffindbar, vielleicht vom Feindflug nicht zurückgekehrt, womit Mama bereits an ihrem Hochzeitstag Witwe geworden wäre, eventuell hätte der Abgeschossene gar kein Wort mehr sagen können, schon gar kein Jawort, weil er tot war, womit der ganze Aufwand umsonst gewesen wäre. Die Witwenringe trug Mama ja schon, als sie unbedacht den des Herrn von Oe aufgezogen hatte. So vergingen ihre Urlaubstage, übrigens mit allerlei Glückwünschen von ihrer Dienststelle und ihren Kameradinnen.
Um die Wartezeit nicht lang werden zu lassen, kochte sie einstweilen mit Großmutter Apfelmus. »Arbeit löscht der Liebe Brunst«, höhnte die Alte, »warum heiratet ein Graf eigentlich keine Gräfin?« Mama wischte sich mit dem Handrücken die Nase. Mir fiel auf, dass ich sie lange nicht weinen gesehen hatte, aber nun kam es mir so vor, als treffe sie gerade die Vorbereitungen für einen ihrer hysterischen Anfälle, die ich einst so gefürchtet hatte und nicht nur ich allein. »Nicht immer tun sie es, wie du siehst; es gibt ja übrigens auch Liebesehen, sie sind eben Menschen wie wir.«
»Was mich betrifft, leierte Großmutter ihre alte Weise herunter, »so lege ich keinen Wert darauf, als Mensch gefeiert zu werden. Ich bin Geschäftsfrau und muss als solche feststellen, dass immer dann an meine Menschlichkeit appelliert wird, wenn ich zahlen soll, für die Winterhilfe, für verarmte Grafen; sag mir die Wahrheit! Es gibt ihn gar nicht.« Mama stampfte mit den Füßen auf und hielt eine lange Rede voller Bitterkeit. Mir kamen am Ende auch Zweifel, ob es ihn gab, diesen unglücklichen Flieger. Hier sei schon angemerkt, dass uns dieser Graf noch manch ein Rätsel aufgab, dass er nie in persona auftrat und zuletzt aus unserer Liste der Familienmitglieder wieder gelöscht werden musste, nach einem langen juristischen Verfahren ...