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5. Kapitel

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Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten, ein solches goethesches Weltkind bin ich gewesen oder geworden, von Propheten geleitet, von meinem Inneren her in Ängste und Rauschzustände versetzt, erlebte ich mich selber wie im Zentrum eines Wirbelsturms, ehe ich im Hafen des Erkennens und der Stille in unserer Landesnervenheilanstalt vorläufig zur Ruhe kam. Kein Mensch lernt gern, keiner arbeitet gern, und nur wenige finden Gefallen daran, sich befehlen zu lassen. Dies gehörte zu meinen kindlichen Einsichten; aber unglücklicherweise ruhen die Fundamente der Staaten just auf diesen drei Säulen, auf Bildung, Arbeit und Unterordnung. Es gibt sicher viele Arten, mit den Lebensproblemen fertig zu werden; man kann aufbegehren, kann sich fügen und in Stumpfsinn fallen; es ist eben doch nicht einfach, all die kleinen Individualisten gleichzumachen. Daher hat die Welt eine große Zahl didaktischer Systeme hervorgebracht. Hier ist zu bedenken, dass ich im Jahre meiner Einschulung 1942 erst oder beinahe schon sieben Jahre zählte; meine Erfahrungen waren auf den häuslichen Kreis verwiesen, und kulturell auf die kirchlichen Rituale beschränkt. Ich befand mich als Weltkind durchaus bereits in einem Zwiespalt, ohne diesen schon ganz zu empfinden. Um die spätere Erkenntnis hinzuzufügen; ich habe mich nie in einen Gewissenskonflikt hineinbewegen lassen, sondern alles genommen, wie es kam und mir einen Reim darauf gemacht oder, alles ging mir am Arsch vorbei, wie man heute sagt.

Bis hier war mein Dasein von den beiden Autoritäten Staat und Kirche in Gestalt der Tante Schuhschnabel und meinem Wahlvater Fabian bestimmt. Für den katholischen Laien ist die Ordo Missae ein Buch mit sieben Siegeln, eine Art Hokuspokus; mir war sie durch den regelmäßigen Messebesuch vertraut, die reine, abwechslungsreiche bunte gedankenlose mechanische Äußerlichkeit. Die jeweilige Präfation bis zu den Höhepunkten, etwa dem Offertorium, wenn der Messpriester Kraft seiner Weihe Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi verwandelt, was nebenbei bemerkt, den spottlustigen Jean Paul dazu verleitet hat, den Priester über Gott zu stellen, weil Letzterer sich nicht selbst erschaffen könne, was der geweihte Diener des Herrn jederzeit vollbringt, in der Tat ein Widerspruch in sich und reinste Scholastik.

Neben Großmutter in der Gebetbank kniend, nahm ich anscheinend gutgläubig auf, in Wirklichkeit aber kaum noch wahr, was vorn geschah, die verschiedenen geistlichen Gewandungen, Stola, Manipel und Zingulum, das zu den Handlungen gehörende Gerät, dem Kelchvelum, die Patene mit der Hostie, Korporale und Palla und lernte nebenher die lateinisch gesprochenen Begleittexte der Messe, das von der Gemeinde gesagte Judica me, Deus, et discorne causam maem de gente non sancte, vor dem nicht recht schaffenden Volk errette mich; oder das eindrucksvolle qui tollis peccata mundi, vom Lamm, das die Sünde der Welt trägt und so fort bis zum geläufigen Dominus vobiscum, von der Gemeinde gemurmelt. Erst durch die Übertragung ins Deutsche gewinnt das alles Sinn und wird als Symbolik vertraut. Meine Großmutter, eine reine Milieuchristin, hielt sich an Regeln, sie achtete streng auf die Formen, und ich verfolgte mechanisch, in Gedanken woanders, den Wechsel des Messpriesters und seines ministrierenden Gehilfen von der Evangelienseite auf die Seite der Epistel, oder umgekehrt, belauschte die neben mir kauernde alte Frau, saß oder stand, je nach dem es die Messregel erheischte. Da ich Hochwürden Fabian als Hausgenossen kannte und achtete, der übrigens Diakon und Domkapitular seiner Kirche war, mit dem Bild des Heiligen Sebastian neben dem Hauptaltar, dieses armen Märtyrers, dessen Körper sie mit Pfeilen gespickt haben, war er mir weniger als Geistlicher nahe, denn als Mensch, sah aber doch seiner Verwandlung in eine Art Gott und Priester mit Ehrfurcht an.

Insofern aber war meine religiöse Bildung in der Tat nach sechs Jahren unauffälliger Erziehung so gut wie abgeschlossen, ich hätte mich als einen vollkommenen Katholiken bezeichnen dürfen, weniger als einen gläubigen. Großmutter wünschte, mich nun sobald als möglich in der Firmung zu sehen, aus welchen Gründen auch immer, indessen mein Onkel Meister Fabian den Termin hinauszögerte. Nun mag manches für ihr Verlangen gesprochen haben meine Firmung zu betreiben; noch hielt zwar das Konkordat zwischen Nationalsozialismus und Vatikan, aber einzelne Konfessionsschulen waren bereits geschlossen worden, und der Krieg schien nicht so bald enden zu wollen. Niemand konnte das Danach der Wende vorhersagen, aber dass der Friede furchtbar sein werde, weshalb sie alle den Krieg genießen sollten; diese Lehre war weit verbreitet.

Was den Akt der Firmung selbst betrifft, so wurde sie für gewöhnlich vom Bischof vorgenommen, und sollte nur in Ausnahmefällen dem Priester überlassen bleiben. Aber ich hatte natürlich die schwarz gewandeten Bürschlein mit ihren Akkoluthen oder Beiwohnern verstört und trübsinnig wie Krähen in Reihen auf der Firmbank hocken sehen, bis sie der Bischof aufrief, ihre Stirnen mit dem Chrysamen bestrich, das Salböl mit der heiligen Watte wieder entfernte und die Firmlinge mit einer Formel auf ihren Lebensweg schickte: Ich bezeichne dich mit dem Zeichen des Kreuzes und stärke dich mit dem Chrysamen des Heiles, in nomine ... und so weiter, um nach dem Empfang des Backenstreiches mit dem Pax tecum weggeschickt zu werden. Es war das erste Mal, dass ich meinen Meister sozusagen kirchenamtlich in Stellvertretung des Bischofs beschäftigt sah und noch dazu mit mir, denn Großmutter hatte ihren Willen und meine vorzeitige Firmung durchgesetzt. So sprach er denn betont streng und ernst die Formel: Widersagt ihr dem Satan und all seiner Verführung, worauf wir, die kleine Schar Firmlinge, in corpore versprachen, ihm zu widersagen. Was im Anschluss daran, mit dem: sei besiegelt durch die Gabe Gottes, den Heiligen Geist und mit einem gemeinsamen Amen abschloss ... Hier bin ich etwas ausführlicher auf das Ritual eingegangen, weil, wer will, daraus entnehmen kann, dass die weltlichen Prozedere alle Form bei uns abgeguckt haben, und keinen geistig unvorbereitet in ihre Gemeinschaft aufnehmen, denkt man an die sogenannte Jugendweihe, die meine Kinder bekamen, natürlich neben Taufe und Firmung, wie sich von selbst versteht.

Dass ich ungefähr um diese Zeit Zeuge eines Gespräches zwischen Meister Fabian und meiner Großmutter wurde, war auch weniger dem Zufall geschuldet, als der Tatsache, dass sie mich noch für ein unschuldig dummes Kind hielten; in Wahrheit bin ich eher schon ein schlauer kleiner Teufel gewesen. Der Gedankenaustausch zwischen diesen beiden um meine vorgezogene Firmung bezog nämlich eine wichtige Person mit ein, die ich längst zum Familienkreis zählte, Doktor Wilhelmi. Es ging um mich, das heißt, um meine Abstammung, und es ging um die Rolle des Arztes in der Heilanstalt Puffenrode, viel mehr, um das Gerede darum in der Stadt. Ferner drehte es sich, wie ich aus späterer Einsicht hinzuzufügen habe, um eine Predigt des Berliner Bischof Preysing gegen die staatliche Beseitigung unheilbar Kranker aus unserer gesunden Mitte, also der sogenannten Euthanasie. Großmutter vermochte sich kaum etwas unter dem Begriff vorzustellen, wollte aber wissen, ob der Herr Neffe öffentlich Stellung zu den Tötungen nehmen würde, wie manch einer seiner Amtsbrüder, angesichts dessen, was sich eventuell in Puffenrode abspiele. Hierauf fragte Meister Fabian zurück, was sie denn eigentlich darüber wisse; falls nicht alles nur Gerücht sei oder das meiste daran. Vielleicht brachten sie ja nur die Kranken in dazu vorbestimmten Anstalten unter, um die Oberaufsicht über ihre Gesundung zu behalten. Übrigens aber seien die Einweisungen per Kleinfahrzeugen mit verhangenen Fenstern, die das Städtchen erregt hatten, seit dem Vorjahr eingestellt worden, was die Beschäftigung mit der Sache überflüssig mache. Man habe in Kreisen der Geistlichkeit zwar gelegentlich darüber gesprochen, sei allerdings zu der Auffassung gelangt und überein gekommen, keine schlafenden Hunde zu wecken, denn was einem Bischof nachgesehen, das stürze einen kleinen Pastor ins Verderben, zumal die Sache selbst durchaus nicht eindeutig zu beantworten sei.

Und sonst? Was er selbst meine, fragte sie, wie mein lauschendes Ohr aufnahm.

»Nichts und sonst«, hatte er kurz angebunden und unbeherrscht erwidert. Wenn er ihr erklären wollte, was die theologischen Autoritäten darüber gedacht und geschrieben hatten, würde es zu lange dauern, und sie würde es nicht verstehen. Probabilismus ließ er sich herbei, bedeute nämlich im Großen und Ganzen, dass es überhaupt keine ethische Entscheidung gebe, die an sich gut oder böse sei. Es stehe viel auf dem Spiel; die Tötung Geisteskranker werde also obrigkeitlich, soweit es die Kirche betreffe, stillschweigend geduldet, wenn nicht ausdrücklich erlaubt.

Der hochgeschätzte Leser, der natürlich mehr weiß, als der Autor zur Tatzeit begreifen konnte, mag sich damit trösten, dass ich den Inhalt dieses Gespräches nicht korrekt nacherzähle, sondern in Andeutungen und den Stichworten, wie sie der Geistliche in seinem Tagebuch festgehalten hat, das nach seinem Tode in meinen Besitz kam. Aber die Antwort meines lieben Wahlvaters enthält doch einen beruhigenden Fingerzeig; er sagte, Großmutter könne ganz gelassen bleiben, soweit die Angelegenheit mich, also Jakob, betreffe; ihn binde allerdings das Beichtgeheimnis, um mehr zu sagen. Sie könne ihm glauben, der Doktor werde alles ihm mögliche tun, um diesem Sohn, symbolisch und realiter beizustehen. Damit musste sich Großmutter wohl oder übel zufriedengeben und sie sagte, sie habe immer so etwas geahnt und sei keineswegs überrascht, falls er und sie ein und dasselbe meinten. Allein der Leser muss ebenso wohl oder übel darauf vertrauen, dass ich den Kern der Sache durchaus verstand.

Von der Euthanasie wurde überall in der Stadt gesprochen, meist zustimmend, weil es für die armen Idioten ja doch eine Erlösung sei, schmerzlos hinweggenommen und in eine bessere Welt versetzt zu werden. Und den ungebildeten und dennoch hoch geschätzten Leser mag es weiter trösten, dass ihn seine historischen Gewährsmänner und Lieblingsautoren, die Verfasser von gruseligen politischen Bestsellern mit der Behauptung hinters Licht führen, dergleichen sei einmalig und werde sich niemals wiederholen und keiner habe überdies etwas gewusst. Inzwischen hat sich die Massentötung weltweit durchgesetzt und uns, die wir im sicheren Hort sitzen, bleibt beruhigenderweise der verbale Protest gegen Unmenschlichkeiten anderer in anderen Weltgegenden.

Immerhin, Puffenrode war eine Realität und eine normale Klinik und Doktor Wilhelmi, den ich allerdings nach diesem erlauschten Gespräch mit anderen Augen sah, eben dort vielseitig tätig. All dies sollte in meinem Leben später noch eine Rolle spielen. Der Wunsch Großmutters, aus mir einen Firmling zu machen, und der Kopfschmerz, den ich meinem Hausarzt wegen des Gutachtens über meine zweifelhafte Herkunft bescherte, all das wurzelte nun einmal tief und schrecklich und höchst banal in der Zeitgeschichte. Zuletzt kam wie immer, alles ganz anders. Also Leser, wenn du auch ungern liest, oder höchstens in der Boulevardpresse nach sensationellen Kurznachrichten forschst, mach nur weiter im Text; du wirst etwas über uns beide erfahren, nichts Gutes zwar, aber wo gibt es das?

Nach diesen wichtigen Abschweifungen zurück zu meiner Einschulung in eine Volksschule der Stadt Müllhaeusen. Im Bezug auf die Schule als eine mächtige Einrichtung war ich vollständig ahnungslos; weder hatte mich einer meiner Angehörigen darauf vorbereitet, noch hätten mich ältere Geschwister oder Freunde, die das Fegefeuer bereits kannten, aufklären können. Bei der mir angeborenen Liebe zur Freiheit würde ich mich bis zum äußersten gegen den Zwang gewehrt haben, hätte ich gewusst, was sie dort mit mir vorhatten. Die Leiden jener, die morgens mit einer Ledermappe auf dem Buckel in Rudeln eilends und niedergedrückt einem burgähnlichen Gebäude aus rotem Backstein, eben der Schule, zustrebten, kannte ich ja nicht. Dem Kauf einer Schultasche, der Fibel und der übrigen Instrumente der mir bevorstehenden Folter sah ich zwar einfältig zu, hielt den Erwerb nur für überflüssig, nicht aber für bedrohlich. Probeweise versuchte ich mit dem Griffel Zeichen in den Schiefer zu kratzen, vermochte aber keine Leidenschaft für diese urweltliche Art der Kalligrafie in mir zu erwecken. Den Bilderchen in der Fibel war ich längst entwachsen; ich verstand allerdings, dass, wer die Buchstaben entzifferte, sich als lesekundig betrachten durfte. Wozu aber sollte ich erlernen, was alle anderen Leute schon konnten? Was mich an der Schule endlich doch begeisterte, war nicht das Lernen, sondern ihr lebendes Inventar, die Lehrer und natürlich, meine Schulkameraden! Niemals habe ich meine Lehrer gehasst, höchstens bedauert, und ich bin noch heute versucht, jedem Lehrer, jeder Lehrerin die Hand auf die Schulter zu legen und Mitgefühl mit ihrer verzweifelten Lage gegenüber den zum letzten entschlossenen Lernunwilligen zu bekunden. Beachte wohl geschätzter Leser, ich sagte Gattung Lehrer, denn ich vermochte vom ersten Tag an bei meiner Begegnung mit diesen Männern und Frauen wenig Individualität an ihnen zu entdecken. Gab es sie, dann war die Persönlichkeit ins Lächerliche, Schrullige oder Groteske verzerrt. Lehrer geboten freilich über Machtmittel ungewöhnlicher Art, von deren Existenz ich zuvor keine Ahnung gehabt hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben durfte mich ein mir fremder Erwachsener beliebig lange auf einen Stuhl bannen, und mir die unsinnigsten Dinge abverlangen und mich, der nie eine Ohrfeige, kaum einen Katzenkopf erhalten hatte, wenn es ihm einfiel, auch körperlich traktieren, wie das hin und wieder vorkam.

Um einen Begriff von meinem Tagesablauf zu geben; früh trieb mich Mama aus dem Bett und überwachte meine körperliche Reinigung, die ich in höchster Eile vorzunehmen hatte. Während ich dumpf brütend auf der Klosettbrille hockte, um meinen Darm zu erleichtern, und darüber nachdachte, was ich tun könnte, um mich der Schule zu entziehen, bereitete sie mein Frühstück. Nach dem hastig genossenen Brötchen verabreichte sie mir einen Judaskuss auf die Stirn; mir erschien er wie ein Verrat. Nein, er war Verrat! Danach jagte sie mich auf die Straße. Dort stand ich, wetzte die Füße auf dem Pflaster, bis sie herausstürzte und mich mit harten Worten weitertrieb. Rasch lief ich los, gesellte mich unterwegs zu meinen Leidensgefährten und schluckte vor dem Schultor die vom Frühstück gebliebene Bitterkeit hinunter. Das Schrillen der Schulklingel verursachte einen schmerzhaften und ganz überflüssigen Lärm; auf eine Viertelstunde mehr oder weniger wäre es bei der Länge eines Vormittags wahrhaftig nicht angekommen. Auf den harten Bänken sitzend, die Hände übereinandergelegt, erwartete ich jeden Morgen den Untergang des Universums. Ein Mann oder eine Frau trat herein, hieß uns herrisch aufstehen und Heil Hitler rufen. Hinter dem Katheder an der Wand hing ein Bild des Reichskanzlers. Täglich sah ich ihm in die Augen. Er schien zu fragen: »War das alles? Hast du mir keinen Brief geschrieben? Hast du mich nicht mehr lieb? Welches Geschenk wirst du mir heute machen?« Ich habe später oft der Macht, nein, verschiedener, vieler Mächte ins Antlitz geblickt, und bin das Gefühl nie ganz losgeworden, ihr immer etwas schuldig bleiben zu müssen. Da aber alles Gewohnheit ist, schickte ich mich bald in das Unvermeidliche, was nicht heißen soll, ich hätte mich unterworfen! Im Laufe der Jahre entwickelte ich Kraft genug, um die Macht zu unterlaufen, eignete mir das Rotwelsch der Bildungsanstalt an, und bekämpfte die Einrichtung Schule von ihrem eigenen Boden aus.

Ein Mensch namens Käsekorb unterrichtete uns in deutscher Sprache und in den Grundrechnungsarten. Das Lesen geschah vermittels der Fibel, das Schreiben auf der Schiefertafel mit einem grauen Griffel, der die Eigenschaft besaß, selbst einem leichten Druck nachzugeben und in mehrere Teile zu zerfallen. Er hinterließ grauweiße Spuren auf dem Schiefer, die sich leicht von selbst verwischten. Beide Geräte waren also eigentlich unbrauchbar, aber geeignet, Konflikte mit dem Lehrer heraufzubeschwören. Herr Käsekorb bevorzugte die Methode des kollektiven Lesens. Wir mussten die entsprechende Seite der Fibel aufschlagen und ihm nachsprechen: O-ma, O-pa, Ma-ma, O-ma und O-pa, Ma-ma und Pa-pa ... und so weiter, um eine Probe der didaktischen Kunst jenes Lehrers zu geben. Ich war zufällig nach vorn gesetzt worden und durfte wie jeder andere meinen Platz ohne Erlaubnis Käsekorbs nicht verlassen oder wechseln. Daran lag mir auch bald nichts mehr, obgleich ich zuerst lieber hinten gesessen hätte, um nicht aufzufallen. Es ist das alte Lied; in der Höhle des Löwen ist man noch immer am sichersten, oder wie ich später lernen sollte, periculosa in securitas; in der Gefahr lag auch hier Sicherheit. Nicht dass Lehrer Käsekorb einem Löwen ähnlich gesehen hätte, im Gegenteil. Beim Unterricht trat er vom Katheder herunter vor mich hin und bot einen wahrhaft exotischen Anblick. Bei seinen Monologen über die Unarten der Kinder und über die Mittel, sie zu züchtigen, schweiften seine Blicke langsam im Raum umher, blieben bald hier, bald dort haften, bis sie an der Decke zur Ruhe kamen. In diesem Falle sah ich das Unterste seiner gelblichen Augäpfel und die üppig wuchernden Haare in seinen Nasenlöchern. Einem Pesthauch gleich wehte sein Atem über mich hin, der die wunderbare Eigenschaft besaß, den Geruch aller Speisen und Getränke, die der Lehrer Käsekorb genossen hatte, auszuströmen. Ich drehte und wendete mich, um diesem Dunst zu entrinnen, aber der Lehrer legte mir seine Hände auf die Schultern und hielt mich eisern fest. Auch Käsekorbs Sprache war absonderlich; immer hatte ich Mühe, die stimmhaften von den stimmlosen Konsonanten zu unterscheiden, denn der Lehrer litt unter einem doppelten Sprachfehler. Er stieß nicht nur mit der Zunge an die Zähne des Oberkiefers, was einen Zischlaut ergab, sagte also ßwei, statt zwei; er war überdies auch der Aussprache des K nicht mächtig und bildete aus dem Wort Knie eine Vokabel, die sich wie Gnie anhörte, schriftsprachlich kaum abzubilden. Am meisten beschäftigte mich sein Name. Dazu brauchte ich meinen Lehrer gar nicht zu sehen. Selbst geringe Anlässe genügten, um Anfälle von Heiterkeit bei mir auszulösen, zum Beispiel der Anblick von altem Käse oder der eines Korbes. Harzer Käse inspirierte mich zu Hohngelächter über den Mann Käsekorb; ich verstand, dass mir dieses Gefühl half, mit dem Schrecken fertig zu werden, den Käsekorb verbreitete, der kein gemütlicher Mensch gewesen ist. Etwas lächerlich zu machen bedeutet immer den Versuch, Angst zu überwinden. Deshalb werden in Diktaturen auch die Kolporteure harmloser Witze über die Mächtigen eingesperrt, und die Sänger von höhnenden Liedern über die Schwächen autokratischer Systeme davongejagt. Umgekehrt haben die Präsidenten und Minister verstanden, dass es ihnen nicht an den Kragen geht, wenn sie die dumme Auguste gewähren und ihre Pamphlete trällern lassen, sondern dass solche Kritik sie volkstümlich macht und ihre Einrichtungen eher stabilisiert als stört.

Der Dissident ist immer auch ein Teil des Machtgefüges, ohne es zu ahnen. Selbstverständlich finden sich auch genug Schreier, die einem Autodafé Beifall klatschen und sich der Macht bei solchen Gelegenheiten schmeichlerisch anbieten. Seume sagt darüber kurz und bündig, aber zutreffend: vor dem Liede zittern die Tyrannen ... Käsekorb war also alles andere als lächerlich. Er pflegte Vergehen mit einem dünnen federnden Rohrstock zu bestrafen, indem er mit kurzen geübten Hieben über die Fingerspitzen kleiner Kinder schlug. Unter seiner Anleitung kratzte ich mit dem Griffel Schriftzeichen auf die Schiefertafel, bemüht, ihn nicht zu zerbrechen, und schrieb sütterlinschriftliche, bald auch lateinische Buchstaben in ein Heft. Diesem Lehrer verdanke ich auch erste Kenntnisse im Subtrahieren und Addieren und die Reihen des kleinen Einmaleins, ließ mich aber auch in die Irre führen und nahm alles genauer als nötig, schrieb ßwei statt zwei, weil Lehrer Käsekorb verlangte, wie man's spricht, nur sprach er es eben anders, als man schrieb.

Nach den ersten großen Ferien trat er vor die Klasse und malte ein Wort an die Tafel, mit dem Befehl, es sich zu merken. Hinfort redeten wir ihn als Herr Caskorbi an. Mit dem Namen Käsekorb schwand der ihm anhaftende Geruch. Allerdings verlor der Lehrer Caskorbi nach seinem Namenswechsel für mich menschlich alles Interessante. Gleichgültig sah ich seinen Auftritten entgegen und verstand es auch bald, mich seiner Tyrannei zu entziehen und ihn als einen unberechenbaren und gefährlichen Trottel mit Vorsicht zu behandeln.

Der Pedanterie einer alten Jungfer blieb es vorbehalten, mir die Musik für einige Zeit zu verleiden. In ihren Adern schien kein Blut zu rollen, sondern ein Gemisch aus Wasser, Säure und Bitterstoff. Wenn Fräulein Krebs den Kopf nach hinten oder zur Seite warf, so flogen ein paar Ohrgehänge wie aus einer Schleuder mit herum, sodass ich immer fürchtete, sie müssten ihre Ohrläppchen, die freilich ungemein lang herabhingen, zerreißen. Sobald sie uns zum Singen aufrief, schlich sie durch die Reihen, den Kopf vorgestreckt, um einen Brummer zu erwischen. Die Geige wie eine Wippe unter den Arm geklemmt, den Bogen zum Kampf gegen die Kinder gezückt, blieb sie bei diesem oder jenem stehen, und stieß misstönende schrille Rufe aus. Das gepeinigte Kind sang lauter und demzufolge falscher, was die Lehrerin veranlasste, es je nach Geschlecht als einen Ochsen oder als eine Kuh zu bezeichnen. Kühe allerdings hatten wir keine in der Klasse, weil die Einrichtung in Geschlechtern getrennt war. Zur Strafe musste der Brummer allein singen, was allemal kläglich ausfiel, denn man kann einen Menschen zwingen Steine zu klopfen, ihn aber nicht zum harmonischen Singen bewegen. Meine schlechten Noten in Musik konnten sich meine Angehörigen nicht erklären, denn zu Hause sang ich wie eine Lerche und bin wie erwähnt auch zur Verstärkung des Laienchores als Kindersopran herbeigezogen worden, einmal sogar als Aushilfe bei der Oper als einer der Drei Knaben in der Zauberflöte des Musikmagiers Wolfgang Amadeus.

Am ehesten zu ertragen war der Turnlehrer, der eine Trillerpfeife zwischen den Zähnen hielt, wenn er uns im Laufschritt durch die Turnhalle trieb, in einem verblödenden Trab, bei dem wir uns anrempelten und mit den Ellenbogen stießen, froh, uns bewegen zu können. Der aufmerksam gewordene Lehrer pfiff Protest und brachte uns wieder zur Ordnung. Er verschmähte es zu prügeln, zog aber körperbegabte Menschen in auffallender Weise vor. Ich hatte das Glück, meine Gliedmaßen gut zu beherrschen; auch gefielen mir die Leibesübungen am Turnreck und an der Kletterstange, sie kamen meinem Drang nach Bewegung entgegen. Fröhlich schwang ich meinen dürren Leib zwischen den Holmen des Barrens, und Lehrer Marx, so hieß er, sah es mit Wohlgefallen. Andere Pädagogen gab es in der sogenannten Volksschule nicht, als die, von denen ich berichtet habe; sie sind Plagen genug gewesen.


Endlich machte ich die Bekanntschaft anderer junger Menschen und zog einen großen Nutzen daraus. Da einige meiner Jugendfreunde den Leser durch meinen Bericht begleiten werden, sollen hier erste Beschreibungen ihrer Vorzüge und Schwächen folgen.

Zuerst aber muss eine kurze Bilanz gezogen werden. Es war nicht zu leugnen und gab nichts zu beschönigen, im Ganzen bereitete mir die Schule kein Vergnügen, und da ich sie nicht lieben konnte, rächte sie sich mit miserablen Zensuren. Das wiederum regte meine Familie zur Kritik an. Wieder fielen negative Äußerungen über meinen abwesenden und fraglichen Vater, Worte, deren Härte und Feindseligkeit mich befremdeten. »Er wird genauso faul wie der Argentinier«, hieß es über mich. »Was hat er denn eigentlich geleistet, dieser sogenannte Argentinier? Staubsauger verkauft hat er! Ein Vertreter also, haha!«

Zu jener Zeit wurden die Kinder zu Ostern eingeschult. Wir arbeiteten uns einige Wochen lang bis zu den großen Ferien hindurch ab, die allerdings kürzer waren als heute und etwa im Juli begannen. Wir vergessen leicht, ich habe schon darauf hingewiesen, dass Kinder einen anderen Zeitbegriff haben als wir, die Erwachsenen, deren Tag aus vielen Gründen kürzer ist. Unseren kleinen Brüdern und Schwestern wird der Vormittag manchmal sehr lang, entweder weil er Gutes, oder aber weil er Schlimmes birgt. Jedenfalls ist ihr Tag so lang wie unsere Woche, sie trödeln, wo wir eilen. Ein Jahr ist ihnen wie eine Ewigkeit, uns vergeht es im Fluge. Aber sie lernen an einem Tag auch mehr als wir in vier Wochen. Als ich an der Hand Mamas auf dem Schulhof stand und der Einweisung in den Schultag harrte, waren mir ein paar Jungen aufgefallen, deren gediegen, bürgerlich Äußeres, so will ich es nennen, auf eine innere Verwandtschaft zu mir schließen ließ. Des Umganges mit Erwachsenen war ich etwas überdrüssig; ihre Schrullen, ihre Heuchelei, ihre tiefe Verlogenheit und Rechthaberei kannte ich schon, sie boten mir nichts Neues. Mich dürstete es nach der Reinheit von Kindern. Auf Geschwister durfte ich nach Lage der Dinge nicht hoffen, obschon meine arme Mama sich anlässlich der Siegesfeier wegen ihres nächtlichen Ausbleibens strenger Kritik durch Großmutter ausgesetzt sah.

Die Namen meiner künftigen Freunde seien hier feierlich mitgeteilt: Jan Links, Artus Hengst, beziehungsweise Pflaumenbaum, zuletzt Prunicaeus und Karl Kniri. Später kam noch der Freiherr Ehrenfried von Schramm hinzu, den ich an der passenden Stelle einführen werde. Bis in diese Tage hinein haben unsere Beziehungen gehalten. Deshalb gehören ihre Namen auf die Ehrentafel der großen Männerfreundschaften, etwas durchaus Seltenes, wie jeder zugeben wird.

Jan war der Sohn des Kaffeehausbesitzers Links, welcher sein Geschäft am Rande des Marktes betrieb, und zwar mit erheblich ökonomischem Erfolg und kulturellem Nutzen. Jan schienen am Tag unserer Einschulung ähnliche Gefühle wie mich zu bewegen, die Gleichheit unserer Schicksale band uns von vornherein aneinander. Wie ich zählte auch er zu den Schwachen, das heißt also zu den begabteren Schülern, mit denen keine Schule je etwas anzufangen gewusst hat, eben weil sie alle Kinder gleichmachen will und muss. Von Gestalt war er mir ähnlich, die Handgelenke schmal und die Finger lang und grazil. Sein bräunlicher Teint und das dunkle Haar ließen brüderliche Zuneigung zwischen uns entstehen, denn ich besaß ähnliches Haar und ähnliche Augen, die allerdings, anders als seine, asiatisch geschlitzt waren. Wir übten uns im Kampf und galten bald als Raufbolde. Selbstredend kam ich ihm zu Hilfe, wenn er im Gefecht mit anderen zu unterliegen drohte, wie umgekehrt er mir in kritischen Lagen beistand. Nach den anfänglichen Erfahrungen der morgendlichen einsamen Schulgänge warteten wir aufeinander und berieten unterwegs die Strategie, unsere Lehrer zu hintergehen, oder uns kleine Vorteile über sie zu verschaffen. Es verband uns noch etwas anderes, die edle Musica. Jan spielte schon meisterhaft auf dem Klavier in seinem Zimmer oder auf dem Stutzflügel im elterlichen Café. Manch ein Musikliebhaber hielt sich seinetwegen länger dort bei einer Tasse Kaffee auf. Übrigens konnte Jan für älter gelten, er war ein frühreifer Mensch und stritt sich nie mit den Lehrern, er trug während der vier Jahre Volksschule eine schöne Überlegenheit zur Schau; seine unkindliche Arroganz empörte natürlich die Aufseher, und er errang demzufolge immer schlechtere Noten in den allgemeinen Fächern. Wenn ich mich eben als Raufbold ausgab, so bedarf es dazu einer Anmerkung. Im Grunde genommen schreckt meine Natur vor der körperlichen Gewalt zurück. Aber ich war einer jener Taugenichtse, die aus einer Meute heraus Überfälle provozieren, was meine Feinde als heimtückisch bezeichneten, nicht bedenkend, wie hinterlistig sie selbst waren. Aufs Ganze betrachtet und vom Standpunkt der Erwachsenen aus, handelte es sich um harmlose Rangeleien unter Jungen, um jenes Balgen, das nötig ist, um Kräfte zu messen und eine Rangordnung zu entwickeln. Allein es zeigten sich doch unterschiedliche Anlagen, und ich bin überzeugt, dass sich in unserer Schülerklasse auch Kinder befanden, die viel gelassener, also viel blöder und eintöniger dahinlebten. Durch Jan Links wurde ich ins Kaffeehaus eingeführt. So wie mich das Innere einer Kirche zu erheben und zu berauschen vermochte, so rasch geriet ich in den Bann dieses weltlichen Etablissements. Auf den runden Marmortischen befanden sich Ascher und jeweils ein kleiner silberner Ständer mit der Nummer des Tischchens. Die Stühle waren dunkel gebeizt und die Wände mit einer schwarzen Täfelung versehen. Neben diesem Braun und Schwarz herrschte Grün vor, das Glas der Türen war grün, die Samtbezüge der Sofas in den Seitennischen ebenfalls, und überall fanden sich die so eigenartig geschnörkelten Schriftzeichen der Jugendstilepoche. An einer Seite, fast die ganze Wand einnehmend, stand das Büfett, im Ton wie das andere edle Mobiliar gehalten, aber durch blitzende Spiegel, Gläser und Kristall herausgehoben. Die Kasse war durch Herrn oder Frau Links ständig überwacht, während ein Schwarm junger Mädchen in kurzen schwarzen Seidenröckchen, so kurz wie es der damalige Sittlichkeitsbegriff der Provinz erlaubte, und weißen Servierschürzen zu passenden Häubchen die Gäste mit Kaffee und Kuchen, Likören und Wein versorgte und durch gefälliges Lächeln zum Bleiben ermunterten. An den Nachmittagen bis in die Abendstunden hinein saß ein Pianist vor dem Stutzflügel und bot, was man Kaffeehausmusik nennt; in das Tröpfeln der Töne mischte sich leises Klingeln der Löffel an Tassen oder Tellerrändern. Manchmal stieg ein Lachen von einem der Tische auf, und jedenfalls schwebte über alledem der Zauber einer trägen, vom Nichtstun gekennzeichneten lasziven Welt, einer Welt zwischen den Zeiten. Denn noch war beinahe alles wie es zuvor gewesen, zumal in einem Provinzcafé, dessen Chef viele Beziehungen zu den Lieferanten aufrechterhielt.

Als Freund des Hauses genoss ich hohes Ansehen bei den jungen Dienerinnen, die mir Schokolade servierten, mich anlächelten oder mir rasch über den Kopf strichen, wenn Herr Links herübersah. Sie rochen nach Kaffee, nach Parfüm, ihre Lippen waren schön rot und ihre Frisuren bunt gefärbt und zu Wellen und Löckchen aufgesteckt, obschon eine solche Aufmachung staatlicherseits ungern gesehen wurde. Das Haus Links hielt auf sich; es war auch das erste am Platze und erfreute sich großen Zuspruches durch die städtischen Amtsträger. Alle diese halb uniformierten Mädchen wurden mit Vornamen gerufen; sie hießen Elli oder Wally, und mein Ohr entnahm ihren Namen den Klang der Liebesfanfaren; etwas herablassend Respektloses schwang im Ruf des Kunden nach einem der Mädchen mit, das nicht seine Tochter und doch keine Prostituierte war. Ich will damit nicht sagen, dass es im Café am Markt unordentlich zugegangen wäre, im Gegenteil, die Firma Links war viel zu sauertöpfisch, um ein Bordell zu dulden. Nein, es war Provinz, die halbe Wahrheit, die ganze Heuchelei, der hohle Schein, der sich spreizte, wenn auch nur Kaffee, Sachertorte und die Tröpfeltöne eines Klaviers geboten wurden, abgesehen von dem, was hinter den Kulissen geschah.

Ich saß also gern im Café Links und sog den Geruch der Sünde ein, ohne recht zu wissen, worin sie bestand. Im Übrigen erschienen mir alle diese Mädchen wirklich schön. Mein Meister Fabian, der selbst gelegentlich einen Kaffee mit Kirsch im Etablissement Links zu sich nahm, mochte die eine und andere der Mädchen seelsorgerisch betreuen und ihre Geheimnisse kennen. »Diese hier sind ohne Zweifel den Engeln Gottes verwandt«, sprach ich wohl spöttisch, auf die Dienerinnen des Hauses weisend, deren kleine Hintern unter den kurzen Röcken wackelten, was einen entzückenden Anblick bot. Mein Meister brach in ein helles Gelächter aus. Er lachte Tränen und konnte sich kaum beruhigen, bis die Mädchen ängstlich herüberblickten, ahnend, dass eine von ihnen der Anlass für den priesterlichen Heiterkeitsausbruch gegeben hatte. »Ich habe anscheinend einen Muselmann aus dir gemacht«, sagte er, sich die Lachtränen abwischend. Ich forschte nicht weiter nach, was seine Bemerkung bedeute, war aber verstimmt über seine Ignoranz.

Von dieser Kinderfreundschaft zwischen mir und Jan profitierte Großvater übrigens schamlos. Häufig gab er vor, mich aus dem Café abholen zu müssen und besuchte in Wahrheit Herrn Links, seinen Freund, um sich einen anzutrinken. Wenngleich auch die Stadt nicht gerade ein Sündenbabel gewesen ist, so war sie doch lebensfroh und sinnlichen Genüssen gegenüber offen. Und so sah ich denn staunend Großvater und den Erzeuger meines Freundes Jan gelegentlich zum Trinkgelage schreiten. Manchmal nahm mich Großvater allerdings beiseite und trichterte mir eine seiner faulen Ausreden ein. Die alte Frau vertrug eine ganze Menge Schwindel, freilich nur, um ihm die Kandare um so fester anzuziehen. Anders Mama. Sie lechzte selbst zu sehr nach dem freien Leben, als dass sie Großvater und mir die Kumpanei verzeihen konnte. Sie stimmte ihre Leier immer öfter auf den moralisierenden Ton. »So fängt es an! Ich erkenne den schlechten Charakter seines Vaters wieder! Ich will nicht sagen, dass Jakob ein Alkoholiker ist, aber jung geübt, alt getan«.

»Nun«, sagte Großmutter, »er trinkt vorläufig meistens Milch oder Schokolade. Aber schon recht; er ist eben ein Mann oder er wird es einmal werden, und dir hängen wohl nur die Trauben zu hoch«. Worauf Mama leise aufschrie und nach Paris oder Eisenach zu ziehen drohte; ich wiederhole mich, allein nur, um der Wahrheit zu dienen. Um Mama gab es mehr als ein Geheimnis; sie hätte dienstverpflichtet sein müssen, wie alle Frauen jener Kriegszeit, allein sie bewarb sich heimlich um eine Stelle beim Luftfahrtministerium in Berlin, wovon Großmutter nichts ahnte. Anders hätte sie es zu verhindern gewusst, dass ihre Tochter Nachrichtenhelferin und Blitzmädel werden wollte.

Mit meinem zweiten Freund trat ein andersgearteter Mensch als Jan Links in mein Leben. Zu Jan fühlte ich mich innerlich hingezogen, Karl flößte mir Respekt und den Wunsch ein, mich zu seinen Freunden zu zählen. Sein Vater, pensionierter Oberstudienrat und Witwer, lebte mit einer schwerhörigen Wirtschafterin in einem einsamen Haus am Berg und dem Waldrand, sodass Karl einen ziemlich weiten Schulweg hatte, was der Entwicklung seiner Beinmuskeln zugutekam. Die halbtaube Aufwartefrau des Alten führte ihnen die Wirtschaft und sorgte für das körperliche Wohl der beiden Männer. Ich habe sie im Übrigen sehr selten gesehen; sie wirkte gleichsam lautlos in diesem Haushalt. Karls Talente lagen auf dem Gebiet der exakten Wissenschaften, vorerst der Biologie; er sammelte Käfer und Schnecken, spießte Schmetterlinge auf Stecknadeln, und studierte ihren Todeskampf. Die Leichname pflegte er, mit einem Schildchen und dem lateinischen Namen zu versehen, und in Kästchen aufzubewahren, die oben verglast, einen Blick in die tote Welt der schönen Flattertiere gestatteten. Die Schrullen der beiden, Sohn und Vater, gingen auf Kosten der übrigen schulischen Leistungen Karls, zum Beispiel lernte er es nie, schön zu schreiben, aber Schönschreiben war ein Unterrichtsfach. Übrigens störte das den alten Schulmann keineswegs; unbeirrt unterwies er den Sohn nach eigenen Regeln und Systemen und führte Krieg mit den Volksschullehrern, bereitete er doch seinen Filius auf eine naturwissenschaftliche Laufbahn vor, was nicht Sache der Volks- oder Gemeindeschule gewesen ist. Die Autorität des Alten entschied; ohnehin würde Karl bald umgeschult werden.

Das Haus der Kniris lag wie gesagt an einem Hang, gleich dahinter stieg ein Berg steil an, bis tief hinunter mit Tannen bestanden. Eine harzige reine Luft verströmte der Wald, von den Wiesen stiegen im Frühling und Sommer die Düfte üppig wachsender Wildkräuter auf. Vom Fenster des großen Wohn- und Arbeitszimmers aus konnte man in der Ferne die Heilanstalt Puffenrode sehen, in der, wie es hieß und wie oben angedeutet, eigenartige Dinge geschehen sollten. Das Arbeitszimmer war bis hoch unter die Decke mit Bücherregalen vollgestellt. Auf Ständern und Konsolen befanden sich aufgeschlagene Werke, Atlanten und Himmelsgloben. Jeder Quadratzentimeter des Zimmers sprach vom Bemühen um Wissen und um Erkenntnis. Auch das war Provinz, wie ich fühlte oder zumindest ahnte, das Studierzimmer eines strebenden einsamen Johann Faust. An seinem Schreibtisch las und schrieb der Oberstudienrat, ein rüstiger Alter mit weißem Haar, stehend glich er einem hageren Riesen mit buschigen Brauen und blitzenden Augen. Über sich kreuzenden Schlägern des Alten hing das Zeichen seiner Korporation Thuringia. Seinem Studiertisch stand Karls Tisch gegenüber, mit Bunsenbrenner, einem Mikroskop, vielen Petrischalen und verschiedenen physikalischen Geräten, den Reagensgläsern in ihren Ständern. Eines nachmittags, stellte Karl eines seiner Präparate her, und ich musste ihm assistieren, indessen Hochwürden Fabian, der aus irgendeinem Grund mit herausgekommen war, sich mit dem Alten unterhielt. Sachverständig zog Karl einer großen haarigen Raupe gleichsam den Rock aus, das heißt, entfernte deren Inneres vorsichtig durch den After, und blies die Hülle vermittels eines dünnen Strohhalms auf; danach trocknete er den Balg vorsichtig über der Flamme des Brenners. Mein Meister Fabian, mit dem Alten eng befreundet, bemerkte missbilligend: »Ei, Commentatore, fürchtest du nicht, dass er zu jung ist für diese Dinge?«

»Das wissenschaftliche Experiment ist nicht mit den Maßstäben des Pöbels zu messen; wie du wohl weißt, heiliger Vater. Was die Kreatur betrifft, so ist ihr Tod völlig belanglos und einem höheren Zweck geopfert. Das gilt für Pflanzen, für Tiere wie für Menschen«. Allein Hochwürden schien diese Antwort nicht zu befriedigen. Schweigend wiegte er den Schädel hin und her. Als Karl seine Raupe gedörrt hatte, überzog er sie mit farblosem Lack, und steckte den Balg auf eine Nadel. Er brachte das Präparat an dem ihm vorbestimmten Platz in einem seiner Kästchen unter, verkündete Namen und Kategorie des Präparates, und der Vater lächelte anerkennend, »Schon recht, Filius; sine ira et studio.«

Zu unserer Clique gehörte halb und halb Artus Hengst. Sein Vater arbeitete in subalterner Stellung beim Magistrat, und die Familie Hengst-Pflaumenbaum, das heißt, Vater und Sohn, lebte in einem argen und kargen Mietshaus am Stadtrand, einer Penner- und Bettlergegend. Die Verhältnisse waren mir unklar; anscheinend teilten sich die Elternteile den Jungen. Die Mutter, die ich nie zu Gesicht bekam, vielleicht weil sie gar nicht mehr in der Stadt lebte, hatte den Namen Hengst als ihren Mädchennamen wieder angenommen und auch Artus lief als ein Hengst herum. Es mag übrigens auch das Schutzbedürfnis eine Rolle gespielt haben; die Sache war die, dass sich Frau Hengst von dem Mann Pflaumenbaum hatte scheiden lassen, weil dieser als Staatsfeind im Konzentrationslager untergebracht werden musste, um unserer aller Ruhe willen; auf Antrag war ihr der Mädchenname Hengst zugebilligt worden, da sie arischen Ursprungs, und ihr Sohn hieß fortan in den Dokumenten ebenfalls Hengst. Weshalb ich ihn als Freund bezeichne, hat einen besonderen Grund. War er nicht unser Intimus, so wurde er doch bald unser Rivale, als einer jener getreuen, zuverlässigen Feinde und Wegbegleiter, bei denen man immer weiß, woran man ist. Seinerzeit haben wir von ihm nie etwas Gutes erhofft, ihm aber nach Kräften mitgespielt, bis er unser Meister wurde, wodurch? Nun, durch die Wende vom Nationalsozialismus zum Sozialismus, durch unser deutsches Schicksal, dem Allmächtigen Chronos im besonderen Maße unterworfen zu sein.

Was Artus damals zu uns trieb, war der Wunsch nach einem bürgerlichen Dasein in Glück und Wohlstand. Den Namen Hengst trug er zu recht, weil er immer in Eile schien, hin und hertrabend, als entgehe ihm etwas. Er war ein Frühauf, um uns am Morgen frische Semmeln zu bringen, also unsere Leinenbeutel an den Haustüren mit frischem Gebäck zu füllen, damit uns nichts ermangele. Der geschätzte Leser wird einmal mehr finden, dass diese Darstellung viel zu hoch gegriffen ist, da es sich um Kinder zwischen sechs und sieben Jahren gehandelt hat. Dass gewöhnlichen Menschen täglich frisches Gebäck gebracht wurde, ei, wo gab es das denn! Gewiss, das gab es; ich stütze mich auf die Erfahrungen meines Lebens. Latscht ihr nur in die Märkte und kauft etwas, dass aus einer Fabrik kommt und den Namen Brötchen trägt! Und nennt es Fortschritt!

Von diesen Gefährten meiner Kindheit wird viel die Rede sein, deshalb war es notwendig, erste kurze Porträts von ihnen vorzulegen.

In das Jahr AD 1941 zurückgreifend, will ich hier noch von meiner schwersten Krise berichten, die sich in der Woche vor dem 22. Juni 1941 einstellte. Besorgt verabreichte Doktor Wilhelmi schmerzstillende Mittel, auch mein Meister Fabian wachte an meinem Bett, Mama ablösend, und notierte für sie, was er durch Fragen aus mir herausbrachte. Mir stehen also zwei verschiedene Deutungen in ihren Tagebüchern zur Verfügung. Von heute aus gesehen, könnte man meinen Anfall als Wendefieber oder als Wechselfieber bezeichnen. Rascher als gewöhnlich und zum Erstaunen meiner beiden Pfleger, die sich an meinem Krankenlager einmal nicht stritten, sondern in wirklicher Sorge um mich gewesen sind, gesundete ich bald. Was mir aus dem Tagebuch Mamas und in meiner Erinnerung an jene schweren Stunden meiner Krise bekannt ist, bleibt merkwürdig genug. Mir scheint es von besonderem Interesse, darauf hinzuweisen, dass ich damals in einen telepathischen Kontakt zu einem Soldaten der Wehrmacht mit Namen Liskow getreten sein soll, der sich, von Beruf Arbeiter in einer Möbelfabrik zu Kolberg, am 21. Juni 1941 von seiner Wehrmachtseinheit, der 74. Infanteriedivision, die an der polnisch-sowjetischen Grenze lag, kühn, aber entschlossen und eigenmächtig entfernte. Um den Weltfrieden besorgt, schwamm jener über den Bug, um die Offiziere der Roten Armee am anderen Ufer vor dem bevorstehenden Einmarsch der Wehrmacht zu warnen. Anschließend kämpfte er klassenbewusst in ihren Reihen und fiel, wie ich annehme und für ihn hoffe, denn was aus ihm wurde, ist unbekannt.

Ich hätte ihn gern kennengelernt und solidarisch die Hand gereicht und ihm von meinem Traumgesicht erzählt, beziehungsweise ihn nach seinen Gesichten und Traumerfahrungen befragt, denn wir sind Verwandte im Geiste gewesen. Wer mir nicht glaubt, der kann den historischen Fall im Lexikon der Geschichte recherchieren. Zu diesem mir völlig unbekannten Mann trat ich also in ein kurzes, aber inniges telepathisches Verhältnis, sah ihn in jener Sommernacht zum Fluss wandern, dessen Namen ich nie gehört hatte, sah ihn die Uniform ablegen, die ihn beim Schwimmen behindert hätte und entschlossen ins Wasser steigen. Sogar seinen Übergang zur andern Seite verfolgte ich mit innerem Auge, wohnte dem freundlichen Empfang durch einige sowjetische Offiziere bei, hörte sie Angstrufe ausstoßen, als ihnen der Soldat Liskow das Geheimnis anvertraute das der großen Wende in den Beziehungen der beiden Paktmächte. Alle, die mein Schmerzenslager umstanden, hörten mich wiederholt und sorgenvoll den ihnen unbekannten Namen hervorstoßen. In Mamas Tagebuch steht jedenfalls eine Notiz, die deutlich macht, wie verstört alle gewesen sind und sich fragten, wie es nach der Botschaft Liskows weitergehen würde, im Gang der Geschichte. Nur meine Großmutter Clara Katharina soll gesagt haben: »Dieser Lümmel hält uns alle mal wieder zum Narren; was bei solch einer verrückten Mutter kein Wunder. In der Tat wird es Krieg mit den Russen geben, aber wenn es jedermann weiß, warum ist es dann ein Geheimnis?«

»Womit Sie es getroffen haben«, trat ihr mein Meister Fabian beipflichtend an die Seite. Der Arzt schaltete sich ein. »Jedenfalls schließt die Wissenschaft telepathische Fähigkeiten nicht grundsätzlich aus, verehrte Frau Ponte. Wie sie zustande kommen, ist eine andere Frage. Es ist nicht seine Schuld, wenn wir Jakob nicht begreifen«.

»Na, sehen Sie«, sagte der Geistliche zufrieden und legte mir die Tatze auf die Stirn. »Schritt für Schritt kommen sich Geistlichkeit und Atheist näher«

»Aber ich finde es sehr anstrengend, einen Hellseher im Hause zu haben«, soll Großmutter geendet haben. Mamas Tagbuch ist gelegentlich recht genau, wie der gutgläubige Leser sieht, womit mir die Sicht auf jene Zeiten erleichtert wird. Anderen Tags aber war mein Traum Wirklichkeit. Deutschland befand sich im Krieg mit Russland! Mit der Sowjetunion. Die mündliche Überlieferung der Ereignisse um den Soldaten Liskow wurde allerdings erst Jahre später von den politischen Historikern nutzbringend aufgegriffen. Zu diesem Liskow gesellten sich unzählige Mahner und Warner, dass ich mir die Freiheit herausnehmen darf, mich unter sie wegweisend weiter vorn einzureihen. Ich musste hier darüber wahrheitsgetreu berichten als einem weiteren Beispiel meiner Kunst, auch wenn sich später herausstellte, dass es überall Liskows gab, die Bescheid gewusst haben, dass es geradezu von ihnen wimmelt. Nach dieser wichtigen Einlassung darf ich in der Schilderung meines Lebens fortfahren. Hier haben Sie ein Beispiel wie man Geschichte schreibt, hätte hierzu Voltaire bemerkt.

Ich hatte endlich und nach überraschend kurzer Zeit lesen gelernt hatte. Aber ich dachte gar nicht daran, bei den Kinderbüchern, die sie mir kauften, stehen zu bleiben, obschon ich einige las. Einen Mann namens Sigismund Rüstig lernte ich kennen und blätterte seine Geschichte flüchtig durch, fand alles zuerst recht spannend, bemerkte aber noch rechtzeitig die versteckten erzieherischen Zwecke hinter diesem ehrlichen, arbeitsamen und wahrheitsliebenden, leider etwas doofen Menschen.

Den Höhlenkindern im heimlichen Grund folgte natürlich Robinson Crusoe und Gullivers Reisen, das heißt die für das kindische Eiapopeia zurechtgestutzten Fassungen. Es handelte sich, wie ich ahnte bei dieser Art Bücher um ein listig hergestelltes moralisches Gemisch, um die kindliche Lust am Abenteuer auszunutzen. Der Wunsch, die Welt durch außerordentliche Leistungen zu überraschen, wurde hier wie auch in anderen Kinderbüchern, die mir zugänglich waren, mit dem Zuckerwerk des erwünschten Verhaltens zu einem süßen Brei verrührt. Instinkt und Beobachtung sagten mir, dass die wirkliche Welt um manches ärgerlicher, ungerechter und grausamer war als dieses von weggelaufenen Lehrern geschriebene Zeug. Ich brauchte nur in ein Kino zu gehen, um die Wirklichkeit zu erkennen; in der Wochenschau bekamen kleine Jungen nicht bloß einen Husten, den Mama und Papa mit ein paar Tropfen Honigsirup heilen; sie bekamen nicht den Klaps auf den Hintern, sondern den Fangschuss, ihre Leichen wurden in Reihen hingelegt und wurden gefilmt, als sei nichts von Bedeutung geschehen. Still lagen sie neben ihren getöteten Vätern, und ihre Mütter trugen Rot-Kreuz-Binden und gingen gleichgültig zwischen den Toten hin und her.

Mein Wahlvater Fabian besaß eine schöne Bibliothek. Ich mochte acht oder neun Jahre alt gewesen sein - der kluge Leser wird diesen Zeitsprung um so lieber in Kauf nehmen, wenn er sich vergegenwärtigt, dass im Leben kleiner Jungen nicht viel Aufschreibenswertes geschieht - als ich diesen Reichtum an Büchern wahrnahm. Durch den Flur seiner Wohnung kam der Besucher in einen großen Raum, seinem Studierzimmer mit fast schwarzen Eichenmöbeln, mit Lesepult, dem Schreibtisch, einem meterhohen Kruzifix; im Nebenzimmer, einer schlichten Kammer, stand ein breites Bett und ein kleiner Tisch mit Leselampe. Außer diesen beiden Zimmern, die übrigen Räume lernte ich erst später kennen, enthielt die Wohnung des Geistlichen noch eine große Küche mit Wandbrettern und Borden voller Kasserollen und Tiegel und einem gut versorgten Weinkeller. Entgegen den Gepflogenheiten zölibatärer Geistlicher bestellte er sich weder eine Köchin noch eine Magd zur Bedienung am Tisch und im Bett. Hin und wieder kam eine alte Frau, die ihm alles in Ordnung brachte. Ich glaube, dass er eigentlich nur für seine Bücher lebte. In meiner freien Zeit begab ich mich nun öfter entweder allein oder mit Jan und Karl zu ihm, der uns an seinen Bücherschätzen teilhaben ließ und sicherheitshalber jedes ausgeliehene Buch in ein Heft eintrug.

In jener Zeit, als ich zu lesen und also zu begreifen anfing, stand ich natürlich vor einem Dschungel ohne Weg und Steg. Lesen, anschauen durften wir bei ihm, soviel wir wollten und solange wir ihn nicht störten, aber nur ungern ließ er uns ein Buch mit nach Hause nehmen. Mit Recht, denn Bücherfreunde sind im Allgemeinen Bücherdiebe. Dieser Zug ängstlichen Festhaltens am Bücherbesitz und sein manischer Trieb, wertvolle Bücher zu erwerben, erinnert mich an jenen Kriminalfall im Sächsischen, wo ein Pfarrer als mehrfacher Frauenmörder gerichtlich belangt werden musste, weil ihn die Leidenschaft des Sammelns von Druckwerken dazu gebracht hatte, vermögende Frauen aufzuspüren, möglichst reiche Witwen, sie zu heiraten, um sie sogleich umzubringen, und mit ihrem Geld Bücher zu kaufen. Hochwürdens Bibliothek war erstklassig, wie amtlich festgestellt wurde; sie enthielt alle Werke des römischen Index, und natürlich etliches an Bibeldrucke. Aber seine Richter hatten Verständnis und Mitleid mit diesem armen Tropf und ließen ihn am Leben.

Mein Meister las als theologisch gebildeter Mann beinahe alle europäischen Sprachen. Unglücklicherweise war er kein Liebhaber des Neuen Testaments, vielmehr studierte er vorzugsweise die blutigen alten Geschichten, in denen es stets um Macht und um Liebe geht, obschon alle diese schlüpfrigen Histörchen in das Mäntelchen des Glaubens gehüllt sind, das heißt, unter der Oberhoheit Jahves verübt wurden. Nachdem wir erfahren hatten, wie und warum Judith den Holofernes umgebracht und mit welchen Mitteln David den Ehemann aus dem Wege geräumt hatte, um sich der Bathseba zu bemächtigen, durften wir nach Belieben in den Bücherschränken und in den Regalen nach Lesestoff unserer Wahl forschen, in alten Wälzern mit den Holzschnitten der Apokalypse Dürers blättern, den Totentänzen und Weltuntergängen. Von Cranach bis Bosch kannten wir bald alle diese Gestalter von erhabenen Katastrophen. Um einige Bücher zu nennen, deren Titel ich damals hörte, später las und immer wieder las, die Ilias des alten Fabulierer Homer natürlich, zunächst nur in den holprig-poltrigen deutschen Übersetzungen, die Abenteuer des Don Quijote, Platos Staatsideen, die Utopia des Thomas Morus, alles fiel mir zeitig in die Hände, und weckte oder nährte den Skeptiker in mir. Genug, es waren frühe Freuden und geistige Abenteuer, die meinen Weg mitbestimmt haben. Einmal aber kam die Frage zwischen uns Jungen und ihm, dem Erfahrenen, zur Erörterung, was ihn an diesen Platz in Müllhaeusen gebracht hatte, und was ihn hier festhielt, ein Umstand, der selbst unseren Eltern rätselhaft erschien. Ruhig saß er in seinem großen Chorstuhl, die Füße auf ein Kissen gestellt und den Ellenbogen aufgestützt, die Hand an die Wange gelegt. Erinnere ich mich richtig, so gab er vor, mit seinem Los zufrieden zu sein. Bei anderer Gelegenheit kamen wir, er und ich, uns näher und er erklärte sich für mich verständlicher. Ich hockte ihm zu Füßen, ein schlitzäugiger, spilleriger Teufel, unruhig und schlau; wir waren ein hübsches Gespann.

In diesen Tagen reiste der Führer Adolf Hitler durch unsere Stadt, aus welchem Grunde, habe ich vergessen, finde auch nichts darüber verzeichnet. Die Historiker behaupten, der Führer habe während des Krieges öffentliche Auftritte gescheut und sei nur selten gereist. Einmal zumindest war er es doch und besuchte unsere Provinz, und unser Haus am Markt, das schöne alte Knochenhauerinnungshaus, wurde für diese Stunde an diejenigen vermietet, die vom Schicksal nicht so begünstigt waren wie wir. Mein Zimmer im Giebel blieb von den Mietgästen verschont, aber ich durfte meine Freunde zum Schauen einladen. Bereits in der Nacht vor dem großen Ereignis begann sich der Platz unter uns mit Menschen zu füllen. Die Leute brachten Stühle mit und verzehrten während des Wartens die mitgebrachten Esswaren; die sogenannte Verdunkelung ward aufgehoben, Autos fuhren heran und wieder ab, im Rathaus waren alle Fenster besetzt, und ein dichter Wald großer roter Fahnen mit dem Hakenkreuz darin beherrschte den im Frühdunst liegenden Platz. Nach einer unruhigen Nacht, noch ehe die Sonne aufging, wickelten wir uns, Jan und Karl, aus den Decken. Großmutter kam herauf und brachte uns Frühstück. Auf dem Platz unten war schon kein Durchkommen mehr, ein breiter Gang, der in eine Seitenstraße führte, musste entweder von der SS-Leibgarde oder einem SA-Sturm offengehalten werden. Von dort würde der Erwartete also wohl kommen. Eine SA-Kapelle zog auf und begann Märsche zu spielen. Just um diese Zeit kam auch mein Wahlvater Fabian, um zu fragen, ob wir jungen Leute ihm einen Platz in ihrer Mitte gewähren würden. Zuletzt erschien noch sein Freund, der Oberstudienrat Kniri und bat auch um Asyl.

»Als wenn der Papst kommt«, sagte Jan, der wie sein Vater nur kirchenfromm und das heißt, gleichgültig gegenüber dem Christentum war. »Päpste gehen nicht auf Reisen, mein Sohn«, erklärte Hochwürden Fabian, »sie lassen kommen, sie gewähren Audienz«!

Damals fing ich an, Unterschiede zu sehen, die aus den Veränderungen in der Welt herrührten, was meinen Enthusiasmus für das Führertum im Allgemeinen nicht schmälerte. Zuerst hörten wir in der Ferne ein Brausen, es kam aus einer Vielzahl menschlicher Kehlen. Auf dem Platz rasselten Trommeln, Fanfaren fielen schmetternd ein, und dann strudelte eine Gruppe Menschen durch den frei gehaltenen Gang auf den Platz. Der Führer trug eine dunkle Hose, den hellen braunen Waffenrock und Mütze, mit schnellen Schritten erklomm er die Treppe unseres Rathauses, gefolgt von einigen seiner Getreuen in schwarzen, braunen und grüngrauen Uniformen. Gesichter ließen sich nicht erkennen. Mir stieg ein Kloß in die Kehle; ob mein Vater, wie ich Hochwürden in diesen Aufzeichnungen fortan nennen will, ganz wie ich in der Wirklichkeit jener Jahre, dem Augenblick ebenso erlag wie ich? Der Mittelbalkon des Rathauses war geöffnet worden, und der Führer trat grüßend heraus; dort stand ein Mensch, aus den Tiefen aufgestiegen bis zum Beherrscher Europas, und wir alle glaubten uns an seinen Stern gebunden, was auch kommen werde, und schwelgten in Seligkeiten, nicht nur wir kleinen Leute, auch die Großen der Welt, und deshalb habe ich gute Gründe anzunehmen, dass auch mein Vater in dieser Stunde eher das Licht sah, nicht aber die Schatten, die dieser Herrscher warf, wie jeder ungewöhnliche Mensch.

Unten auf dem Platz zuckte und schrie die Menge, reckte die Arme, drängte dicht an das Podest heran, indessen der Führer, den Arm erhoben, dastand, ohne Bewegung, die Hand ans Koppel gelegt. Er hielt keine Rede, blieb nur kurze Zeit auf dem Balkon, ehe er ins Innere des Rathauses verschwand. Die Menge unten verlief sich jedoch nicht. Als der Führer nach Stunden wieder herauskam, grüßte, Hände schüttelte und lächelte, war das Gedränge eher noch größer geworden. Der Führer nahm den kürzesten Weg durch die Menge; er verließ uns. Viele weinten, sie konnten nach diesem Erlebnis nicht einfach auseinandergehen; sie schlenderten herum, redeten, das Volksfest dauerte bis in die Nacht. Damals beschloss ich, ein junger Nationalsozialist und Gefolgsmann des Führers zu werden, und in das deutsche Jungvolk einzutreten, obschon ich angeblich zu klein und zu jung war, um aufgenommen zu werden. Mama, auch meine Großeltern hielten mich für ungeeignet, einer solchen Körperschaft beizutreten.

Für die Nachgeborenen, die es nicht wissen können; beim Jungvolk handelte es sich um eine Unterorganisation der Hitlerjugend, in letzterer durfte der junge Deutsche erst nach vollendetem vierzehntem Lebensjahr eintreten. Der heiße Wunsch aller Kinder aber richtete sich auf die Erlaubnis der Eltern zum Eintritt ins deutsche Jungvolk, das uns ab zehntem Jahr offenstand. Die Großen aber teilten das Begehren ihres Nachwuchses, in eine paramilitärische Organisation einzutreten, nicht immer. Mama war wie gesagt der Ansicht, ich sei zu klein und zu schwach, um den Strapazen einer barbarischen Erziehung gewachsen zu sein, die mit den Pflichten eines Jungvölkischen, verbunden gewesen sind. Großmutter sah alles von der praktischen Seite her an, sie fürchtete die Aufwendungen an Geld für meine Ausrüstung und darüber hinaus, dass mein Lebensweg zum Geistlichen unterbrochen werden könnte. Denn irgendwie hatte sie ihre Pläne mit mir geändert und mich vom Uhrmacherhandwerk entbunden und zum Theologen bestimmt.

Am Tag nach dem Hitlerbesuch hatten wir Knaben einander geschworen, den Widerstand unserer Eltern zu brechen. Herr Caskorbi und Fräulein Krebs waren pflichtgemäß der Auffassung, wir alle gehörten in den Rock dieser Jugend. Die Lehrer mochten andere Gründe haben als wir, aber alles hing eben von der Zustimmung der Eltern ab. So kam die Stunde heran, wo ich im Erkerzimmer, unserem Thingplatz, die Familie mit meinem unabänderlichen Entschluss bekannt machte, Nationalsozialist und Gefolgsmann des Führers zu werden. Übrigens hatte sich Großvater des Urteils enthalten; er war Parteimitglied und konnte nicht gut gegen meine Pläne stimmen.

Besonnen fragte Großmutter: »Hat Herr Links seinen Jan auch schon angemeldet?« Ich mogelte ein halbes Ja in meine Antwort, denn zur gleichen Stunde mussten die Verhandlungen im Hause Links begonnen haben, mit ebenso ungewissem Ausgang. »Und was sagt Herr Oberstudienrat?«

»Ich glaube«, schaltete sich mein Wahlvater Fabian ein, der am Familienrat teilnahm, »da hat es keine Not. Lassen Sie es gehen, wie es will! Wir sind eingekreist, liebe Großtante, sind belagert, und übrigens hat es wenig Sinn, die Zustimmung zu verweigern, weil alle diese Knaben eben nach frühem Waffenruhm streben. Das wird sich legen«. Nach einer Weile fragte ihn Großmutter: »Sind Sie eigentlich auch schon Nazi? Offenbar sind alle verrückt geworden. Was sich da gestern abgespielt hat, das ging auch schon über meinen Verstand. Wozu muss ein solch kleiner Bengel in Uniform herumlaufen? Jakob wird Geistlicher, kein Krieger«. Anderntags suchte ich mit Großvater ein Effektengeschäft auf, um die Uniform zu kaufen; mit Geld waren wir gut versehen. Zuerst betraten wir das Café, denn auch Jan war erfolgreich gewesen. Herr Links erschien, die beiden Geschäftsleute und Liedertafelfreunde begrüßten sich und tranken sich Mut an, um für den Gang in das Effektengeschäft gestärkt zu sein. Herr Links seufzte. »Wie hat denn Herr Oberstudienrat entschieden?«

»Dafür«, sprach ich kühn, denn mir kam eine Ahnung, dass sie alle von den gleichen Befürchtungen geplagt wurden und von ähnlichen Hoffnungen lebten. Sie wollten sich heraushalten aus dem, was kam, aber was kam eigentlich? Ein Hitlerbild an der Wand ihres Zimmers bedeutete nichts, wir hatten auch eins, nein, sogar mehrere. Großvater, schon beschwipst, wurde ermächtigt, für uns beide, für Jan und für mich, die Uniform zu kaufen. Auf unserem Weg trafen wir das Paar Kniri, Vater und Sohn, Vorteil der Provinz, da es nur einen Laden für Uniformen und Effekten in der Stadt gab. Wären Artus, Vater und Sohn, mit uns gezogen, so hätten wir auch wirklich eine stattliche Zahl junger Krieger abgegeben ...

»Kaum«, erklärte der alte Herr Kniri darauf angesprochen Großvater, »der alte Pflaumenbaum war zu meiner Zeit Pedell am Gymnasium. Das wissen Sie wohl nicht, Herr Ponte. Beim Kapp-Putsch hat er sich als Ruhestörer entlarvt, soll auch seinerzeit bei den Leuna-Aufständen dabei gewesen sein und viel Ärger gemacht haben. Freilich dürfte er nach seinem Aufenthalt im Konzentrationslager drüben in Weimar etwas ruhiger geworden sein«.

»So«, sagte Großvater erschrocken, »so einer ist das? Und unsere Kinder gehen mit seinem Bengel in die gleiche Schule? Sollten wir das nicht unterbinden?«

»Aber woher«, sagte Herr Kniri, »verbieten wir den Knaben den Umgang untereinander, so werden sie ihn erst recht suchen. Glauben Sie einem alten Lehrer.«

Mittlerweile hatten wir den Effektenladen betreten. Dort gab es die Uniform, schwarze Cordhose, das braune Hemd mit Achselklappen und Brusttaschen, das lederne Koppel mit einem Schloss und Schulterriemen, das schwarze Halstuch und den geflochtenen Lederknoten, den sogenannten Türkenbund, Käppi und Schuhe. Nur leider, das Kriegsmesser war uns versagt, die schöne dolchartige Waffe, größer und breiter als alle Messer in unserer Küchenlade. Zwar wurde es gekauft, kam aber unter Verschluss und in elterliche Verwahrung, bis wir soweit sein würden, schimmernde Wehr zu tragen. Dann ward es vollbracht; endlich standen wir in Reih und Glied, legten die Hände an die Seitennaht der Hose und durften nach den Befehlen größerer Jungen das Einmaleins militärischen Gehorsams erlernen. »Richt euch! Rührt euch! Augen rechts, beziehungsweise die Augen links; und im Gleichschritt marsch!« oder: »Ohne Tritt, marsch!« Da hieß es dann: »Zur Meldung an den Fähnleinführer, die Augen links oder eben rechts!«

Wir drehten die Köpfe wie an der Schnur und sahen mit Ehrfurcht auf den lang gewachsenen Menschen, von dessen Schulterklappe zur Brusttasche eine grüne Schnur hing, zum Zeichen seines höheren militärischen Ranges. Fähnlein hieß die Grundeinheit nach der Verfassung der alten Landsknechtsheere. Unser Haufen rief laut: »Heil Hitler, Fähnleinführer!«

Wir bekamen denn auch alsbald gesagt, dass wir uns schon gewisse Verdienste bei Heimabend, im Sport und beim Geländespiel erworben hätten und das Recht erhielten, unseren Ehrendolch zu tragen. Einige von uns wurden sogleich Hordenführer, darunter war auch ich; es hätte mich gekränkt, wäre ich es nicht geworden. So ward ich denn ein junger Nationalsozialist.

Während des Sommers trug ich meine Uniform beinahe täglich, so lange, bis sich Mama, die nunmehr im nahen Weimar feindliche Luftpiraten aufspürte und öfter für ein paar Stunden zu uns kam, aufregte. Kannst du denn nicht mal was anderes anziehen? Man kommt sich ja vor wie in einer Kaserne. Ich aber hielt an meiner Uniform fest und verteidigte energisch den Anspruch des Uniformträgers gegen die Vorhaltungen eines weiblichen Zivilisten. Dieses Stück Entwicklung war abgeschlossen, ich war also ein achtjähriger Hordenführer des deutschen Jungvolkes in einer Provinzstadt des Deutschen Reiches, im Grünen Herzen Deutschlands, mein Aufstieg war gesichert; ein künftiger General und halber Jesuit, aber ein ganzer Versager, soweit es die Schulleistungen betraf, steckte in mir. Leider aber wurde mir von der Schule mein völkisches Wohlverhalten keineswegs höher angerechnet.

Jakob Ponte

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