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1. Kapitel

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Meine Vaterstadt heißt Müllhaeusen, eine ehemals freie Reichsstadt, heute nur noch Kreisstadt. Hier schlugen zwei große Führer der Bauern, reichlich drei Jahrhunderte nach der Erhebung Müllhaeusens in den Rang einer reichsunabhängigen Stadt, ihr Hauptquartier auf, was zur Folge hatte, dass wir uns in zwei Lager spalteten. Es handelt sich also um eine der so natürlichen Wenden. Die größere Zahl der Einwohner nahm den neuen Glauben an, bezeichnete sich als reformiert, und die amtliche Statistik weist AD 1925, zehn Jahre vor meiner Geburt, immerhin 33020 Reformierte und nur 2250 Katholiken aus. Ich nehme an, dass dieses Verhältnis vor der Wende umgekehrt gewesen ist. Gleichviel, es gab nunmehr überwiegend neue Rechtgläubige bei uns und nur wenige zurückgebliebene Papisten. Die Differenz zur tatsächlichen Einwohnerzahl entfällt auf Sonstige. Darunter sind Juden, Atheisten und Mitglieder der Freikirchen zu verstehen. Einer meiner Vorfahren muss allerdings in der katholischen Minderheit gesucht werden, ein standhafter Mann, der sich nicht verlocken ließ, einer zweifelhaften Mehrheit nachzulaufen. Aus der alten Zeit besitzt Müllhaeusen eine verhältnismäßig hohe Zahl Kirchen: Sankt Blasius Kirche, Marienkirche, Jakobikirche und Barfüßerkirche. In den Urkunden ist eine andere, Sankt Sebastian, selten erwähnt. Von manchen, Klerikern wie Laien, wird die Existenz dieser Kirche überhaupt bezweifelt. Ich kann jedoch bezeugen, dass es sie gegeben hat, bis sie durch ein Wunder verschwand und durch ein Bankunternehmen ersetzt wurde; kann es bezeugen entgegen dem Augenschein und der Quellenlage, weil ich dort die heilige Taufe erhielt, vorgenommen von meinem späteren Ziehvater, unserem Verwandten, Hochwürden Fabian. Solche Ungereimtheiten gehören zu den schockierenden Details meines Lebensberichtes. Unbestreitbar jedoch liegt die Stadt 250 Meter über dem Meeresspiegel zwischen Hainich und dem oberen Eichsfeld und besitzt ein prächtiges spätgotisches Rathaus. Früher zählte sie zu den großen Industriestädten, den Zentren des Thüringer Waldes. Holz-, Textil-, Lederindustrie, Maschinenbau, Finanz- und Hauptzollamt; das Gymnasium Justus von Liebig, in das ich zwar vorimmatrikuliert wurde, in das ich aber nie wirklich ging, weil es zu meiner Zeit schon den Namen Ernst Schneller trug, die Handelsschule; kurz, dies alles verschafften meiner Vaterstadt den Ruf, der Primus inter Pares unter den freien mitteldeutschen Stadtgemeinden zu sein. Nicht unerwähnt bleiben darf die Landesheilanstalt Puffenrode, mir dank unseres Hausarztes Doktor Wilhelmi, früh bekannt.

Den Wechselfällen des Lebens sind nicht nur Menschen, sondern auch Dinge unterworfen. Meiner Vaterstadt, einst frei, stolz und bedeutend, widerfuhr das Missgeschick, im Jahre 1802 unter die Herrschaft Preußens zu geraten. Sie sank noch tiefer, als sie 1807 einem Königreich Westfalen eingegliedert wurde, aber es änderten sich die Zeiten, und Preußen nahm Müllhaeusen wieder unter die Fittiche seiner strengen Verwaltung. Es war nicht die letzte Wende unserer Stadt; einmal flatterte sogar das Sternenbanner über Müllhaeusens Kirchtürme, wurde dann allerdings von den Symbolen Hammer und Sichel abgelöst und so fort. Ich werde hierzu Rede und Antwort stehen. Jede Epoche sucht sich in Bauwerken zu verewigen; der Romanik wie der Gotik dienten vorchristliche Tempel als Fundamente und Materiallieferanten. Es ist ein Glück, dass sich aus den brüchig gewordenen Steinen gotischer Kathedralen keine Regierungspaläste mehr errichten lassen, sonst würde es längst keine der alten Meisterwerke mehr geben. Ohnehin geht seiner Auflösung entgegen, was die Alten an Architektur hinterlassen haben; alles wendet sich eben real, nur Menschen ändern sich nicht; wie sie geboren, so werden sie auch ins Grab gelegt.

Ich beginne also die Geschichte eines, der mehrfach gewendet wurde, ohne sich zu bessern, eine sehr gewöhnliche Geschichte, die mich zuletzt geradewegs zur Verbannung in ein Straflager und schließlich auf den Parnass führte, neben dem Zuchthaus das einem Zeitgenossen höchste erreichbare Domizil.

Bis jetzt dürfte mein Versuch, Müllhaeusen gerecht zu werden, auf keinen großen Widerspruch gestoßen sein. Bedenkt der Hörer oder Leser nun aber die Schichten und Klassen dieses Gemeinwesens, seine gute Gesellschaft, das emsige Kleinbürgertum, das Volk der Beamten, Lehrer und der zwei oder drei Reichen, bezieht er Spießertum, die uns angeborene Niedertracht und das geistige Mittelmaß einer Kleinstadt in seine Betrachtungen mit ein, so bleibt nicht viel mehr übrig, als sich mit Bestürzung der Gegenwart zuzuwenden und von ihr Besserung zu erhoffen. Womit ich diese kurze sozialhistorische Betrachtung schließe.

Mein Geburtshaus lag am Adolf-Hitler-Platz, dem alten gotischen Rathaus gegenüber. Hätte ich schon sehen können, so wäre es ein Leichtes für mich gewesen, als Fenstergast den Ratssitzungen beizuwohnen und diese eventuell durch Schreien und Gesten in eine andere Richtung zu lenken. Seinerzeit, 1935, so wird berichtet, befand sich in der Mitte des Platzes noch ein Brunnen mit einer allegorischen Figur; sie ist irgendwann von einem Sammler demontiert und beiseite geschafft, später allerdings wieder aufgestellt und zuletzt an einen anderen Sammler verkauft worden, als der Magistrat in leere Kassen blickte. Am Rathaus links und rechts vorbei führen schmale kleinstädtische Gassen. Sie sind noch enger geworden, weil sie zur Hälfte als Parkfläche dienen müssen. Der technische Fortschritt verwandelte die alte Stadt in ein Labyrinth von Einbahnstraßen, Abstellplätzen und Tangenten. Bisher ist es noch keinem Ortsunkundigen gelungen in einer angemessenen Frist das Stadtgebiet zu durchfahren.

An den Marktseiten des Adolf-Hitler-Platzes gab es damals eine Plätterei, die Adler-Apotheke, das Hotel Zum Löwen und das Stadtcafé links; Jan, der letzte dieser Söhne sollte mir Spielkamerad und mein treuer Gefährte werden. Das Hotel spielt in meinem Leben insofern eine Rolle, als es meinem angeblichen Vater einige Wochen lang Asyl bot, und vieles sprach einmal dafür, dass ich in einem der Hotelbetten gezeugt wurde, obschon meine Mutter naiv-dreist die Behauptung aufgestellt hatte, ich wäre vielleicht durch überirdische Manipulation in ihren Körper gekommen; ein Vorgang, der sich seit der unbefleckten Empfängnis nicht wiederholt hat, sieht man von den Kunstgriffen der modernen Medizin ab, oder der im Schlaf begangenen lässlichen Sünde, jedem Beichtvater als eine der weiblichen Ausreden wohl bekannt und mit einem te absolvo leicht gesühnt. Konnte oder wollte meine Mutter über die näheren Umstände meiner Zeugung nichts mitteilen, so hat sie doch zeitlebens das Hotel Zum Löwen gemieden, und sich immer abfällig über die Qualität dieses Etablissements geäußert, wie auch ich mich gegen diese Mär vom verschollenen Vater instinktiv auf das Heftigste zur Wehr gesetzt habe ...

Hinter dem Rathaus lugte der sogenannte Pulverturm hervor. Der Sage nach wurden in ihm einige der Bauernführer der Aufstände des 16. Jahrhunderts bis zu ihrer Hinrichtung gefangen gehalten. Sie mögen von einer Wende geträumt haben, aus der dann auch nichts wurde. Der Turm ist ein solides gut erhaltenes Bauwerk aus dem frühen Mittelalter, direkt auf die Stadtmauer gesetzt, von welcher sich leider nur Reste erhalten haben, die in den gedruckten Stadtführern als malerisch bezeichnet werden, nichtsdestoweniger aber nur Schutt und Trümmer sind und auch damals nicht eben ansehnlich waren. Vor diesen Ruinen zieht sich eine Promenade, der Wall, rings um die Stadt, vorbei an dem schon erwähnten berühmten alten Gymnasium Justus von Liebig, aus dem so viele bedeutende Männer hervorgegangen sind; unter anderem ich als einer der Letzten in dieser stolzen Reihe Genies, wie übrigens auch meine Freunde, der spätere Physiker Karl Kniri, und als Überläufer aus dem Proletariat, Artus Hengst, eigentlich Pflaumenbaum, dessen Erzeuger einige Zeit im nahe gelegenen Konzentrationslager verbringen musste, weshalb sich Frau Pflaumenbaum von ihm scheiden ließ und wieder ihren Mädchennamen Hengst annahm; darauf starb sie. Artus kam nunmehr als ein Hengst wieder zu seinem Vater Pflaumenbaum, der zum allgemeinen Bedauern der Stadtbevölkerung aus dem Lager entlassen worden war und fortan als städtischer Angestellter still die Gassen kehrte, bis er schließlich nach einer weiteren Wende zum Stadtoberhaupt aufstieg, bevor er sich infolge einer weiteren Wende einfach erschoss! Zuvor kam der Streber Artus noch in und auf unser altes Gymnasium. Womit ich die aus uns Jungen bestehende Clique eingeführt habe.

In meiner Kindheit stand vor oder vielmehr neben dem Rathaus noch der Roland, als Zeichen unserer städtischen Freiheit; der echte Roland kam ins Landesmuseum, und eine Kopie wurde statt seiner aufgestellt. In diesem Tausch liegt eine traurige Symbolik. Überhaupt scheint die Stadtentwicklung mit Beginn der Neuzeit abgeschlossen. Jedenfalls hat sich keines der nachfolgenden Zeitalter nennenswert auszudrücken vermocht, abgesehen von der vorhin aufgezählten mittelständischen Industrie. Zwar wurde noch eine Eisengießerei gegründet und eine kleine keramische Anstalt, aber ihre Schornsteine blieben unter dem Niveau der Türme unserer Kirchen. An den Rändern der städtischen Bannmeile ließen sich Beamte und einige andere Angehörige des Mittelstandes in geschlossenen Villenvierteln nieder, unter anderem hauste der Vater Karls, der im Ruhestand lebende Oberstudienrat Kniri, mit Sohn und einer Wirtschafterin auf einem wunderbaren großen Grundstück am Waldrand, wo wir häufig zu Gast sein durften.

Mein Geburtshaus gehörte den Pontes bereits in zweiter Generation. Es handelt sich um eines jener alten schmalen Häuser, die mit spitzem Giebel dicht nebeneinander die Marktplätze mittelalterlicher Stadtzentren umsäumen. Erbaut haben soll es die Tuchmachergilde. Lange Zeit diente es der Knochenhauerinnung als Vereinslokal, kam an einen Musikverein für Brauchtumspflege, bis es halb verfallen an einen Ponte veräußert wurde. Der ließ das Haus wieder herrichten und seinem alten Fachwerk neuen Glanz verleihen. Was um die Jahrhundertwende 1900 geschah. Als ich geboren wurde, wovon sogleich die Rede sein wird, unterhielten meine Großeltern ein Uhrengeschäft im Knochenhauerinnungshaus oder im Tuchmacherhaus oder im Musikvereinshaus, je nachdem. Ich harre des Widerspruchs eingesessener Müllhaeusener. Solche, die sich nur allzu genau und jene, die sich überhaupt an keinen Uhrmacher erinnern können, müssen meiner Darstellung lebhaft widersprechen. Ihnen soll Recht geschehen. Das Knochenhauerinnungshaus hat es nie gegeben. Auch kein Uhrengeschäft, jedenfalls keines am Markt gegenüber dem gotischen Rathaus mit dem Falsifikat des Roland. Schlechte Hotelbetten in der Absteige Zum Löwen lassen sich urkundlich auch nicht nachweisen. Alle diese Beschreibungen sind irreführend. Der redliche Chronist hätte sich die Mühe machen sollen, genau zu erforschen, wie es mit der Stadtgeschichte beschaffen war und ist? Ich muss bedauern. Selbst wenn das Haus und einiges andere nicht vorhanden gewesen sein sollte, so dient gerade die Nichtexistenz als Nährboden meiner Fantasie und also einer höheren Wahrheit. Aussprechen werde ich diese Wahrheit freilich auf meine Weise, es ist die höhere Form der Wahrheit; anders wäre ich nie mit der Nervenklinik Puffenrode, die der Heimatkundige ebenfalls vergebens suchen wird, wenigstens nicht an diesem Platz, in Berührung gekommen; mein Leben hätte den eintönigen Verlauf eines Menschen genommen, der von keiner Wende berührt wird und den deshalb auch keiner bemerkt, bis dass er tot und begraben ist.

Um ganz vorn anzufangen, muss mein Lebensalter ein wenig ins Minus verrückt werden. Mama, denke ich mir, steckt wegen ihres schwer vorgewölbten Bauches in einem weit geschnittenen Hängekleid aus schön gemustertem Stoff. Dazu trägt sie bequeme flache Schuhe, sogenannte Latschen. Wegen ihres Zustandes hält sie weitergehende Körperpflege für unnötig, und dem Kind in ihrem Leibe für wenig zuträglich. Aber ich muss hier schon von ihrer Gewohnheit reden, sich entweder gehen zu lassen, oder sich wie eine Kurtisane aufzuführen. Sie häkelt an einem rosaroten Zeug für mich, denn wie der junge David Copperfield sollte ich als ein niedliches kleines Mädchen auf die Welt kommen. Der werdenden Mutter sitzt die werdende Großmutter gegenüber; auch sie strickend oder häkelnd, belassen wir es dabei. Mit bedeutungsvollem Blick zieht Mama ihre Ringe ab und legt sie auf den Tisch, zum Zeichen, dass ihre Niederkunft nahe bevorstehe. Darauf rollt Großmutter ihr Strickzeug zusammen, aber sie fragt sicherheitshalber, ob es sich nicht wieder um einen blinden Alarm handele, wie schon so oft, worauf Mama ergeben den Kopf schüttelt, und von ihrer schweren Stunde spricht. Damit gibt sich Großmutter aber nicht zufrieden, eben weil ihre Tochter schon mehrmals meine Geburt als ihre schwere Stunde angekündigt hat. Wenn sich diese Ponte beeile, so könne sie eines jener feinsinnigen und doch weitläufigen Mädchen werden, für welche der Mai mit dem Tierkreiszeichen der Zwillinge als Geburtsmonat reserviert sei, erklärt Großmutter; Vater Löwe, Mutter Krebs; auch wenn Großmutter einen Waage- oder Schützemenschen vorziehen würde. Sie räumt ein, dass eine Verbindung zwischen Löwe und Krebs zwar als ungewöhnlich gelten muss, aber zu großen Hoffnungen berechtigt, vor allem aber auch nicht mehr zu ändern sei. Auf all diese Erwägungen entgegnet Mama, Doktor Wilhelmi habe auch die andere Möglichkeit in Betracht gezogen; sichere Vorhersagen über das zukünftige Geschlecht eines Kindes ließen sich nicht treffen. Diese harmlos klingende Bemerkung, dieses scheinbar zufällige ins Spiel bringen Doktor Wilhelmis löst bei Großmutter weder ein ablehnendes Ja noch ein zustimmendes Nein aus, sondern eine weitläufigere Erklärung.

»Ich meine, dass es an einem Fehltritt genug ist. Dieser Arzt ist sehr verheiratet und übrigens ein verrufener Schürzenjäger, dessen Gören in der Stadt herumlaufen wie ausgesetzte Hunde, was eine so dumme Gans wie dich sicherlich nicht daran hindern könnte, oder gar gehindert hat, zu ihm ins Bett zu steigen.«

Mama wurde in den Monaten ihrer Schwangerschaft allzu oft sittliches und intellektuelles Versagen vorgehalten, und es scheint, als habe sie sich wirklich nicht ungern den Jungfernkranz abschwatzen lassen, wie Großmutter meinte. Sicherheitshalber macht sich Großvater eilig auf den Weg zur Hebamme, während das Dienstmädchen alle Vorbereitungen trifft, die meiner Geburt vorausgehen ...

Der Leser, diese mythische Größe, den keiner kennt, um dessentwillen so viele Bücher geschrieben werden, die er am Ende doch nicht liest, wird sicher längst die Frage auf der Zunge haben: Wer war der Vater? Wie kommt es, dass der Erzeuger einer oder eines Ponte nicht am Lager der Gebärenden zu finden ist, wohl aber Großvater, Großmutter und das Dienstmädchen, später noch der Arzt Doktor Wilhelmi und der Geistliche Hochwürden Fabian, der Neffe Großmutters? Genau diese Frage nach dem Verursacher der Schwangerschaft bewegte die Familie Ponte seit mindestens sechs Monaten, indessen ich wuchs und wuchs. Im sorgfältig geführten Tagebuch Mamas stehen darüber nur vage Andeutungen in der reizenden Sütterlinschrift jener Zeit. Sonst gab es von dem fraglichen Herrn nur Fragmente. Er wurde, da selbst sein Name zweifelhaft war, allgemein, als der Argentinier bezeichnet. Laut Mamas Eintragungen in ihr Tagebuch entstammte er diesem südamerikanischen Land und sei dorthin zurückgereist, ohne zu erklären, weshalb er sich übergangsweise in Müllhaeusen aufgehalten hatte. Seine Hinterlassenschaft bestand in einem Brief an Mama, der später angeblich verloren ging, seinem Foto, das uns erhalten blieb und überschrieben war mit: Hasta la vista, einem Geigenkasten mit Instrument und einem Zigarrenabschneider. Ferner ließ er noch eine zerbissene Meerschaumspitze für Zigarren zurück; sie lag in einem mit rotem Samt ausgeschlagenen Etui aus Rosenholz, war schon sehr mitgenommen, aber noch brauchbar. Großvater hat die Spitze, aus welcher der Argentinier an den wenigen Abenden, an denen ihm Mama zur Verfügung stand, einige Zigarren geraucht haben mag, für mich aufbewahrt. Jahre später habe ich sie einem texanischen Krieger und Europaliebhaber als Andenken überlassen, als die US-Armee unsere Stadt besetzt hatte, gegen eine Packung Zigaretten der Marke Chesterfield oder der mit dem Kamel, zusammen mit einem Zertifikat von meiner Hand, nach dem es sich um ein antikes Stück aus der Donkosakenzeit unter ihrem Hetmann Mazzeppa handelte, denn das Schicksal dieses Helden ward aus dem Meerschaum herausgeschnitzt und unterschiedlich gebräunt. Der Tod des Hetmanns war auf dem Meerschaum dargestellt, weshalb wir uns überhaupt nur noch an Mazzeppa erinnern; festgeschmiedet auf einem wilden Roß ritt er im bräunlichen Rauchton seinem unrühmlichen Ende entgegen.

Aber mein angeblicher Vater hatte noch etwas anderes als Hinweis auf seine irdische Existenz deponiert, wie gesagt, eine Geige mit Bogen und Kasten, einem sogenannten Dämpfer, dem Kissen als Stütze für das Kinn und etliche Ersatzsaiten. Großvater erkannte auf dem eingeklebten Werkzettel in diesem Instrument eine der Violinen des Meisters Stradivari und also von enorm pekuniärem Wert. Obschon er selber bevorzugt Harmonium spielte, erteilte mir der Alte auf dieser Geige ersten Unterricht.

Den Verhören, wie sie denn mit dem Argentinier bekannt geworden sei, setzte Mama störrisches Schweigen entgegen oder nichtssagende Bemerkungen wie: »Es ist eben gekommen, wie es mir vorherbestimmt war«, oder: »Es war Schicksal!.« Jedenfalls hatte sie es verstanden, sich für den Augenblick, der zur Zeugung eines Menschen unbedingt erforderlich ist, der strengen elterlichen Aufsicht zu entziehen, und behauptete zuletzt, wie ich schon erwähnte, es sei nicht ausgeschlossen, dass sich an ihr das Schlafwunder, das man als lässliche Sünde bezeichnet, vollzogen habe.

Es zeigte sich leider, dass die Vorsehung wenig Rücksicht auf Großmutters Wünsche nahm. Als sich alle über die Wanne beugten, in der ich schwamm, stellten sie enttäuscht fest, dass ich mich durch ein geringes, aber wichtiges Organ von einem Mädchen unterschied, viel mehr etwas zu viel Organ hatte, wenn man will. Hebamme, Arzt und Seelsorger vollführten die durch ihre Berufe vorgeschriebenen Handgriffe und Handlungen, und Großmutter fand sich mit diesem Missgriff ihrer Tochter ab, erklärte, dass sie bereit sei, auch diesen Schlag hinzunehmen, und dass mir als Zwilling immerhin der Feinsinn bleibe, was auch für unehelich geborene Knaben gelte, und zur Weitläufigkeit in keinem Widerspruch stünde. Ich erhielt den Taufnamen Jakob Maria Mathias, in Reinheit und Unschuld, jedoch unehelich geboren. Dann gingen alle wieder ihren Beschäftigungen nach ...

Bald wurde ich in mein Zimmer umquartiert. Die Beschreibung dieses Raumes, den ich später ohne kindische Blödigkeit in Besitz nahm, ist bald erledigt; aus einem Bett, einem Schreibtisch und einem Bücherregal bestand die spartanische Einrichtung. Auf dem Schreibtisch prangten zwei Büsten. Eine stellte Johann Wolfgang von Goethe dar, die andere den Führer Adolf Hitler. Als geborener Weimarer betrachtete sich mein Großvater Joseph Maria Mathias als Goethes Erbe, er sah sich als einen Nietzscheaner und Lisztianer. Obschon ihm die beiden Letzteren weniger bekannt gewesen sein dürften, behandelte er das Dreigestirn wie ihm nahestehende Verwandte oder Bekannte, obschon er sich ihnen natürlich nicht gleichstellte. Immerhin deklamierte Großvater häufig, bei passenden Anlässen Gedichte des Meisters der Deutschen.

Unser Reichskanzler Adolf Hitler hatte, nolens volens, eine kürzere Geschichte. Abgesehen von seinem Glauben an die NSDAP, der er zeitig beigetreten war, verehrte der Alte den Führer als Menschen und vertrieb dessen Büste in verschiedenen Größen und Ausführungen in seinem Laden, dreist behauptend, der bemalte Gips bestünde aus echtem Rotguss. Die mir zugefallene Skulptur hatte einen Schaden; durch den Bronze vortäuschenden und braun angestrichenen Gips ging ein feiner Riss; so kam sie auf meinen Schreibtisch. In meinem hohen Lehnstuhl ging ich beinahe verloren, wenn ich auf einem sogenannten Tischklavier Etüden übte, wie sie mir Großvater beizeiten aufgab, der ein wirklicher Musikant war, mit einem feinen Gehör für den rechten Ton. In seinem Verein sang er stets die Tenorsoli. Ich wuchs heran, wie jedes Kind heranwächst; mag sein Eintritt in die Welt nun begrüßt worden sein oder nicht. In meine erste Lebenszeit fällt eine Begebenheit, die zwar ein ungünstiges Licht auf Mama wirft, aber erwähnt werden muss, weil sie die Verhältnisse meiner Familie zu Doktor Wilhelmi und untereinander aufhellt.

Die Pontes verdienten ihr Geld neben den Uhren durch den Verkauf billigen schönen Schmucks jener Art, der von Ignoranten als Talmi bezeichnet wird. Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm; besonders nicht die Welt des schönen Scheins, muss hinzugesetzt werden. Schrie ich, verlangte ich nach mehr Fürsorge, so gaben sie mir einen von den großen oder kleinen Klunkern aus der Ladentheke, in der dieses Zeug schlummerte, was allemal höchste Seligkeit bei mir hervorrief. An dem Scheingold herumsaugend, verschluckte ich eines Tages eine Brosche, diese setzte sich im hinteren Rachenraum fest und war von keinem der Hausgenossen wieder zu entfernen, auch nicht vom Dienstmädchen, dem vernünftigsten Wesen im Knochenhauerinnungshaus. Ich schrie, Zeter und Mordio, wie man wohl gesagt haben mag, wurde blau im Gesicht, man fürchtete, ich würde ersticken, und schickte eilends nach dem Arzt. Doktor Wilhelmi stürzte herbei und brachte nach einer kleinen Operation die Brosche wieder ans Tageslicht.

Glücklicherweise sind Arzt und Seelsorger in unserem Haus immer zur Hand gewesen, wenn es nötig war, und sie haben ihre Pflichten redlich erfüllt. Zur Nachbehandlung brachte mich Mama jeden zweiten Tag in die Praxis. Arzt und Patient hatten jedoch nicht lange miteinander zu tun. Ich wurde ins Wartezimmer geschoben. Mein lauschendes Ohr will noch heute heiteres Lachen vernehmen; die Melodie eines Liedes mit dem schönen Anfang: Hörst du mein heimliches Rufen von einer Schallplatte geschnarrt. Auch Kussgeräusche vernahm ich und die schwachen Seufzer der Lust, was ein süßes und unbestimmtes Gefühl in mir ausgelöst haben mag. Schon strebte ich allen künftigen Seligkeiten zu, ohne vorerst zu ahnen, worum es sich handelte. Alles nimmt ein Ende, und diese schönen Gänge nahmen auch eins. Großmutter gab nämlich zu verstehen, dass der Ruf der Familie durch die Existenz eines unehelichen Kindes genug angeschlagen sei, und dass sie es verhindern werde, unser Ansehen weiter zu belasten. Es rede schon die ganze Stadt von dem sittenwidrigen Verhältnis Mamas zu diesem Arzt. Darauf erwiderte Mama mit tragischem Ausdruck, ihr sei es gleichgültig, was andere Leute über sie tratschten. Es handelte sich um eine ihrer ständigen Redensarten. In Wahrheit achtete sie auf ihren Ruf, wie in einer Kleinstadt unter Mittelständlern auch nicht anders möglich. Sie stehe allein, behauptete sie treuherzig unverfroren und entgegen der Wahrheit, aber das Kind, gemeint war ich, dürfe nicht unter ihrer Ächtung durch gehässige Spießer leiden. Großmutter sagte darauf, sie verstehe nicht, was ihr diese ungereimte Rede beweisen solle, habe sie doch um nichts anderes ersucht als darum, kein zweites Kind in die Welt zu setzen ohne gestiftete Ehe und elterlichen Segen. Heuchlerisch sprach Mama, ob sie denn glaube, sie sei so wahnsinnig und auf diesen Arzt hereinfalle? »Ja, das glaube ich, liebe Tochter«, soll meine Großmutter Clara Katharina Ponte trocken erklärt haben, was ihr durchaus zuzutrauen, und so steht es in Mamas Tagebucheintragung.

»Und weil vorbeugen nun einmal besser ist, als heilen, gehe fortan ich mit Jakob zu diesem Doktor Wilhelmi.«

Worauf sie, also Mama, mit dem Fuß aufgestampft und geschrien habe, sie werde sogleich zusammen mit ihrem Sohn dieses Haus und diese verfluchte Stadt für immer verlassen und in die große weite Welt hinausziehen, so wie sie stehe, zumindest bis Eisenach oder bis Weimar, und jedenfalls käme sie nie mehr zurück. So steht es wiederum im Tagebuch.

Man kann aus späterer Sicht natürlich all das als eine von Mamas Lügen bezeichnen, allein eine solche Feststellung würde uns nicht weiterhelfen. Diese Drohung sollte sie oft wiederholen! Daraus ist zu lernen, besser keine überprüfbaren Einträge in einem Tagebuch anzulegen. Nach Großmutters Eingreifen besserte sich mein Gesundheitszustand überraschend schnell. Die Verletzung blieb ohne ernstere Folgen, für mich und vor allem für Mama, aber ich behielt doch eine kleine Narbe im Rachen zurück, die sich lange Zeit mit der Zunge fühlen ließ, schließlich aber ganz verschwand.

Meine Zeit verbrachte ich gern in Großvaters Werkstatt, drehte meinen Kopf wie ein Wendehals nach dem hundertfachen Ticktack der Uhren, großen und kleinen, oder ich sah zu, wie Mama und Großmutter Schmuck verkauften, Uhren zur Reparatur annahmen und ausgaben, und es war schön zu sehen, wie anmutig sich Mutter und Tochter hinter dem Ladentisch bewegten, die eine im blauen, die andere im roten Kleid gleichen Schnittes. Sogar ihre Gesichter glichen sich, wenn sie die Kundschaft hineinlegten. Mit rascher Handbewegung klemmten sie sich Lupen ein, stellten unsichtbare Schäden an Uhren fest und überschlugen die Reparaturkosten. Fielen jene hoch aus, so erhielt die Kundin einen mitfühlenden Blick, lagen sie niedrig, so steigerte sich das Lächeln, als verschenke die Firma Geld. Wir zeigten uns vorgeblich am finanziellen Geschick unserer Klientel interessiert. An Festtagen schrieben wir Schilder: Unserer werten Kundschaft ein angenehmes Fest und ein gesegnetes Neues Jahr! Mit Deutschem Gruß! Heil Hitler! Aber Geld verschenkten wir sicherlich nicht. In der Kirche Sankt Sebastian hatten wir unsere angestammten Plätze im Mittelschiff in der dritten Reihe ganz außen wegen des Kinderwagens, in dem ich mitgeführt wurde. Einstweilen lag ich zwar noch in dieser Karre, aber ich gehörte durch Geburt dazu, beobachtete, wie sie auf die Knie sanken, sich erhoben, im Chor ein Confiteor murmelten; sie, die an Geld glaubten und vielleicht nicht mal das, hätten wohl mit Nestroy sagen können: Geld verachten wir, nur Kapitalien sind wir in der Lage anzunehmen, leider aber fiel ihnen kein Geld vom Himmel trotz vieler Gebete. Beim Credo, einem Begriff, den unser lieber Verwandter Hochwürden Fabian, später für mich um zwei Worte bereicherte, um credo ut intelligam, glauben, um zu begreifen, oder wie man sonst übersetzen will, ein Einfall des großen Gelehrten Anselm von Canterbury, taten sie so, als glaubten sie wirklich an den Gott der Kirchenlehre und nicht an einen Dämon in ihrem Inneren. Störte ich, lenkte ich von der Handlung ab, weil ich den Singsang der Priester und das Klingeln der Glöckchen durch fröhliches Trallala und glucksendes Lachen begleitete, so als sei ich bereits des himmlischen Manna teilhaftig, gab es gelegentlich Proteste. Vonseiten der Geistlichkeit wurde Großmutter bedeutet, sie hätten mich zu Hause zu lassen. Ihrem Einwand, Kindern sei nach der Lehre das Himmelreich, hielt der Meister Fabian sachverständig entgegen, das Himmelreich wohl, nicht aber das Gotteshaus. Da verfielen sie auf den Ausweg, mir durch Doktor Wilhelmi Beruhigungsmittel in Form gehälfteter und in Wasser aufgelöster Pillen zu verabreichen. Weil ich alles gierig schluckte, was mir in den Mund gesteckt wurde, oder was überhaupt in den Bereich meines Schlundes kam, so durfte ich weiter an gottesdienstlichen Handlungen teilnehmen und ward regelrecht drogensüchtig, was sich später glücklicherweise wieder verlor, nicht aber die Erinnerung daran. Orgelmusik brauste durch Sankt Sebastian, ich aber genoss im Dämmerschlaf den Lärm, der über und unter mir, von allen Seiten und Richtungen auf- und abschwoll, als rege der große Gott meinetwegen seine Schwingen ...

Die Jahreszeiten wechselten, und um das Kapitel von Geburt und frühester Kindheit abzuschließen, sei noch gesagt, es war keine ganz üble Welt und auch keine schlechte Wahl, bei den Pontes in einer mittelalterlichen deutschen Kleinstadt als uneheliches Kind auf Zeit abgeliefert worden zu sein. Meinen ersten Geburtstag feierte ich aufrecht sitzend und wegen der Maiwärme nackt wie das Dalai-Lama-Kind auf einem Seidenkissen, als ein zu höchstem Glück berufenes Wesen, und empfing gnädig die Huldigungen der Familienmitglieder. Das Bild des Dalai-Lama-Knaben, der bekanntlich unter vielen ausgewählt wird, um zum höchsten Gottmenschen gebildet zu werden, ist nicht zufällig in meine Lebensbeschreibung gekommen, bin ich doch später wenigstens vorübergehend zu den Weisheiten des Ostens gelangt, wurde eine Art Guru, nachdem sich alle Heilsbotschaften und Weltanschauungen von Sokrates bis Che Guevara in meinem Kopf zu einem heillosen Durcheinander vermengt hatten. Leider brach meine Karriere als Prophet schnell ab, worüber an anderer Stelle dieses Buches referiert werden soll.

In reifem Alter, auf der Suche nach Halt, bin ich dazu gekommen, die wichtigen Daten meines Lebens mit denen der Weltgeschichte zu vergleichen, und ich gelangte zu erstaunlichen Resultaten. Just als ich es mir wohl sein ließ, begann zum Beispiel die Schlacht bei Brunéte, einem Ort im Spanischen Bürgerkrieg. Sie dauerte zwei Tage und endete mit einem Sieg beider Seiten. Dieser Fall ist in der Kriegsgeschichte nicht so selten, wie mancher glauben mag; des Öfteren haben große Schlachten zwei Sieger gesehen, denkt man nur an Borodino, wo die Grande Armée ihre numerische Überlegenheit einbüßte, Kutusow zwar geschlagen abzog, sich jedoch auch als Sieger bezeichnete. Das weltgeschichtliche Panorama um mich herum war in der Tat lebhaft bewegt. Mama berichtete in ihrem Tagebuch, dass ich mich bei großen Ereignissen geschichtsfühlig verhielt. Jakob vermag historische Ereignisse vorherzusagen, hieß es, was mich jedem Historiker weit überlegen machen würde, träfe es zu, der mehr ein Prophet des Rückwärtigen ist und sich auch dann noch in seinen Auslegungen häufig irrt.

Meist begann die Sache mit einem allgemeinen körperlichen Unwohlsein, mit Brechdurchfällen, Migräne und dergleichen. Diese Zustände verschwanden bei Eintreten des unheilvollen Ereignisses, und so wurde schon früh die Überzeugung meiner Großmutter, ich wäre zu Feinsinn und Weitläufigkeit geboren, bestätigt. Wenn ich damals noch nicht wirklich verarbeitete, was um mich herum geschah, so mag ich doch Eindrücke des Zeitgeschehens über die Reaktionen meiner Erzieher gut beobachtet und ihnen die Deutung meiner Äußerungen überlassen haben. Darüber zu berichten, sehe ich mich ermutigt, weil in unserer Zeit, wo alle nur noch an das glauben wollen, was sich mit den Sinnen wahrnehmen lässt, paradoxerweise die Abkehr vom Materialismus zu beobachten ist. Es spukt neuerdings in den aufgeklärten Köpfen, Fiktion jenseits des Wahrnehmbaren ist wieder Objekt des Denkens, der Psychoanalyse, der Phrenologie, besser heute als Neurologie bezeichnet, namentlich auch in der unterhaltenden Literatur. Es lebe die Metaphysik! So muss es denn erwähnt werden, was ich in jener Zeit sah, wie etwa der Reichskanzler sein Frühstücksei aufklopft, zufrieden mit sich. Er hört keinen Schuss in seinem Hauptquartier, er hört die Lerche; er ist ein Frühaufsteher wie alle genialen Menschen, tritt ans Fenster, jenes berühmte Fenster am Königssee, welches die Natur in einem ungewöhnlichen Ausschnitt zeigt, trägt dunkle Hosen und hellen Waffenrock. Um diese Zeit hat Mister President seine Ansichten über die von Gott vorherbestimmte Rolle Amerikas in der Welt in einer Denkschrift niedergelegt; allerdings kommt der pragmatischen Proklamation seiner Vier Freiheiten eine mehr museale Bedeutung als Realität zu. Vor seinem Haus stehen Tannen; wenigstens in meiner Art des Erlebens, ich sah überdies einen breiten Strom glänzen, bis hinauf zum Präsidenten. Seine Denkschrift bereitet Amerika auf den Eintritt in den Zweiten Weltkrieg vor, der erst noch ausbrechen soll, Botschaft an die Nation. Mister President als Botschafter der Nation, Entdecker der Vier Freiheiten, an deren Verwirklichung die Welt bis heute verzweifelt arbeitet. Eben löscht der Generalissimus auf der anderen Seite der Erde das Licht. Es brannte die ganze Nacht, wie der Dichter nicht müde wird hervorzuheben; der Generalissimus ist kein Frühaufsteher, er überbietet alle früheren Genies, er schläft überhaupt nicht, wacht ohne Unterbrechung. In dieser Nacht hat er Briefe gelesen, warnende. Der Reichskanzler plane einen Überfall. Die Mahner hatten eigentlich nie aufgehört zu mahnen, solange bis sie lästig wurden, denn der erhoffte, der erwartete Überfall ließ auf sich warten, ja, das Verhältnis zum Reichskanzler hatte sich sogar noch verbessert. Todfeindschaft schlug um in Todfreundschaft, durchaus logisch, denn die Staaten aus der Zeit des Cordon sanitaire standen dem Reichskanzler ebenso feindlich gegenüber wie der russischen sozialistischen Union. Auf einer Freitreppe zeigt sich mir der Duce zu Pferde, beweisend, dass ein wirklicher Staatsmann jeden Gaul eine Treppe hinaufbugsieren kann, ohne sich den Hals und dem Gaul die Beine zu brechen. An diesem Morgen hat der Duce noch nichts geleistet, ausgenommen in Äthiopien, zum Schaden des Negus, dem Löwen von Juda; er ist allerdings ausgeritten, falls dies erwähnenswert ist. Der Staat kann schon mal eine Stunde lang ohne Lenker auskommen, zumal dieser sogleich das Reitgeschirr mit dem Staatsgeschirr vertauschen wird. Ein Premier betritt die Arena, um zu verkünden: I would say to the house I have nothing to offer but blood, toils, tears and sweat ... Mama schrieb ins Tagebuch: Jakob kennt sie schon alle mit Namen; zeigt man ihm die Bilder der Staatsmänner äußert er Zustimmung oder Abscheu, ganz so wie es in den Zeitungen steht.

Genug, der geneigte Leser wird an der Wiedergabe dieser Probe meines Könnens und Mamas Eintragungen erkennen, dass Inspiration und Sehergabe keine gering zu achtenden Gaben, und dass sie vor allem keine Glücksache sind. Hätte meine Familie eine wirkliche Anlage zur Prophetie besessen, die Mama mir unterstellte, so wäre ihr manches erspart geblieben, und wäre unser Volk gleich mir gerüstet gewesen, wer weiß, welchen Gang die Geschichte genommen hätte, aber schließlich wendete sie sich auch ohne meine Mithilfe nach dem ihr eigenen undurchschaubarem chaotischen Gesetz des Allmächtigen Chronos. Erwachte ich aus meinen düsteren und quälenden Träumen, so blickte ich in ratlose Augen. Meine Familie, Doktor Wilhelmi und selbst Hochwürden standen meinen Höhenflügen, die Mama ihnen aufredete, hilflos gegenüber. Wie sie berichtete, bildeten sich Schweißtropfen auf meiner reinen kindlichen Stirn; unnatürlich geweitet seien meine übrigens tuscheschwarzen Augen gewesen, und mein Puls sei nach den Feststellungen des Arztes zu schnell gegangen. Mama schrieb übertreibend: wie ein Maschinengewehr.

Danach, das heißt nach Eintritt des von der Geschichte produzierten Ereignisses, sei ich in einen Erschöpfungsschlaf gefallen, aus dem heraus ich bisweilen unartikulierte Laute im sogenannten Zungenreden gestammelt habe. Schließlich, als ich später dieses System begriffen hatte und mich willig verleiten ließ meine seherischen Fähigkeiten abzurufen, wann immer sie wollten, konnte ich zwar noch keine Mitteilungen von den geschauten Bildern machen, wohl aber Signale aufnehmen, die andere aussendeten und weitergeben. Laut Überlieferung fielen die Interpretationen meiner Zustände sehr unterschiedlich aus. Großvater meinte, alle Träume kämen aus dem Bauch, ich hätte mich überfressen; allerdings ist meine Esslust groß gewesen. Großmutter, die sich immer zurückhielt, bis sie sich eine Meinung gebildet hatte, schwieg. Mama ging umher und legte mit einer ihrer charakteristischen Gesten die Fingerspitzen an die Schläfe, versichernd, sie wisse nicht mehr weiter mit diesem genialen Knaben. Doktor Wilhelmi mag sie getröstet haben, die Wahrheit müsse ertragen werden, eine Wahrheit, die in überreizten Nerven bestehe. Aber sie, Fräulein Ponte, würde mit der den Frauen eigenen Zähigkeit durchhalten bis zum Ende; er hoffe nicht, dass sich die bei mir beobachteten Symptome zum klassischen Krankheitsbild der Schizophrenie ausbilden würden, keine ganz ungefährliche Diagnose in diesen Zeiten und Folge eines in rassischer Beziehung womöglich leichtfertig eingegangenen sexuellen Verhältnisses ...

Ach, es war ein Schelmenstück, das sie um meinetwillen aufführten! Er kannte die Wahrheit nur zu gut. Vermutlich habe ich Doktor Wilhelmi durch ein mir früh zugeschriebenes seelisches Ungleichgewicht dahin gebracht, zu sich selbst und zu den Phänomenen des Geistes über das einem Arzt durch die Universität seinerzeit vermittelte Wissen und der gewöhnlichen Klinikpraxis hinauszufinden. Stehe nicht an, kühn zu behaupten, aus ihm einen Neurologen und Freudianer gemacht zu haben, als jener gerade in England Asyl gefunden hatte, worauf er allerdings verstarb. Zu Doktor Wilhelmis persönlichen Wenden gehört übrigens der Wechsel von den rassehygienischen Anschauungen zur Genetik und einem gewissen Freudianismus, oder schon darüber hinaus, aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. An diese Prognosen und Spekulationen über meinen Gesundheitszustand beteiligte sich Hochwürden Fabian in der durch seinen Beruf und sein Kirchenamt vorgeschriebenen Art und Weise, wie er mir später, als ich mehr von den Dingen zwischen Himmel und Erde verstand, erklärt hat. Niemand habe schließlich wissen können, was in mir vorgegangen, ob nicht der Exorzist anzurufen sei, um den Fall zu klären, ja, er selbst sei beinahe zum Teufelsanbeter geworden, was ja letztlich die Bestimmung des katholischen Geistlichen.

Muss gesagt werden, dass Doktor Wilhelmi solchen Auslassungen mit höhnisch vorgeschobener Unterlippe lauschte? Kann es verwundern, dass Mama nur erschrocken und schützend die Hände über mich hielt? Oder dass Großvater, obschon ein gestrenger Nationalsozialist eine ängstliche Natur, hinter den Ohrensessel seiner Frau flüchtete und sich dahinter verbarg? Einzig Großmutter blieb unbeeindruckt. Ihr Blick soll mit verlegen nachdenklichem Ausdruck auf mir geruht haben. In der Tat wäre es mir in jener Zeit schlecht ergangen, würde sich die Diagnose Doktor Wilhelmis bestätigt haben. Hervorzuheben ist also, dass er damals noch in den Vorstellungen der wissenschaftlichen Welt und einer positiven Euthanasie lebte. Der den Altgriechen vertraute schöne Tod als eine Form der Befreiung von irdischer Unvollkommenheit, hatte in unserem Hausarzt einen entschiedenen Verteidiger, der Euthanasie nicht als Widerspruch zum ärztlichen Ethos empfunden haben mag, ein Sachverhalt, wie er mir später, als alle Bedenken gegen meine Zustände durch Zeit und Ereignisse gegenstandslos geworden waren, mit geheuchelter oder wirklicher Reue eingestanden hat, mit einem Bekenntnis zum Humanismus verbunden! Es gibt, wie man sieht, auch bei Akademikern nur Gelegenheiten, und keine dauerhaften Überzeugungen.

Was ist aus jener Zeit noch zu berichten? In unserem Haus und in unserer Familie gab es keine nationalsozialistischen Aktivisten, keinen SA- oder SS-Mann, keinen Amtsträger, Großvater ausgenommen, der zum Blockwart des nur von uns bewohnten Knochenhauerinnungshauses ernannt und später Verteidiger unserer Stadt wurde. Aber alle Hausgenossen kamen herauf in mein Zimmer, um freudig zuzustimmen, wenn auf dem Rathaus Platz die Hitlerpartei ihre Anhänger sammelte, zum 1. Maifest, zum Erntedank, zur Sonnenwende und zu manch anderen Feierlichkeiten der Regierung der nationalen Erhebung. Mit Genugtuung lauschten wir den Fanfaren, die zu uns heraufschmetterten und selbst ich Winzling soll mit dem kleinen ungelenken Fuß den Takt des Badenweiler Marsches gewippt haben, der Lieblingsmusik des Führers.

Im Mai des Jahres 1935 war ich zur Welt gekommen; bald konnte ich sprechen, nicht so vollendet wie später, als ich der Pflege meiner Muttersprache die volle Aufmerksamkeit schenkte, bis ich in die Hände der Schauspiellehrerin Charlotte Lingen-Lebruyn geriet und vermittels Kieselsteine im Munde neu zu artikulieren lernte. Ich lief in der Stube hin und her, warf dies und jenes um, verlangte mit sehnsüchtigen Gebärden nach den beiden Büsten, von denen ich oben sprach. Sie wurden mir verweigert, als zum Spielen ungeeignet. Das Leben ging seinen ruhigen Gang, in unserem Städtchen geschah nichts, oder es geschah später als anderswo und bei niedrigeren Temperaturen. Beispielsweise hatten auch wir unsere Kristallnacht, an der ein paar Leute auf dieser wie auf der anderen Seite mit unterschiedlichen Empfindungen teilnahmen. Immerhin: Glas habe sich bei Jakob in angstvoll gesehenen Bildern gezeigt, schrieb Mama, als ihr kurz vor dem Geschehen eine Kristallvase aus den Händen glitt und zerbrach; da habe der hellsichtige drei Jahre alte Knabe aufgeschrien, ohne das Bevorstehende mitsamt seinen Folgen in Worte kleiden zu können. Indessen besaß die Stadt in einem versteckten Winkel eine Synagoge, die merkwürdigerweise nicht von uns, sondern von einer britischen Fliegerbombe in Brand gesetzt wurde und verbrannte. Und selbst wenn es mir vergönnt gewesen wäre, zu schildern, was in meinem Inneren vor sich ging, wahrscheinlich gar nichts, so entsprach die Reife der Erwachsenen um mich kaum ihrer Fähigkeit, Geschichte zu machen oder sie bloß zu verstehen; sie wären keineswegs auf der Höhe meiner Visionen gewesen.

Ich sollte noch sagen, dass mir in jener Zeit erste erotische Gaben zuteilwurden. Ob sich indessen mein sexuelles Leben auf das ungestillte Zärtlichkeitsbedürfnis meiner armen Mama zurückführen lässt, die kein anderes Objekt ihrer Liebe als mich besaß, auf die heißen Bäder, die mir Großmutter bereitete, oder ob es sich einfach um einen mir angeborenen tierischen Trieb zur Fortpflanzung handelt, will ich nicht entscheiden, auch kann natürlich von keinem Ödipuskomplex oder der heimlichen männlich-weiblichen Kastrationsangst die Rede sein, denen der Meister des nicht Vorhandenen solche enorme Wirkungen auf unser Versagen beim praktischen Gebrauch unserer Möglichkeiten zuschreibt. Mein Penis wie mein Hirn ahnten also nicht, was er ihnen zugedacht hatte. Bereits in meinem dritten Lebensjahr regte sich allerdings mein Fleisch, zum Erstaunen Mamas, die hinter diesem Eintrag in ihr Buch ein Fragezeichen setzte. Nahm mich eine Dame auf den Schoß, so habe sie gewärtig sein müssen, dass sich mein Verlangen darauf richtete, ihre Brüste zu betasten und sie intensiv zu belecken. Mit kühlem Gesichtsausdruck soll mich diese oder jene von sich gewiesen haben, als ein allzu aufdringliches Kind. Allein es kamen keine Damen zu uns. Diese Nachrede könnte zu den Legenden meines Lebens zählen; an sexuellen Empfindungen ist mir aus jener Zeit nichts in Erinnerung geblieben. In diesem Punkt bin ich ganz auf Erwachsenenberichte angewiesen oder auf die Lehre des Hellsehers Sigmund Freud ...

Jakob Ponte

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