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3. Kapitel

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Jeweils am Mittwoch erschien er nun zum Mittagessen und nutzte die Zeit bis zum Kaffee, um mich in christlicher Religion zu unterweisen. Viel erinnerlich ist mir daran nicht, allein ich sehe ihn bequem im Sessel zurückgelehnt sitzen, die Hände über dem Leib verschränkt, ein Bein vorgestreckt, während ich ihm gegenübersitze, auf einem niedrigen Hocker ohne Lehne. Seine Stimme klingt heiser, aber nicht unangenehm, untermischt mit dem Latein, in dem er für gewöhnlich dachte. Ich kann nicht sagen, dass ich in dieser Zeit viel oder etwas Besonderes bei ihm gelernt hätte, nicht in diesen ersten Jahren, aber nach und nach kamen wir beide in ein freundschaftliches Verhältnis miteinander. Er pflegte mir mit seiner behaarten Tatze den Kopf zu streicheln; offenbar hatte ich sein Herz berührt. Vertrauensvoll lehnte ich meinen dürren Leib an seinen mächtigen Schenkel und genoss die körperliche Wärme, die er ausstrahlte. Es ist wohl möglich, dass ihm, dem Kinder im eigenen Hause versagt waren, bei meinem Anblick schmerzlich bewusst wurde, worauf er verzichtet hatte. Blindlings vertraute ich ihm, nahm jedes seiner Worte auf wie das Evangelium, und es war ja auch das Evangelium, das er mich lehrte. Aber ich war klug genug, mich vor seinem Zorn zu hüten. Obschon ich den Begriff des Sanguinikers nicht kannte, sah ich wohl, dass er sanft sein konnte wie ein Lamm und rasend wie ein Löwe. Wutanfälle dauerten bei ihm nicht lange, seine Stirn glättete sich, er lachte über sich, schlug wohl auch ein rasches Kreuzeszeichen, gleichsam, um sich bei seiner obersten Behörde für das Vergehen zu entschuldigen, und war wieder der alte. Der Ausdruck Wahlvater, den ich damals von ihm hörte, ist insofern irreführend, als nicht ich es war, der einen Vater gewählt hatte. Zutreffender könnte ich mich als seinen Wahlsohn bezeichnen. Aber aufs Ganze betrachtet, hatte ich Glück; denn bald bekannte ich mich vorbehaltlos zu diesem Mann, respektierte und liebte ihn wie einen Vater.

Es ging überhaupt aufwärts mit mir. Vor meinem Tischklavier sitzend, schlug Großvater eine Harmonie an und hieß mich die Tonart erraten; selten habe ich ihn enttäuscht. Es wird den Leser nicht in Erstaunen versetzen, wenn ich behaupte, dass sich sehr früh meine ausgesprochene Tonbegabung zeigte. Es gelang mir nicht nur stets, den Ton genau zu treffen, bald vermochte ich ihn sogar schon zu gestalten, konnte ihn an- oder abschwellen lassen, ihm das Crescendo geben, das Großvater vorsang oder vorspielte, sodass er ein über das andere Mal in helle Begeisterung fiel und vor Freude weinte. Aber ich war nicht nur Vokalmusiker, sondern auch Instrumentalist und vermochte jene leichten kurzen Stücke auf dem Klavier wiederzugeben, die der junge Mozart zur Freude seiner Familie und zur Beglückung der fürstlichen Höfe gespielt und komponiert hatte. Was die Musik betrifft, so verspürte ich tatsächlich große Genugtuung, wenn ich am Klavier üben durfte. Manchmal schielte ich zur Geige, der Hinterlassenschaft meines verschollenen Vaters. Großvater bedeutete mir, es handele sich um ein schwierig zu erlernendes Instrument. Man brauche dafür ein absolutes Gehör. Überdies handele es sich um eine Vollgeige; mir werde allerdings im kommenden Jahr gestattet sein, auf einem zunächst kleineren Exemplar, der sogenannten Viertelgeige, meine Begabung zu beweisen. Sollte ich Talent zeigen, so wollte er aus mir einen Meister machen. Sonderbarerweise konnte er viel Zeit mit der Musik verbringen, soviel, dass ich ihn einmal fragte, warum er nicht Musiker geworden sei. Da war das Geschäft; sein Vater hatte kein Interesse an der Musik, übrigens galt er im Musikverein als eine Autorität. Großmutter, die unser Gespräch mit dem Geklapper ihrer Stricknadeln begleitete und sich von Fall zu Fall einmischte, bemerkte hierzu:

»Eine Autorität? Ein Affe ist er! Mach Er mir den Jungen nicht verrückt!« Im Herbst übten er und ich etliches an leichter Weihnachtsmusik, von den Kinderlein, die da kommen und von dem Tannenbaum mit grünen Blättern, die es auch nicht gibt; aber während des Januar, nach Drei Könige, studierte der Domkantor mit dem Laienchor die Es-Dur Messe Schuberts ein, und ich hatte dank meiner Stimmbegabung die Ehre seine Sopranstimmen zu verstärken. Diese Messe, ein wunderbar reines Vokalwerk, eröffnete mir vom gesprochenen zum gesungenen Gloria, die Macht eines ergreifenden Werkes; sang also das Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis ... und so weiter mit, was Mama zu dem voreiligen Schluss verleitete, ich hätte mich zu einem guten Menschen gewandelt, was durchaus nicht der Fall gewesen ist. Überhaupt irrt, wer annimmt, dass Künstler mit der Gabe ihres Talents moralisch besser ausgestattet sind; im Gegenteil. Sie sind eine Plage außerhalb ihres Metier, Meckerer, Querulanten und Besserwisser und ungeheure Egozentriker. Mama spielte übrigens gelegentlich Flöte, allerdings ohne Lust. Ich erwähne diese Einzelheiten, weil meine musikalischen Fähigkeiten und Bemühungen in diesen Anfängen einen bestimmenden Einfluss auf meine Entwicklung genommen haben.

In jene Zeit fällt ein wichtiges Ereignis. Bis heute wirkt es nach, und ich darf nicht versäumen, darüber zu berichten. Eines Nachmittags ließ mich Doktor Wilhelmi in seine Praxis kommen; mir war nicht gesagt worden, weshalb. Der Arzt, Rassebeauftragter der Müllhaeusener Eingeborenen sollte sie nach ihren Erbanlagen klassifizieren. Nun war mein Vater urkundlich unbekannt, weil Mama seinen Namen nicht preisgeben konnte oder wollte; daher trug ich ihren Mädchennamen, das heißt, von dem Nachweis arischer Herkunft war ich so weit wie nur möglich entfernt, zur Hälfte immerhin nach den Nürnberger Gesetzen ein Mischling. Nun hätte Hochwürden Fabian den Namen meines Vaters vielleicht angeben können, er schwieg, gab vor, den Zettel mit dessen Personalien vernichtet zu haben, weil ja aus der vorgesehenen Trauung nichts geworden sei und die Sache somit erledigt. Eine andere Auskunftsquelle, das Standesamt, versagte ebenfalls, weil sich herausstellte, dass mein vorgeblicher Vater niemals die Trauung beantragt hatte. Aus dem Gästebuch des Hotels Zum Löwen war ebenfalls nichts zu entnehmen, als ein Name, der natürlich nichts besagte, auch wenn er durch die Kennkarte, dem damaligen Ausweis, bestätigt worden war. In meinem Falle hätte demnach geklärt werden müssen, ob ich als den Deutschen zugehörig angesehen werden konnte oder nicht. Allein wo sollten sie suchen, wenn es keinen Hinweis auf meinen Erzeuger gab? Eine Geige, die Meerschaumspitze und ein Bild mit fragwürdiger Widmung, damit wollte sich der Staat nicht zufriedengeben. Allerdings gab es eine wissenschaftliche Methode, meine arische Abstammung zu ermitteln und Gutachter war Doktor Wilhelmi. Soviel, um das Folgende zu erklären ...

Über der Uniform mit den beiden SS-Runen am Kragenspiegel trug der Arzt einen weißen Kittel und wirtschaftete lange mit einem zirkelartigen Werkzeug an meinem Kopf herum und rief seiner Gehilfin Zahlen zu, die diese in ein Formular notierte, indessen ich vollkommen nackt vor ihm stand; er ließ mich die Füße auswärts und einwärts stellen, griff mir in den Mund, hob meine Augenlider und betastete die Linie meines Rückens. Was er gemessen und getastet haben mag, vermag ich nicht zu sagen; allein mir war beklommen angesichts des Ernstes, mit dem ich untersucht wurde. Auf dem Tisch stand ein Spiegel, sodass ich mein Gesicht erblickte. Es war schmal, von schwarzem Haar umrahmt; mit meinen geschlitzten Augen ähnelte ich einem hinterhältigen gefährlichen Asiaten von minderwertiger Menschenart. Mein Mund erschien schmal und farblos. Ich zog die Lefzen hoch und fletschte die Zähne, die bläulich weiß gewesen sind aber in einer geraden Reihe lagen. Ob ich mir gefiel, kann ich nicht sagen, aber ich betrachtete mich zum ersten Mal wie einen Fremden in einem Spiegel.

»Warst du schon einmal im Kino, Jakob?« Auf meine verneinende Antwort sagte er: »Dann wollen wir es einmal versuchen. Vielleicht bekommen wir dadurch Klarheit über dich.« Ob Doktor Wilhelmi sich exakt so ausgedrückt hat, muss dahingestellt bleiben, nur dass seine Überlegungen in diese Richtung gingen, das ist sicher. Müllhaeusen war mit Kinos nicht gerade gesegnet; es hatte überhaupt erst vor Kurzem eins bekommen, von uns als Flohkiste bezeichnet, das sich wachsenden Zuspruchs erfreute.

Wir setzten uns in den Zuschauerraum, hörten Musik und sahen die harmlosen Werbungen für Brillengestelle und Persilpackungen. Dann aber erschien zu klingender Musik, der ein sieghafter Zug nicht abzusprechen war, ein Adler, von Licht umstrahlt. Die Deutsche Wochenschau, dieses Musikmotiv sollte ich nicht wieder vergessen. Endlich flimmerten die Bilder vor meinen Augen, die ich in meinen Nächten visionär geschaut hatte: Kolonnen der Wehrmacht, Panzer und fliegende Waffen; den Duce, mit vorgerecktem Kinn auf einem weißen Pferd, unseren Führer und Reichskanzler, den englischen Premierminister und andere. Doktor Wilhelmi beugte sich zu mir und fragte mich im Flüsterton, ob ich diese Personen wirklich alle schon im Traum gesehen hätte, Männer, die Hunderte oder Tausende Kilometer entfernt von mir lebten. Ich besaß keinen Begriff von Entfernungen; mir schien aber, dass wir alle in einem sehr nahen, einem sehr engen Raum lebten, und dass unsere Schicksale zusammenhingen. Die großen Heersäulen mit den lachenden und singenden jungen Männern zogen an mir vorüber. Mich überwältigten die Bilder auf der Leinwand. Herrliche Fahnen mit Hakenkreuzen, die ich freilich schon aus eigener Anschauung kannte, sie flatterten mir in dieser Zeit meines jungen Lebens voran, wenigstens bis zur ersten Wende, das heißt, bis sie verboten wurden. Sogar Großvater kletterte auf einen Stuhl und steckte unsere Fahne in die dafür vorgesehene Blechhülse, wenn die Jugend oder die SA marschierte. Was ich im Film sah, erregte mich; ich war außer mir beim Anblick all dieser Bilder; freudige Zustimmung griff in meinem Herzen Platz. Ich muss bei dieser Gelegenheit ausführlicher werden …

Auf der Suche nach den Spuren meiner politischen Klarsicht steige ich hinab in die Tiefen meiner frühen Existenz, um zu erkennen; mag das Bild, welches ich hier abliefere, auch lückenhaft erscheinen und bleiben müssen. Niemals werde ich mich dazu verleiten lassen, eine Aussage über meine Fähigkeiten zu treffen. Das Urteil darüber steht nur dem Parapsychologen zu, oder wer sich sonst in diesem unwegsamen Gelände von Telepathie, Psychiatrie, Soziologie, Politik und Unsinn auskennen mag. Das ganze Unglück habe mit einem Manne namens Freud begonnen, einem aus Wien nach England emigrierten Juden; eine frühe Bemerkung Doktor Wilhelmis, dem Tagebuch Mamas entnommen, die alles mich und ihn betreffende eintrug. Diese Sentenz blieb mir im Gedächtnis, wie ich immer wachsam auf sprachliche und andere Mitteilungen geachtet habe, jedenfalls seit ich bewusst zu leben und zu denken anfing, als ein mir mitgegebenes Talent, zu beobachten, die Zeit nicht zu verschlafen, wenn auch ohne den Ehrgeiz, einzugreifen.

Vermutlich wird der Leser, diese mythische Größe, an dieser oder auch schon an anderer Stelle zu der Feststellung kommen, der junge Jakob dürfte kaum so komplizierte Gedanken gehabt haben. Das mag für gewöhnliche Kinder zutreffen, nicht aber für Wunderkinder, wie sie heute von sitzen gelassenen und übermotivierten SchriftstellerInnen in großer Zahl herangezüchtet werden, freilich nicht nur von Schriftstellerinnen; sie alle verfangen sich zur Züchtung einer neuen freiheitlichen Menschenklasse, auch ohne rassische Auslese. Seht euch daraufhin die Biografien an! Ich darf mich als ein Vorgriff bezeichnen. Im Folgenden will ich näher darlegen, wo meine Erfahrungsgrenze verlief, die zu überschreiten mir damals nicht gelingen konnte. Die mitzuteilende Episode enthält aber auch den Fingerzeig, wo die Erwachsenen die ihre hatten, und was herauskommt, wenn man mehreren Herren zugleich dienen will.

Jakob Ponte

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