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2. Kapitel

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It is better to be beautiful than to be good. But it is better to be good, than to be ugly, so die Erkenntnis Oscar Wildes. Es wäre für mich allerdings besser gewesen, anstelle von Latein, die neue Herrensprache des Zeitalters zu erlernen. Dass es besser ist, schön zu sein als gut, ist vielleicht traurig aber leider wahr, und daran ändert auch die Feststellung nichts, zum Ausgleich lieber gut zu sein oder zu scheinen, als hässlich. Mit Schönheit ist mehr auszurichten als mit Güte, und dass dem Kretin nichts anderes übrig bleibt, als die platonische Nächstenliebe mag ihm immerhin im Himmelreich nutzen. Etwas lernte ich aber doch von diesem Rotwelsch; O. K., wie es bald als Bestätigung von überallher klang. Ich sollte hier schon etwas Allgemeines zum Begriff Wende einfügen, der für uns Deutsche ungefähr die Bedeutung von Erneuerung, Besserung und Renaissance hat, mit der Begleitmusik unserer alleinigen Schuld, indessen alle anderen moralisch glänzend dastehen, oder sich wenigstens so gerieren, ohne dass sich wirklich etwas ändert oder gar bessert. Nach dem Kriege AD 1945 erfanden wir auf der Suche nach einem Wort die Bezeichnung Wende für die uns auferlegte oder zugewiesene Umkehr, dem vermeintlichen Neubeginn, der hysterischen Renaissance nach Heinrich Mann. Die rechtfertigenden Schriften der Gewendeten oder Gebesserten befleißigen sich alle der späten Reue; die Ungewendeten erschienen als besonders dumm und abgefeimt oder rückständig, zur Reue wie zur Trauer über das Geschehene unfähig, blieben also hinter dem erwünschten moralischen Fortschritt zurück und bekamen den Sammelbegriff Nazis. O. K.! Ach, Zeitgenossen! Wir armen gewöhnlichen und bösen Menschen sind und bleiben auf ewig die Verführten, denen man den Kotau vor der jeweils neuen Macht dreist genug abverlangt, und dazu die Unterwerfung des Geistes vor der materiellen Gewalt fordert. Das ist die ganze furchtbare Wahrheit! Und hübsche Menschen sind auch nur manchmal glücklicher als hässliche, wenigstens bleiben sie nicht hübsch.

Schön und akkurat anzusehen war der amerikanische Friede, soweit es Äußerlichkeiten betraf, aber übrigens war diese Wendemacht für unser Städtchen entschieden zu groß, wenigstens aus meiner kindlichen Sicht, der die große historische Dimension dieses herrlichen Friedens verborgen blieb, dem der noch unbestätigte Tod Großvater näher ging, als das Schicksal all der Verfolgten und Verbannten und Getöteten unter dem vergangenen Regime, vor, während und nach dem Krieg. Täglich, so schien es, erreichten junge und gesunde Männer aus allen Teilen der Vereinigten Staaten von Amerika unsere Stadt und hofften eine Weile hierzubleiben. Zu meiner Überraschung waren einige von ihnen recht schwarz; vom Völkergemisch der USA hatte ich keine Ahnung, und auch mein lieber Vater Fabian schien mit der Frage überfordert, weshalb Neger in Amerika und nicht in Afrika lebten, wohin sie von Rechts wegen gehörten. Die Masse der parkenden, der an- und abfahrenden Fahrzeuge und Geräte, der Jeeps, wie sich der Begriff für diese kleinen offenen Autos rasch einbürgerte, konnte unser Marktplatz kaum noch fassen. Aus dem Barackenlager erschienen hin und wieder aber regelmäßig ein paar der von Großvater einst beaufsichtigten zurückgebliebenen Fremdarbeiter, die sich keineswegs wie ich gedacht hatte, auf dem Heimweg nach Ost oder West befunden hatten, sie suchten in unserem Haus nach ihrem einstigen Aufseher, also Großvater, schrien viel und laut und in allen Muttersprachen, schüttelten drohend die Fäuste und nahmen mit, was ihnen gefiel, wenig und Wertloses, dank der Voraussicht Großmutters. Gleichmütig hörte sie ihre Vorwürfe mit über der Brust verschränkten Armen an, duldete es auch, dass der eine oder andere Interesse für übrig gebliebenen Tand aus unserem Laden aufbrachte und als Andenken mitnahm, und erklärte diesen Leuten, dass Großvater, ihr einstiger Aufseher bereits in Haft genommen oder vielleicht schon erschossen worden sei. Unzufrieden zogen diese Kerle ab und mehr als Drohungen, uns abzuschlachten, war bei ihren Besuchen bisher nicht herausgekommen.

Endlich wurde unser Laden zum Durchgangslager; überall im Hause traf man fremde Uniformierte, die sich aufführten, als seien sie hier die Herren, die in unserer Küche kochten oder brieten, was sie irgendwo ergattert oder gestohlen oder mitgebracht hatten, indessen Großmutter die vollkommenste Ruhe behielt und den Überblick. Wertsachen hielt sie gut verborgen aber den Laden Tag und Nacht geöffnet. Allein es hätte auch nicht viel genutzt, ihn zu verschließen. Schlimmer als uns erging es dem Café Links; die Amerikaner beschlagnahmten es sogleich und gestalteten den Gastraum nach ihrem Geschmack zu einer Tanzbar und einem Bordell um. Das zierliche Gestühl, die winzig kleinen Marmortische, die schöne und wertvolle Einrichtung wurde herausgeschafft, soweit sie beweglich war und auf dem Pflaster vor dem Café aufgeschichtet. Niemand hinderte den Besitzer daran, seine Sachen durch Plane und Laken einigermaßen zu schützen, und vor der Nässe des Frühjahrsregens zu bewahren. Erschüttert ob dieses Verlustes brachte Herr Links seine Habe, soweit ihm erlaubt und er ihrer habhaft wurde, in unsere Kellerräumen. Großmutter tröstete ihn, hielt ihm vor, dass nach sechs Jahren Krieg, an dem die halbe Welt beteiligt gewesen war, dieser Friede kommen musste, wie er nun gekommen war, mit Jux und Lust, und dass es galt die Zeit durchzustehen, bis die Sieger selbst das Interesse daran, an der Unordnung verloren. Sie riet ferner, über alles Verlorene Buch zu führen, um später die Schäden berechnen zu können. Bei der Bestandsaufnahme zeigte sich, dass diese Verluste, falls es bei dem blieb, nicht so groß waren, wie Herr Links vermutet hatte, und dass auch die Diebstähle im Knochenhauerinnungshaus leicht auszugleichen sein würden, wenn denn sehr bald eine Art Ordnung eintreten werde, woran Großmutter nicht zweifelte, als im Interesse der Sieger liegend. Auf den Einwand Herrn Links, dass mit dem Tode des Führers, der ja übrigens doch eigentlich für all das haftbar gemacht werden müsse, überhaupt kein Weiterleben mehr denkbar sei, sprach Großmutter trocken, das Kapitel Führer sei fürs Erste abgeschlossen; der Herr Links möge an die Lehre vergangener Tage denken, als es hieß, genießet den Krieg, der Friede werde furchtbar, und dies sei wohl erst der Anfang und keineswegs wirklich furchtbar …

Im Café Links wurden, wie ich staunend beobachtete, bequeme Sessel aufgestellt, von überall hergeholt, stabile Tische anstelle der Einfußtische herangebracht und die Theke zu einer amerikanischen Bar umgebaut. In die alten Regale aus wertvollem Tropenholz drängten sich Schnapsflaschen und Gläser, ein merkwürdiger Schönheitssinn hängte Filmplakate und Mädchenfiguren wie sie uns wenig bekannt oder auch Reklamen irgendwelchen Inhaltes. Beim gelegentlichen Hineinsehen an einem Vormittag entsinne mich der eindrucksvollen Aufforderung eines ziegenbärtigen Yankees im bunten Rock mit einem hohen Zylinder, der den ausgestreckten Zeigefinger auf mich gerichtet hatte und mir mitteilte: Uncle Sam needs you! Womit ich allerdings nicht gemeint sein konnte, flüchtete aber dennoch, ohne den Sinn dieses Dinges zu verstehen.

Der Klub war Tag und Nacht geöffnet. Vor dem Café patrouillierten einige kräftige junge Lümmel in sauberen Uniformen, mit weißen Helmen und Handschuhen, ihre Military Police, und hinderten jeden, der keinen Zutritt hatte, daran die Schwelle dieses Paradieses zu übertreten. In den kurzen Ruhestunden gegen Morgen nach durchsoffener Nacht räumten und wischten einige deutsche Domestiken den verschmutzten Laden auf, bis mit den ersten anfahrenden Jeeps der Betrieb wieder losging. Es heulten die Saxofone, dröhnten die Bässe, erschütterte mit rhythmischem Lärm das Schlagzeug Haus und Straße, und dies als eine Art Jazz zu erkennen, fiel uns jungen Menschen nunmehr leicht. Jan zumal erinnerte an den Gast des Kriegsfriedensjahres, der auf dem Stutzflügel des Cafés einen gleichen Klang erzeugt hatte, und ich konnte meine Erfahrungen aus Mamas Plattensammlung beisteuern.

So lebten denn bei uns viele Leute, meine Großmutter, ich und Helene, die beiden Schramms, die als Dauerbewohner hinzugekommen waren die drei exmittierten Links’, Vater, Mutter und Jan. Zuletzt bat auch noch Herr Oberstudienrat Kniri um Asyl, weil in seinem Haus die amerikanische Kommandantur eingerichtet werden musste und ihm die Benutzung seiner Wohnung verboten wurde.

Wir hatten wie unter einer schützenden Glocke gelebt, in Ruhe und in Frieden; was hier über das Städtchen hereingebrochen, das war gänzlich anderer Lebensart. Und die Träger dieser groben Kultur legten eine wachsende Arroganz an den Tag. Obschon mir unser Haus immer als groß erschienen war, wurde es nun doch eng. Hochwürden Fabian, seines Zeichens Diakon, versorgte in den Räumlichkeiten, die zu seiner Kirche gehörten, Flüchtlinge und Obdachlose, Kranke und Sterbende mit Medikamenten, Lebensmitteln und Kleidung. Nach einer kurzen Inhaftierung, nach Verhören und einer Registrierung, sowie der Androhung eines juristischen Verfahrens wegen seiner Nazivergangenheit, erschien Großvater müde und abgeschlagen wieder bei uns und vergrößerte unsere marode Truppe. Karl war übrigens von Herrn Oberstudienrat erst einmal ins Bayrische geschickt worden, und wir wussten nicht, wo er sich aufhielt und wie es ihm ergangen sein mochte. In unserer Runde von Kriegsverlierern fehlte noch immer meine arme Mama, in Weimar gefangen genommen, in ein Internierungslager geschleppt, hatte sie uns immerhin Nachricht gegeben, noch am Leben zu sein und hoffe, nach einer Überprüfung bald entlassen zu werden.

Die provisorische Stadtverwaltung sollte die Versorgung wieder in Gang bringen, Vorräte beschlagnahmen, soweit noch vorhanden und sicherstellen. In der Tat schützte meinen Meister Fabian sein geistliches Amt, die Besatzungsoffiziere waren überraschenderweise in der Regel Christen, auch die Schwarzen, wenn auch jeder nach seiner Art. Bei den Messen, die mein Vater Fabian regelmäßig und häufiger als gewöhnlich hielt, kamen sie, um zu schauen und hielten unsere römisch katholische Liturgie ohne Zweifel für Götzendienst einer ihnen unbekannten Sekte oder Ketzerei.

Mein lieber Wahlvater revanchierte sich für die Gastfreundschaft, die ihm Großmutter stets gewährt hatte, in dem er aus seinem Kontingent Lebensmittel für uns abzweigte, das heißt, seinen Schutzbefohlenen, den Flüchtlingen entzog. In dem Chaos nach einer Ordnung zu suchen, das konnte mir nicht einfallen. Indessen gab es für uns Jungen manches Lehrreiche zu beobachten: Vor dem Klub für amerikanische Offiziere stellten sich alsbald eine Menge anreisender Huren oder Nutten ein, die Tripper und andere Seuchen verbreiteten; so belehrte uns Herr Links, über die Gefahren freier Liebe warnend genug. Schwerlich konnten wir uns darunter etwas vorstellen; uns, das ist sein Sohn Jan und ich, sein Intimus. Natürlich hatten wir keine Ahnung, wie hoch der Bedarf an käuflichen Frauen in einem Städtchen wie dem unseren sein durfte, einige Zigtausend Menschen vorübergehend, zuzüglich das Vierfache an Soldaten, junge, potente amerikanische Männer, denen der Umgang mit deutschen Frauen nicht erlaubt war. Was auf den sogenannten Schwarzen Markt kam, stammte als Diebesgut aus Militärbeständen. Und die das Geschäft vermittelnden Veronicas, wie sie bald im Jargon genannt wurden, organisierten den Warenverkehr zwischen Siegern und Besiegten. Weshalb übrigens der Name Veronica, einer großen katholischen Heiligen, missbraucht wurde, konnte ich mir nicht erklären. Ihre Dienste wurden in Naturalien bezahlt. Als die Beziehungen zwischen Huren und Militär schon ziemlich geregelt waren, was kaum mehr als einige Tage in Anspruch genommen hatte, lief der Naturalienhandel reibungslos. Aber sie waren da, diese Veronicas, erschienen in Kompanien und Zügen geordnet und verbreiteten lachend Leben und den fröhlichen bunten Tod.

Das Café fasste natürlich nicht alle diese überseeischen Herrschaften und ihr venerisches Gefolge. Sie wurden in günstig gelegene Stadtquartiere verlegt. Was sich im Café selbst abspielte, außer der Tanzmusik, die nach außen drang, war nur zu vermuten. Ich stelle hier aufgrund meiner Beobachtungen fest, dass kein anderer Berufszweig einen solchen Bedarf an Unterhaltung wie an Huren hat, wie das Militär. Über den Tag entwickelte sich der Schwarzhandel vor unserem Haus und auf dem Markt zwischen den abgestellten Jeeps und patrouillierender Military Police schwunghaft mit der Standardwährung Zigarette, für die keine umständliche Rechnerei nötig war. Herr Links, der einst so bürgerlich gemütliche Vorsteher eines gut gehenden Caféhauses mit Konditorei nach Wiener Art verwünschte diesen unzivilisierten Frieden ein über das andere Mal und beschimpfte meinen armen Großvater, weil dieser so schnell bereit gewesen war, das Städtchen durch Kapitulation preiszugeben, was ihm nicht einmal genutzt hatte. Solcher Art waren jetzt die Gespräche in unserem Erker, den wir gegen alle Eindringlinge verteidigten, als das einzige uns gebliebene Refugium, in welchen wir auch dicht gepackt nebeneinanderliegend die Nächte zubrachten.

Überall auf den Straßen und Plätzen standen gut genährte Soldaten herum und bissen auf einen merkwürdigen Stoff, der ihre Kaumuskeln wie Ballons aufblähte. Zunächst nahm ich an, es handele sich um altes zähes Rindfleisch. Es war einfach Gummi; hier schien ein ganzes Volk auf der Stufe unberührter Flegelhaftigkeit stehen geblieben zu sein und mit dem Kauen von Baumharz beschäftigt, der ebenfalls zur Handelsware wurde, wovon sie den bettelnden Kindern gern abgaben, um sie das perfekte amerikanische Kauen zu lehren.

Dennoch aber lebte ich wie im Traum: Was sich hier abspielte, das war noch schöner als der Krieg; es war überhaupt der Krieg auf seinen eigentlichen Zweck hin geführt, eingefahrene Verhältnisse umzukehren. Erst lange später in einem Studium Universale sollte ich begreifen, dass Kriege auf Dauer nicht in den Schlachten entschieden werden; die Umwälzung findet in einem Zivilisationsexport statt, Bomben machen nur den Begleitlärm. Wie das berühmte Erdbeben die Armen von Lissabon jubeln ließ, weil die Reichen nun die Stadt wieder aufbauen und den Armen Arbeit beschaffen mussten, so auch hier. Immerfort kamen und gingen Menschen; das Leben glich einem Karneval; aus dem Café dröhnte Musik, flogen die wie Zirkusclowns bemalten Huren ein und aus. Die mit ihrem Unterleib erworbenen Waren, Zigaretten, Kaffee wurden rasch verschachert. Mir war rätselhaft, wann und wo alle diese Weiber denn eigentlich schliefen, da sie unentwegt auf den Beinen schienen. Angeregt lief ich durch die Straßen, reihte mich hier ein, und stellte mich dort als Lauscher auf und entdeckte immerfort etwas Neues, noch Schöneres, das heißt, noch Schlimmeres und studierte die ursprünglichen Handelsformen, Raub und Tausch. Die Armen, die Flüchtlinge glichen dunklen Flecken auf glatter weißer Haut, sie störten das Dasein wie eine Art Aussatz; es war tatsächlich besser für sie, gut zu sein, da sie hässlich und ausgestoßen waren, denen man überdies auch noch die Schuld an der Niederlage aufhalste.

Mir ging es auf die Nerven, ständig vom Bürgersteig herunter springen zu müssen, um einem der schlendernden Sieger Platz zu machen. Unsere Bürgersteige sind nur wenige Meter breit, und zwei GIs, wie sie alsbald hießen, nehmen dreiviertel davon für sich in Anspruch, wenn sie nebeneinander hergehen. Mein Schlaf war ständig gestört, neben dem gewöhnlichen Lärm, den ein Militärlager erzeugt, knatterten in der nächtlichen Stille auch hin und wieder Schüsse, Salven aus Maschinenpistolen als eine Form des Sieges. Wahrscheinlich würden die Heutigen solche dringenden Erinnerungen als ein Trauma bezeichnen und eine lange spezielle psychiatrische Behandlung empfehlen, nicht bedenkend, dass es sich um einen wichtigen und kostbaren Besitz an Wissen handelt, wie man in einem Chaos überlebt.

Obschon wir sehr beengt hausten, wurden eines Tages einige weitere Offiziere dieser perfekten bornierten und eleganten Maschinerie in unserem schon gefüllten Haus einquartiert. Sogleich beanspruchten sie unseren Erker und schickten alle Hausgenossen nach oben in die Bodenkammern beziehungsweise in den Keller. Ich überlegte, ob ich nicht mit Jan und Ehrenfried zu meinem Wahlvater umziehen sollte, sicher, dass er uns als seine lieben Ziehsöhne willkommen heißen und aufnehmen würde, da er von Einquartierungen verschont geblieben war, als es zu einem ernsten Zusammenstoß zwischen unseren Siegergästen und Großmutter kam, die endlich doch alle Geduld mit diesen Zuständen verlor.

Die Neuen, wie wir sie zur Unterscheidung von den Alten nannten, bedienten sich des Restes aus unserem Eigentum in der großzügigsten Weise. Großmutter schrie, sie werde sich umbringen; sie würde es tun, wäre ihr nicht ihre religiöse Überzeugung im Wege, die einer Christin den Freitod verbiete. Der Friede, dieses verdammte Ding oder Unding hänge ihr hier oben heraus, bedenkenlos bediente sie sich unserer deutschen Muttersprache. Ein älterer Offizier, in dessen Gegenwart ihre verächtliche Äußerung zum Frieden fiel, musterte sie feindlich; er hielt ein halb gelehrtes Glas in der Hand, schien angetrunken, aber gleichwohl zu verstehen, was sie gesagt hatte. Weil ich die Katastrophe heraufkommen sah, zog ich sie warnend am Rock aus der Gefahrenzone. Indessen stellte der Offizier das Glas auf den Tisch, füllte ein zweites und forderte sie auf, mit ihm auf das Ende der Nazibarbarei zu trinken. Seine Rede hielt er im gutem Deutsch; es mag ein schöner Vortrag gewesen sein, voller Überzeugung und Besserwisserei; davon behielt ich einiges im Gedächtnis, er nannte uns Nazischweine und Hunnen, die es alle verdienten aufgehängt zu werden, sähen sie, was er gesehen, die Verbrechen in ihren Nazilagern, die Tötung von Juden und so fort. Großmutter hob die Schultern, drehte sich um und ließ ihn stehen. Darauf trank er beide Gläser, spuckte aus und schritt, seiner Sache sicher, zum Erker, zu seinen Trinkkumpanen. Auf mein jugendliches Gemüt machte diese Rede keinen großen Eindruck; anscheinend hatten wir Glück, nicht für etwas zur Rechenschaft gezogen zu werden, an dem wir keinen oder nur einen symbolischen Anteil gehabt hatten. Erwartete ich, dass der fremde deutschsprachige Offizier das Haus anzünden werde, um uns mitsamt dem Drin und Dran zu verbrennen, so irrte ich. Nichts geschah, und ich ging ihm neugierig nach, um zu erfahren, weshalb wir am Leben geblieben waren. Zu meinem Erstaunen lag er bloß in seiner eigenen Kotze auf dem Estrich unseres Erkers und brabbelte dummes Zeug.

Vermutlich aber wurde sich das amerikanische Oberkommando darüber klar, dass Müllhaeusen auf die Dauer gegen Huren und Schwarzhandel nicht zu halten sein würde, zumal der Bevölkerung auch die gewöhnlichen Lebensmittel ausgingen und sie nicht allein aus den gestohlenen Beständen der Armee ernährt werden konnte. Der Heerwurm zog wieder ab, wie er gekommen war, gleich das Heer Pharaos nach dem Sieg. Sie gaben uns auf. Das demolierte Café kam wieder in die Hand seines Besitzers, Herrn Links, und wir alle halfen ihm bei der Einrichtung, trugen die geretteten Möbel, die Tische und Stühlchen hinüber und die herbeigerufenen Handwerker setzten, so gut es ging instand, was beschädigt worden war. Herr Links kehrte mit Frau und Sohn wieder heim und eines Nachmittags saß denn auch mein Freund Jan am Klavier und spielte unseren Mozart, ich glaube, das Konzert Nummer einundzwanzig, oder zweiundzwanzig, freilich ohne das dazu gehörige Orchester, wenn nicht das Adagio aus dem Konzert Nummer sechsundzwanzig. Es war wie die Rückkehr in eine freundlich alte Kultur nach diesem Zwischenspiel eines Chaos. Indessen zeigte Jan sich als guter Hörer oder Lernender und fing an mit Synkopen zu experimentieren, wie sie dem sogenannten Boogie-Woogie eigen sind. Unter den Tischplatten klebten die ausgelutschten Gummis, die Frau Links mit einem Spachtel mühevoll entfernte.

Großvater kehrte mager und gebrochen aus der Haft zurück, sprach aber nicht über die Art der Behandlung, die ihm zuteilgeworden war und wir alle bezogen unsere wieder frei gewordenen Zimmer. Frau von Schramm wohnte fortan unten, weil Großmutter sie plötzlich um sich haben wollte, da sie sich als ruhig und zuverlässig erwiesen hatte, eine echte Hilfe war, und ich quartierte mich bei Ehrenfried ein, mit dem sich wohl auskommen ließ, sodass meine kleine Schwester Helene ein eigenes Zimmer erhielt. Großmutter hielt es nunmehr für schicklich, ein junges Mädchen nicht den Blicken und der Begehrlichkeit junger Bengels auszusetzen. Nach Beratung mit Frau von Schramm kam sie überein, Geschirr und Silber vorerst nicht zu ergänzen, da viel gestohlen war, sondern den Rest zu verstecken, bis die Zeiten besser wurden.

In diese Zeit fällt eine Begebenheit, die für einen Augenblick Bestürzung bei uns auslöste, ehe der Vorfall wieder in Vergessenheit geriet. Nicht dass sich endlich Mama wieder bei uns einfand; wir hatten sie längst erwartet, war das Besondere. Eines frühen Morgens noch während der amerikanischen Besatzungszeit wurden wir aus dem Schlaf getrommelt und in einen Mannschaftswagen gesteckt zu einer Erbauungstour nach Weimar. Die Wagen, es waren mehrere, wurden randvoll mit ahnungslosen Bürgern des Städtchens bepackt, die schreckerfüllt um sich blickten und sich fragten, was man mit ihnen vorhatte. Die Bewacher auf den Plattformen der Wagen gaben auf Befragen keine Auskunft, sondern geboten mit einem shut up Ruhe. Neben dem O. K. besaß ich nun schon ein mehr an Kenntnis des Amerikanischen, meinem Sprachinstinkt nach mit haltet das Maul übersetzt. Man brachte uns also, meine beiden Großeltern, Mama, ihre Nichte Helene, uns Jungen und die beiden älteren Links sowie Oberstudienrat Kniri von Müllhaeusen nach Weimar, und zwar in ein Konzentrationslager Buchenwald. Der Besuch wird unmittelbar nach der Einnahme Weimars angesetzt worden sein, um eine einigermaßen erhaltene Örtlichkeit mit Kremierungsöfen, Leichenhallen und den noch unverbrannten Toten vorzuweisen. Lebende, als Menschen immerhin noch kenntlich, waren ebenfalls zum Vorzeigen da, indessen ihre einstigen Bewacher mit der Bestattung der Toten beschäftigt oder bestraft wurden.

Von der Besichtigung durfte sich keiner der deutschen Schuldigen ausnehmen oder drücken; die Aktion dauerte einige Tage, aber wir, meine arme Mama, meine Großeltern und meine kleine Schwester Helene gehörten zur ersten Charge und kehrten am Abend des gleichen Tages unbeschädigt zu uns nach Hause zurück. Heute ist der Begriff Kazet, eigentlich KL, dank einer weltweit forschenden Historikerzunft jedem Kind als ein Ort des Schreckens geläufig, sodass ich mir allgemeine Ausführungen darüber ersparen darf, die ohnehin nur theoretisch ausfallen würden, weil ich nie in einem solchen Lager interniert worden war und Buchenwald nur von diesem einen Besuch kannte. Meine Angehörigen waren weniger betroffen oder erschüttert von der Begehung, kaum beeindruckt als erbost über diesen perfiden amerikanischen Streich, zum Zwecke ihrer Demütigung und Erniedrigung, und wie Herr Kniri während der Heimfahrt erklärte, auf eine Langzeitwirkung hin angelegt. Und übrigens standen die Nürnberger Prozesse auf dem Spielplan, wovon wir alsbald unterrichtet wurden, ohne uns etwas von einem Tribunal für Kriegsverbrecher vorstellen zu können.

Uns Jungen war der Zwangsbesuch kaum eine Lektion in Sachen Humanität; das Gelände des Lagers war zu groß und für unser Auffassungsvermögen unübersichtlich, als dass sich Erkenntnisse einstellten. Allein an einer Verweigerung zu diesem Ausflug sei nicht zu denken gewesen, sagte Herr Links, und überdies habe das Überraschungsmoment auf die Leute gewirkt; keiner dürfte geahnt haben, zu welcher Vorführung er geladen werde. Es konnte nicht ausbleiben, dass sie das Gesehene und Gehörte in unserem Erkerzimmer lang und breit besprachen, wie es ja auch in der Absicht Amerikas gelegen hatte, einen Disput unter den Deutschen über ihre Schlechtigkeit auszulösen, um unsere Verurteilung, wenn nicht die exemplarische Bestrafung zu rechtfertigen.

Mama erläuterte kühl, sie habe schließlich lange genug in Weimar gelebt und hätte über dieses Lager Bescheid wissen müssen. Übrigens kenne man dergleichen aus dem Kriege; es dürfte keinen verwundern, wenn in einer großen Menge Gefangener eingeschleppte Seuchen herrschten, denen mit medizinischen Mitteln nicht beizukommen. Krematorien seien da eben die vernünftigste weil hygienische Lösung des Problems bei drastisch erhöhter Sterblichkeit, die man bedauern mag, oder einfach nur als kriegsbedingt hinnehmen müsse. Die Unterbringung der Häftlinge, meist wohl minder schwere, wenn auch gefährliche Verbrecher, die ganze Einrichtung sei ihr eher vorbildlich, sauber und human vorgekommen. Einfach gebaute Baracken bescheiden möbliert; in ähnlichen Einrichtungen hätten auch Fremdarbeiter gelebt, wie überhaupt durch den Krieg eben vieles an gewohntem Komfort eingeschränkt worden sei, und dass nach dem Einzug Amerikas ein paar Leichen mehr auf den Lagergassen zu finden waren, auch vor den Verbrennungsstätten bedeute ihr wenig. Tote lägen schließlich überall in Kriegen herum und die durch den Bombenterror verbrannten Zivilisten seien auch kein Ruhmesblatt amerikanischer Menschlichkeit; auch ihre arme Schwester sei ein Opfer. Bedächtig wiegte Herr Kniri das Gelehrtenhaupt, pflichtete ihr aber endlich bei. »Natürlich, ganz Ihrer Ansicht, Frau von Oe; bin Ihnen dankbar für diese offenen Worte nach so viel Unsinn. Das Ganze ist natürlich eine Schweinerei, wirklich und in jeder Hinsicht.«

Mein lieber Vater Meister Fabian hatte an der Exkursion nicht teilnehmen müssen; wer weiß, weshalb die Geistlichkeit von dieser Party ausgenommen worden war; schien indessen recht einsilbig, um nicht zu sagen, zurückhaltend, als er sich von mir berichten ließ, weshalb so viele Menschen nach Weimar geschleppt und wieder zurückgebracht worden seien. Um seine Meinung befragt, sprach er wohl, nun ja, und immerhin, seiner Art nach heiklen Gegenständen auszuweichen. In der Tat aber fiel die ganz Aufregung rasch der Vergessenheit anheim, als die Amis das Schlachtfeld räumten, um den Russen Platz zu machen, die ein bessere Verwendung für die vorgefundenen Lager hatten. Einzig meine Helene zog sich für einige Tage in ihre Kammer zurück, bis die Natur ihr Recht forderte, sie brach auch später noch manchmal überraschend in Tränen aus, wenn die Rede auf ein Lager kam oder ihr Schreckensbilder vorgelegt wurden. Somit war sie die Einzige, die etwas von der Wirkung zeigte, die das Unternehmen bezweckt hatte. Wie gesagt, mit der Zeit kam die Sache zu den Akten, wie überhaupt Vergesslichkeit das wahre Heilmittel der Menschheit ist.

Großmutter entschloss sich, nachdem uns das Haus wieder ganz gehörte zur Wiedereröffnung des Geschäftes und vor allem der Werkstatt, da es nichts zu verkaufen gab.

Mittlerweile war es Frühling als Großvater auf einem Plakat der werten Kundschaft verkündete, dass wir wie früher so gut es gehe zur Dienstleistung bereit seien. Reparaturen kamen genügend herein und der arme Alte musste sich also wieder auf den Armsünderstuhl vor seiner Werkbank setzen und mit seinen Werkzeugen in alten Uhren herumstochern, während Großmutter den Laden betreute. Die beiden anderen Frauen, Mama und Helene suchten sich Beschäftigungen im Haushalt. Mama allerdings verweigerte neuerdings grundsätzlich den Dienst im Laden; sie ging auch wieder ins Rathaus, um sich danach zu erkundigen, ob das Jawort ihres Gatten endlich eingetroffen sei, um ihre Ferntrauung zu beurkunden, ging davon aus, dass die im Krieg geschlossenen Ehe durch den Frieden nicht ungültig geworden war. Überdies entnahm sie dem sogenannten Gothaer, dass es viele Oes gab, und zu wem sie in engere verwandtschaftliche Beziehungen geraten sein könnte, ließ sich Visitenkarten drucken, die sie an ihre vermutlich angeheiratete Familie verschickte, so weit sie deren Anschriften erkundete, was erstaunlicherweise nicht so schwer war, wie es schien. Im Zweifelsfall schickte sie Briefe in die Schlösser und Quartiere ehemals regierende Häuser; bei Weitem zu wenige, aber sie lohnten den Versuch Mamas, sich ihnen als neue Verwandte zu empfehlen.

Helene aber ging eigene Wege, da es in Haus und Küche nicht viel zu tun gab, entlieh sie der städtischen Bibliothek juristische Fachbücher und begann sie auf eigenen Faust zu studieren; für uns alle ungewiss mit welchem Ziel. Die beiden Kniris durften auch wieder in ihr Haus am Berghang ziehen, seit der Heimkehr Karls. Ich dachte, die Besatzungsmacht habe nicht so recht gewusst, was sie eigentlich in Thüringen gewollt hatte, viel mehr, was sie mit uns Besiegten anfangen sollte. In Berlin hatten die Kämpfe angedauert, bis in die Maitage hinein, wie wir hörten und lasen.

Es wäre uns schlecht ergangen, hätten wir von den uns zugeteilten Rationen an Lebensmittel existieren sollen, denn die städtischen Depots waren leer, rasch und rapide stiegen die Preise auf dem kleinen, das heißt, dem schwarzen Markt. Großmutter wog ihre wirtschaftlichen Interessen ab; sie dachte in die Zukunft hinein, reiste zu Fuß oder mit von alten Kühen gezogenen Leiterwagen in die Dörfer und hamsterte Nahrungsmittel, hauptsächlich im Tausch, aber auch begehrtere Artikel, wie Butter und Rauchspeck erhandelte ihr Geschick. Erfolgreich war sie schon, aber die Fahrten waren nicht gefahrlos. Auf den Straßen kontrollierten die Besatzer den Verkehr, aber Großmutter hatte sich von der provisorischen Verwaltung, kaum dass sie eingesetzt worden war, die Erlaubnis besorgt, ringsum Handel mit Uhren zu treiben. Das ging, bis mir ein großer Coup gelang, der uns den Weg aus der drohenden Pleite wies. Es geschah unter den Sternen Amerikas, als eines Tages die Ladentür klappte und einen dicken rotgesichtigen Soldaten von beachtlichem Gewicht einließ. Suchend blickte er sich um, sah aber nur leere Regale, weil es meine vorsichtige Großmutter für geraten hielt, alles an Wert unter Verschluss zu belassen. Ersatzweise hatte sie eine irdene Schale aus Steingut ins Mittelfach des Regals gestellt, für jedermann sichtbar. Um dem Dicken meinen guten Willen zu zeigen, holte ich die Schale herunter und stellte sie auf den Ladentisch, rief aber zugleich um Hilfe nach hinten in die Werkstatt, weil ich Verwicklungen befürchtete, die ich allein nicht würde meistern können. Der Uniformierte drehte die Schale hin und her; dann zog er aus seiner Brusttasche Stift und Papier und malte ein merkwürdiges Zeichen darauf, kippte die Schale um und deutete vorwurfsvoll auf die leere Unterseite, indessen ich mir den Kopf zerbrach, was dieses Rätselzeichen bedeutete. Mit Bedauern langte der Dicke noch einmal in die Tasche und zog ein angebrochenes Päckchen Zigaretten heraus, mit dem mir damals noch unbekannten Kamelsymbol und legte es auf den Ladentisch. Die Schale nahm er ohne Erklärung an sich und ging. Sicherheitshalber ließ ich hinter ihm die Rollos herunter und schloss ab, ehe ich in die Werkstatt ging, um von meinem Erfolg zu berichten. Großvater schüttelte den Kopf. »Den alten Topf hat er mitgenommen? Und einen Zettel geschrieben? Zeig mal her!«

Nun, die Prüfung des Symbols dauerte nur Sekunden; die blauen Schwerter der Meißener Manufaktur waren dem alten Uhrmachermeister natürlich geläufig, und mir fiel ein, sie schon auf unserem Porzellan gesehen zu haben, freilich ohne die Bedeutung zu kennen.

»Um Gottes Willen! Was hast du wieder angestellt? Bei Geschäften verstehen die keinen Spaß. Wir müssen die Zigaretten zurückgeben, sonst werden wir alle an die Wand gestellt! Was du auch machst, es ist ein Kreuz mit dir«, rief er aufgeregt. Seit seiner Haft und seiner Registrierung als potenzieller Kriegsverbrecher war er schreckhafter denn je und zitterte, wenn ihn ein Fremder auch nur ansah und verkroch sich bei Gefahr in einem Winkel des Hauses. Ich aber dachte nüchterner als er; wenn der Dicke auf der Unterseite der Schale nur diese blauen Schwerter vermisst hatte, und wenn er gewissermaßen eine Anzahlung auf die nachfolgenden Objekte an Porzellan geleistet hatte, dann wollte ich keine Mühe scheuen, seine Wünsche zu erfüllen. Von an die Wand stellen, konnte keine Rede sein.

Zurück in Amerika, bei der Prüfung der im europäischen Krieg gemachten Ankäufe durch den Fachmann, musste allerdings die Wahrheit herauskommen. Nun, gut, inzwischen würde Zeit verflossen sein und die Entfernungen waren groß, und ob Amerika einem betrogenen Kleinkrieger eine zweite Reise finanzieren würde, war ungewiss. So untersuchte ich denn im Kellerversteck unter dem alten Geschirr die Unterseite der Tassen und Teller auf das Wertzeichen hin ab, fand aber nur wenig, entweder, weil ich nicht entdecken konnte, wo Großmutter dieses Geschirr aufbewahrte oder weil wir nichts mehr davon besaßen. Der Dicke betrat den Laden nicht wieder, aber es kamen genug andere, die dringend nach Porzellan mit den blauen Schwertern verlangten. Notwendig kam der Tag heran, wo ich begann mit einem Tuschepinsel und blauer Farbe die gekreuzten Schwerter auf den Rückseiten der kleinen Teller und Tassen nachzuahmen, ich entwickelte bald ein besonderes Geschick in dieser Kunst, machte eines Tages die Probe aufs Exempel und legte Großvater ein Produkt meiner Übungen und die Frage vor, ob es sich hier um ein echtes Stück aus Meißen handeln könne. Der Erfolg war überwältigend; der Alte erkannte meinen Teller als echt an. Da übernahm ich kühn den Handel mit diesen leicht zu beschaffenden Objekten, leicht insofern, als ich vermittels der Einnahme von Zigaretten überall Geschirr erwerben konnte, um es zu Porzellan zu veredeln. Allein Großmutter zu täuschen, gelang mir doch nicht; sie kam natürlich bald hinter diesen Schwindel und nannte mich einen Taugenichts, der im Zuchthaus enden könne, billigte aber das Unternehmen, unterstützte meine Geschäfte durch nützliche Hinweise, immer nur ein Stück ins Regal zu legen und diese Maßnahme erleichterte den Handel ungemein, denn sie enthob meinen Kunden des Zweifels, der Qual der Wahl. Worauf es ankam, war klar, die Unterseite des Objektes entschied. Die Käufer verstanden nichts davon; ich verstand auch nichts davon, und ganz ohne Risiko war dieser Handel sicherlich nicht. Was, wenn ich es eines Tages mit einem Sachkundigen zu tun bekam? Immerhin handelte es sich für den überseeischen Krieger um ein heiliges Andenken an den großen Krieg. Wahrscheinlich hätte ich im Laufe der Zeit alles Steingut unserer Gegend in Meißener Porzellan verwandelt, wären nicht alsbald neue Besatzer erschienen. Von meinem Fenster aus sah ich die alten Krieger wieder abfahren, die Panzer, die Jeeps, den ganzen großen reisenden Tross des siegreichen Amerika, hie und dort mein Porzellan im Gepäck. Und es war noch ein Geringes, was sie mitnahmen, denke ich jetzt eines großen Raubes, den des berühmten Merseburger Domschatzes, den die Bonner Deutschen ein Lebensalter später und nach einem Deal mit der Regierung der USA und einer exorbitant hohen Summe D-Mark von den lieben amerikanischen Verbündeten zurückkauften; zu schweigen von den Kunstgegenständen, den echten Bildern, wie noch mehr unechten, welche verzollt oder geschmuggelt die alte europäische Welt verließen.

Von meinem Fenster aus sah ich sie abfahren und ich sah die anderen ankommen; alte und neue Autos, auch wieder Jeeps, Pferdefuhrwerke und Reiter; Infanteristen in erdbraunem Rock, ihr Habe in einem verknoteten Sack auf dem Buckel, die Maschinenpistole umgehängt, umlagert von einer Wolke aus Staub und Machorka; es schien, als würde diese neue Macht von weiter hergekommen zu sein, als aus den USA. Im gotischen Rathaus rannten die provisorisch ernannten Ratsmänner durcheinander, wie ich von meinem Fenster aus beobachtete, packten Sachen und Akten ein oder wieder aus, flüchteten den erste Siegern nach oder rüsteten sich zum Empfang der neuen Besatzungsacht. Es rasselte der Tross heran und kam auf dem Pflaster des Adolf-Hitler-Platzes zum Stehen. Ich habe bei diesen Aufgeregtheiten der Tatsache zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, dass die erste Besatzungsmacht einige Klempner oder städtische Arbeiter rief, kaum dass sie die Koffer ausgepackt hatten, um die alten Namensschilder abzubrechen, beziehungsweise mit Farbe zu schwärzen.

Unserem Platz ermangelte es kurzfristig an einem Namen, so wichtig schien ihnen diese Aktion. Großvater entsann sich an die Zeit, als das Viereck noch Kaiser-Wilhelm-Platz hieß, in der Weimarer Zeit allerdings den Namen Friedrich-Ebert-Platz bekommen hatte, bis er nach der Machtergreifung 1933 endlich für zwölf Jahre den Namen erhielt, unter dem ich das Licht der Welt erblickt hatte, Adolf Hitler. Man konnte damals natürlich nicht voraussehen, dass der Platz noch unter anderen Namen in die Stadtpläne eingehen sollte.

Ich glaube, es gehört zu einer der Wendebesonderheiten, als Erstes die Namensschilder auszuwechseln, das Vergangene auszulöschen und sich dem neuen Lauf anzupassen, heute unter der Phrase vorauseilender Gehorsam. In London heißt der Trafalgar Square seit der berühmten Seeschlacht eben einfach Trafalgar Square, auch wenn die Regierungen gewechselt haben, und sogar wenn kein Stein im Königreich auf dem anderen geblieben ist; Trafalgar Square bleibt von Ewigkeit zu Ewigkeit wie die Monarchie, glückliches Volk.

Jakob Ponte

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